In Köln-Raderberg wird sich Sahra Wagenknechts Mission entscheiden. Nur 22,7 Prozent eines Jahrgangs wechseln hier von der Grundschule auf das Gymnasium, während es im wohlhabenden Köln-Lindenthal 88,8 Prozent sind. Ob eine neue linke Bewegung Zuspruch findet, wird sich auch in Köln-Chorweiler zeigen, wo mehr als 40 Prozent der Bevölkerung in Hartz IV leben. 50 Prozent beteiligen sich hier an Bundestags-, ein Drittel an Kommunal-, ein Viertel an Europawahlen. Immerhin, bei den NRW-Landtagswahlen 2017 stieg die Beteiligung in Chorweiler von 29 auf 32 Prozent. Doch im Villenviertel Köln-Hahnwald wuchs sie von 76 auf 82 Prozent. Willkommen im Deutschland der Gegenwart: die Ungleichheit starr, die Demokratie exklusiv, der politische Diskurs für viele ökonomisch Unterprivilegierte eine ferne Galaxie, deren Bewohner ihnen mit Ignoranz, Verachtung oder freiwilliger Wohltätigkeit begegnen.
Andreas Nölke, Professor für Politikwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, hat mit Linkspopulär. Vorwärts handeln statt rückwärts denken ein Drehbuch für das beschrieben, was die Linken-Fraktionsvorsitzende Wagenknecht und ihr Genosse Oskar Lafontaine bisher nur in Umrissen skizzieren: die Formation einer neuen linken Kraft, die die links-kommunitaristische Leerstelle im deutschen Parteienspektrum besetzt, indem sie lokale und nationale Demokratie wie Solidarität als primären Bezugspunkt wählt und wirtschaftlicher Globalisierung ebenso skeptisch begegnet wie dem Transfer politischer Befugnisse auf supranationale Ebene.
Dass die meisten Medien dieses Vorhaben bisher nur unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Spaltung der Linkspartei verhandeln und erkennbar für überflüssig halten, hat einen schlichten Grund: Die Zielgruppe, um die es geht, liest keine Zeitung und interessiert sich kaum für Nachrichten oder Politik-Talks. Das bedeutet nicht, dass sie über keine politischen Präferenzen verfügt: Es gehe um „Menschen, die sich über starke Migration Sorgen machen und der Europäischen Union im Allgemeinen sowie dem Euro im Besonderen skeptisch gegenüberstehen“, schreibt Nölke, und dabei nur in Teilen etwa um die 24 Prozent, die bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt zuletzt für die AfD stimmten. Eher um die 40 Prozent der Wahlberechtigten, die dort auch 2016 gar nicht erst an der Wahl teilgenommen haben.
Erschreckte Kosmopoliten
Ob sie ein linkspopuläres Angebot in die Demokratie zurückholen kann? Die von Nölke konstatierte Lücke jedenfalls ist schwer bestreitbar: FDP, Union, Grüne und SPD eint weitestgehend das kosmopolitische Bekenntnis zu globalisierter Ökonomie, kultureller Liberalisierung, liberaler Wirtschaftsregulierung, mitunter militärischen Interventionen zur Verbreitung eigener Politik- und Gesellschaftsmodelle und die Negation von Verteilungskonflikten infolge grenzenloser Migration. Letztere hält auch ein Großteil der Linkspartei für erstrebenswert. Die einzige Gegenposition hierzu besetzt die AfD mit ihrem Rechts-Kommunitarismus, einem Mix aus blankem Rassismus mit neoliberalen Positionen in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik.
Das kosmopolitische Erschrecken darüber ist berechtigt, zeitigt aber zugleich, dass jede anderslautende fundamentale Kritik an EU, Euro und Forderungen nach offenen Grenzen augenblicklich unter Rechtspopulismus-Anklage steht.
„Linkspopuläre Positionen“ aber, schreibt Nölke, „interessieren sich nicht für die AfD-Kategorien von Nation, Volk oder gar Rasse und deren verquere Auslegungen, sondern verteidigen den Nationalstaat nur deshalb, weil bisher auf dieser Ebene am ehesten ein demokratisches Gemeinwesen und ein funktionierender Sozialstaat existieren.“ Da Migranten der zweiten und dritten Generation hierzulande nach wie vor in großer Zahl zu den Benachteiligten zählen, müssten gerade sie Adressaten einer linkspopulären Alternative sein.
Populär und nicht populistisch müsse diese Alternative nicht nur sein, um sich der „primitiven“ Gegenüberstellung „guter Demokraten“ und „böser Populisten“ zu entziehen. Sondern gerade weil es ihr um Problemlösungen, nicht um Parolen geht.
Wer lesen will, wie sich Nölkes Forderung, Politik „einfach und verständlich“, nicht aber manipulativ zu kommunizieren, einlösen lässt, kann ja mal Wagenknechts Newsletter „Team Sahra“ abonnieren. Wer indes bei ihr immer nur Parolen hören will, liest schlichtweg die Vielzahl ihrer Interviews nicht genau. So sehr sich Journalisten damit begnügen, sie als Anti-Kipping-Intrigantin, AfD-Agentin oder gar Rassistin entlarven zu wollen: Noch in jedem Gespräch bringt sie lange Absätze zu Armut, Arbeit und Altersvorsorge unter, im Deutschlandfunk etwa zu der Debatte um die Essener Tafel: „Eine deutliche Rentenerhöhung würde garantiert auch eine Lösung sein, dann würden die Leute gar nicht mehr da hingehen.“
Rentenerhöhungen bilden nur einen Punkt unter vielen in Nölkes konkretem linkspopulären Programmentwurf. Dessen Kern bildet die strikte Konzentration auf Verbesserungen für die untere Bevölkerungshälfte über eine Transformation des deutschen Exportnationalismus, der die Ungleichheit zu Hause wie global verschärft und äußert verwundbar gegenüber Krisen anderswo ist, hin zu einer klaren Binnennachfrageorientierung. Liberale gesellschaftspolitische Errungenschaften, etwa die sexuelle Identität betreffend, gelte es zu verteidigen. Nölke sagt Ja zur NATO, Nein hingegen zu jeglichen Ausweitungsversuchen westlicher Einflusssphären. Nein zu Asyl-Obergrenzen wie zu offenen Grenzen für alle, Ja zur Priorisierung einer massiven Unterstützung für Nachbarländer von Staaten, von denen Fluchtbewegungen ausgehen, im Falle Syriens etwa Jordanien und der Libanon. Dies sei im Interesse der Flüchtenden wie in dem der hierzulande lebenden Armen.
Weder Konkretion noch Stringenz dieser Argumentation werden Nölkes Vorschlag gegenüber dem Vorwurf, eine AfD-Kopie zu liefern, feien. Der „Querfront“-Schrei ist dieser Tage schnell bei der Hand und lenkt stets ebenso schnell von der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem sozialen Auseinanderdriften und mit Verteilungskonflikten am Boden der Klassengesellschaft ab. Befunde wie die des im Buch viel zitierten Politikwissenschaftlers Armin Schäfer, der eine krasse Bevorteilung Vermögens- und Einkommensstarker bei politischen Entscheidungen und eine „Krise der Repräsentation“ konstatiert, entfachen allenfalls kurze Debatten, wenn sie die Bundesregierung zu zensieren versucht, wie zuletzt bei der Veröffentlichung des Armuts- und Reichtumsberichts.
Um das zu ändern, ist Andreas Nölkes Buch ein enorm wichtiger Beitrag. So sehr der demokratische Diskurs es braucht, so sehr braucht das Parteienspektrum eine links-kommunitaristische Erweiterung – ganz egal, ob man selbst diese für wählbar erachtet oder nicht.
Info
Linkspopulär. Vorwärts handeln statt rückwärts denken Andreas Nölke Westend 2018, 240 Seiten, 18 €
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