Der Niedergang dieser Partei ist wüst – und unterhaltsam. Der Bundestagsabgeordnete Marco Bülow ist aus der SPD ausgetreten und hat sie dabei schonungslos kritisiert. „Der Typ ist kein Verlust“, schreibt daraufhin Johannes Kahrs, einer der Sprecher des konservativen Seeheimer Kreises, „eine ewige Ich-AG. Der hat mit der SPD noch nienix was zu tun gehabt.“ Aziz Bozukurt, Bundesvorsitzender der AG Migration und Vielfalt in der SPD, ließ daraufhin über Johannes Kahrs wissen: „Was für ein Armleuchter, dieser Rüstungslobbyist! Und da muss man nicht mal Bülow-Fan sein. Jemand, der die Fahrt dieser stolzen Partei an die Wand ewig mitbetrieben hat, will wissen, wer was mit der SPD zu tun hat. Könnte witzig sein, ist es aber nicht. Gar nicht. Idiot!“
Ja, von diesen wüsten Wortgefechten kann man sich unterhalten lassen; längst kursiert ja auch der Witz von der SPD als einer Schlecker-Filiale, die einfach nicht schließen will. Könnte witzig sein, ist es aber nicht.
Allein die Überschriften der Kapitel in Bülows langer Austrittsbegründung zeichnen ein realistisches Bild der SPD heute: „Mutlose Partei ohne klare Haltung; Absturz ohne Lerneffekt; Keine Eindämmung des Lobbyismus, keine Vision, keine Kapitalismuskritik, keine Alternative; Ungleichheit wird zementiert statt bekämpft“.
In Dortmund, wo Bülow seit 2002 sein Mandat stets direkt gewonnen hat, machte vor nicht langer Zeit eine Jobcenter-Mitarbeiterin Schlagzeilen: Sie erkannte einen Hartz-IV-Empfänger beim Betteln auf der Straße – kurz darauf wurden ihm deswegen die Bezüge um monatlich 270 Euro gekürzt.Ob der Bettler wohl wählen geht? Die Wahrscheinlichkeit ist gering: Denn Arme wählen immer seltener als Reiche. Kein Wunder: „Die politischen Entscheidungen des Bundestags sind systematisch zulasten der Armen verzerrt“, fassten Lea Elsässer vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung und Armin Schäfer von der Universität Osnabrück 2017 ihre Forschungen zur wachsenden Kluft bei der politischen Beteiligung zusammen.
Die SPD wirkt an dieser Entwicklung auf viele Weisen mit, und vielleicht ist es nirgends so deutlich zu sehen wie anhand des Hartz-IV-Systems; des stärksten Symbols einer Entwicklung, die die Reichen reicher und mächtiger, die Armen ärmer und schwächer macht. Während ständig neue Spielarten des milliardenschweren Betrugs mit der Kapitalertragssteuer auftauchen – Cum-Ex, Cum-Cum, Cum-Fake –, müssen in Not Geratene ihre schmalen Vermögen aufzehren und werden mit der Kürzung des Existenzminimums bestraft, wenn sie einen Termin im Jobcenter verpassen, und sei es, weil der Bus Verspätung hatte.
Überhaupt: Wieso sollte der Staat ein vom Bundesverfassungsgericht als „dem Grunde nach unverfügbar“ bezeichnetes „Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“ kürzen dürfen? Mit einer Antwort auf diese Frage lässt sich das Bundesverfassungsgericht seit bald drei Jahren Zeit.
Reformieren, abschaffen, überwinden – große Verben setzen die SPD und Andrea Nahles dieser Tage hinter „Hartz IV“. Doch die Leere und die Widersprüchlichkeiten hinter den Verben könnten entblößender nicht sein: Sanktionen gegen Hartz-IV-Berechtigte ja, Sanktionen nein, Sanktionen ja, aber in anderer Art als über Leistungskürzungen; aber auf welche Art denn?
Es wäre schon viel getan, würde die SPD endlich auf die Erhöhung der politisch niedriggerechneten Regelsätze drängen. Doch das tut sie nicht, denn dann müsste sie auch über die Steuerpolitik reden: Mit der Höhe der Regelsätze hängt die des steuerbefreiten Existenzminimums für alle zusammen. Steigen die Regelsätze, so steigt das Existenzminimum, so steigt der Freibetrag für alle – so steigen die Steuerausfälle des Bundesfinanzministers. Wo soll das Geld herkommen, das für eine würdevolle Existenzsicherung der Ärmsten nötig ist?
Von Vermögenden und Konzernen nicht, das stellt SPD-Finanzminister Olaf Scholz aufreizend zur Schau: bei der Finanztransaktionssteuer, bei der Digitalsteuer – und jetzt mit seinen Reformvorschlägen für die Grundsteuer, die den Mieterbund vor noch stärker steigenden Mieten in den Städten warnen lassen.
Dabei gäbe es zur Entlastung der Mieter ein probates Mittel, das sich mit jeder Art von Reform der Grundsteuer verbinden ließe: deren Umlage auf die Mieter künftig zu verbieten. Das fordert die Linksfraktion im Bundestag. Die SPD natürlich nicht.
Beim zentralen Symbol all ihres Übels – Hartz IV – macht ihr jetzt auch noch Robert Habeck mal eben in zwei Blogeinträgen vor, was Mut und Haltung sind: Regelsätze erhöhen, Belohnungen statt Sanktionen, Kindergrundsicherung, empfiehlt der Chef der Grünen, ebenso dass Menschen ihr Erspartes und ihr Häuschen behalten dürfen, wenn sie staatlicher Hilfe bedürfen. Mag sein, dass dies Gratismut ist und der Reformvorschlag nur leicht dranzugebende Verhandlungsmasse in schwarz-grünen oder schwarz-grün-gelben Gesprächen. Aber zumindest liegt damit nun neben den Konzepten der Linken ein durchdachter Vorschlag mehr auf dem Tisch.
Zu Grünen oder Linken will Marco Bülow nicht wechseln, sondern als Fraktionsloser weiter für die Sozialdemokratie kämpfen. Dass man dafür heute nicht mehr in der SPD sein muss, ist die bittere Erkenntnis hinter seinem Austritt.
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