Nach der Großen Pandemie

Literatur Martin Schäuble hat den Jugendroman der Stunde geschrieben. „Cleanland“ sollte lesen und schenken, wem daran gelegen ist, einen kritischen Blick zu bewahren
Ausgabe 46/2020
Willkommen in Cleanland, dem post-pandemischen Panoptikum
Willkommen in Cleanland, dem post-pandemischen Panoptikum

Foto: Josep Lago/AFP/Getty Images

Stellen Sie sich ein Land vor, in dem alle stets einen Schutzanzug auf der Haut, einen „Controller“ am Arm und ein „Gesundvisier“ vor dem Gesicht tragen, wo überall im öffentlichen Raum Desinfektionsboxen stehen und der Platz in der U-Bahn vorab reserviert werden muss. In dem jedem Menschen Freundschaft nur zu einer einzigen, offiziell registrierten Kontaktperson erlaubt ist, sich alle immer mit den Worten „Bleib gesund“ voneinander verabschieden und die streng nach Hygienestandards gebauten Stadtwohnungen des bürgerlichen Milieus nachts von einer subalternen Kaste von „Cleanern“ gereinigt werden. Wo digitales Homeschooling die Norm ist, die Schulbasis nur gelegentlich zum Ablegen von Prüfungen besucht wird und körperliche Nähe zuvorderst verpönt ist, weil sie durchwegs als Risiko für die Ansteckung mit Krankheiten gilt.

Willkommen in Cleanland, dem post-pandemischen Panoptikum, welches der Autor Martin Schäuble in seinem gleichnamigen Jugendroman entworfen hat – während der Zeit des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020. „Vom ersten Tag an ratterte es bei mir im Kopf“, schreibt Schäuble begleitend zum Buch. Viele Lesungen zu seinem vorherigen, hochgelobten Reichsbürger-Jugendroman Sein Reich (der Freitag 17/2020) waren da gerade abgesagt worden. „Manches im Buch Ausgedachte wurde in einigen Ländern zur Realität, bevor meine Zeilen überhaupt auf Papier gedruckt waren“, beschreibt Schäuble eine „beunruhigende Erfahrung“. Er hat damit den Jugendroman der Stunde geschrieben, gewissermaßen eine Version von Juli Zehs Corpus Delicti für Heranwachsende. Cleanland sollte selber lesen und seinen Kindern zum Lesen geben, wem daran gelegen ist, einen kritischen Blick auf den realen Umgang mit der Sars-CoV-2-Pandemie zu bewahren.

Denn mag Cleanland von unserer gegenwärtigen Realität noch weit entfernt sein – der Sog, in den dieses Buch von Anfang an zieht, entspricht ziemlich genau der atemberaubenden Geschwindigkeit, in der wir uns seit Frühjahr 2020 mehrheitlich an Kontaktbeschränkungen, Abstandsgebot, Masken und Lockdowns gewöhnt haben. Dieser Sog rührt auch daher, dass jedes Kapitel kurz gehalten ist – eines zu lesen, dauert kaum länger als sich ein Tiktok-Video anzusehen. Und wie unser reales Leben gerade für Drei-, Zehn- oder Fünfzehnjährige zur schwer hinterfragbaren Gewohnheit wird, so ist Cleanland für Hauptprotagonistin Schilo von Anfang an vollkommene Normalität.

Riss im Schutzanzug

Geboren zu Zeiten der „Großen Pandemie“, nach der ein Teil der Gesellschaft beschlossen hat, sich dem „Gesunden Wandel“ hinzugeben, ist sie nun Teenagerin; Schilos Mutter arbeitet im „Ministerium für Reinheit“, ihre Oma lebt mit in der Wohnung, aber hinter einer „Hygienescheibe“, im „Raum der Einsicht“, ohne Ausgang, mit ihren Freundinnen nur über Videotelefonie verbunden – stets in subtiler Opposition zu diesen Verhältnissen und damit zu Schilos Mutter.

Ist Mia Holl in Zehs Corpus Delicti anfangs einfach eine junge, begabte, unabhängige Frau, gerät sie erst durch ihren Bruder, Gegner der herrschenden Gesundheitsdiktatur, ins Fadenkreuz des Systems der „Methode“. In Cleanland nimmt es Schilo eingangs noch hin und ist lediglich leicht genervt, dass sie die Disco und ihr gebuchtes Tanzquadrat verlassen muss, weil ihr Ganzkörper-Schutzanzug einen kleinen Riss hat – ebenso wie ihre Freundin Samira und der halbe Club, alle eben, die Schilo während des Abends auch nur ein wenig nahe gekommen sind.

Dann jedoch beginnt Samiras jüngerer Bruder eine Aversion gegen seinen Schutzanzug zu entwickeln und wird dafür mit gnadenloser Isolation gestraft. Und Schilo unterlässt eines Abends die Einnahme der obligatorischen Schlafpille, um dem nur wenig älteren Cleaner ihres Zimmers begegnen zu können. Fortan wird die Peripherie jenseits von Cleanland für Schilo vom bedrohlichen Menetekel zur denkbaren Alternative. In den „Sicklands“ eröffnet sich ihr ein möglicher Weg aus diesem Dasein fast ohne jede zwischenmenschliche Nähe, ganz im Namen der Gesundheit.

Info

Cleanland Martin Schäuble S. Fischer 2020, 208 Seiten, 14 €, empfohlenes Alter: ab 12 Jahre

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Geschrieben von

Sebastian Puschner

Stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter „Politik“

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

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