Trotz aller Journalisten-Häme: Warum es sich lohnt, Juli Zehs „Zwischen Welten“ zu lesen
Literatur Das Buch „Zwischen Welten“ von Juli Zeh und Simon Urban war noch gar nicht erschienen, da ergingen sich vor allem Journalisten schon in vernichtenden Urteilen und Spott. Das sagt wohl mehr über die Branche als über den Roman
Zwei Landwirte, wie sie im Buche stehen: Simon Urban und Juli Zeh
Foto: Peter v. Felbert
Faszinierend: Der Luchterhand Verlag muss von Zwischen Welten, dem an diesem Mittwoch erscheinenden Roman Juli Zehs und Simon Urbans, eine sehr große Zahl von Rezensionsexemplaren verteilt haben. Wie anders ist die große Zahl von Urteilen zu erklären, in denen vor allem Journalisten und Journalistinnen seit dem vergangenen Wochenende – dem vor der Veröffentlichung – das Buch mit Spott und Häme überziehen?
Vielleicht aber gehen die vielen vernichtenden Urteile ja auch nur auf eine Lektüre des Interviews mit der Autorin und dem Autor zurück, das die Neue Züricher Zeitung just an jenem vergangenen Wochenende veröffentlicht hat. In jenem geben Zeh und Urban tatsächlich einiges zu Protokoll, was mindestens diskutabel ist –
ernichtenden Urteile ja auch nur auf eine Lektüre des Interviews mit der Autorin und dem Autor zurück, das die Neue Züricher Zeitung just an jenem vergangenen Wochenende veröffentlicht hat. In jenem geben Zeh und Urban tatsächlich einiges zu Protokoll, was mindestens diskutabel ist – oder schlicht falsch, wie das Jahr des Einzugs der AfD in den Bundestag: Der datiert auf 2017, nicht 2013, wie Zeh – von Interviewerin Susanne Gaschke nicht korrigiert – dort sagt. Und ja, die Worte Zehs in Bezug auf ihren Ex-SPD-Parteifreund Thilo Sarrazin verwendet („Es stimmt, dass Sarrazin das richtige Thema am Wickel hatte, leider waren seine Bücher polemisch und voll seltsamer Zahlen.“) lassen unerwähnt, wie dieser den „roten Faden“ für einen massenkompatiblen rassistischen Diskurs ausgelegt hat. Zehs Kernaussage allerdings – dass Sarrazin sehr früh ein Thema wählte, das die Republik bald in heftiger Intensität beschäftigen würde, Migration – stimmt.Der Streit um die 1990er JahreZu ihren nun ebenfalls heftig diskutierten Einlassungen über die 1990er Jahre („Mindestens ein Jahrzehnt lang hatte man nach der Wiedervereinigung den Eindruck: Alles wendet sich zum Besseren. Wir lebten am Ende der Geschichte.“) hat David Begrich treffend festgestellt: „Die 90er waren beides: Aufbruch und Abgrund nebeneinander. Die heile Welt der Einen, die Katastrophe der Anderen.“ Ich selbst – damals süddeutscher, bürgerlicher Teenager – erinnere genau jene Stimmung als kennzeichnend für mein Aufwachsen: dass alles besser werden würde oder mindestens gut bleibt.Die Baseballschlägerjahre im Osten, die rassistische Gewalt in Ost wie West, die Kolonisierung des Ostens durch den Westen – das alles war für mich damals ganz weit weg. Ich musste das alles erst später lernen (und lernte es dann vor allem als Leser, später als Redakteur des Freitag). In den 90ern, da schenkte mir Bayer während eines Ost-West-Schulaustauschs der Vater meiner Austauschschülerin in Merseburg noch einen FC-Bayern-München-Wimpel zum Abschied. „Aufbruch und Abgrund“ – bei der in Bonn aufgewachsenen und seit 16 Jahren in Brandenburg lebenden Juli Zeh fällt beides in eines: „Wenn ich heute Politiker höre: Wo kommen denn die ganzen AfD-Wähler her, denke ich, wo seid ihr Anfang der 90er Jahre gewesen?“, hatte sie Ende 2018 dem Tagesspiegel gesagt, samt der Schilderung von Konfrontationen mit Nazis in ihrer Studienstadt Leipzig.Nun, ich habe Zwischen Welten am Sonntag ausgelesen. Eines der Rezensionsexemplare. Und worüber Feuilletonisten jetzt ätzen, das stimmt: Das Buch ist simpel geschrieben. Was mitunter daran liegt, dass es rein aus Whatsapp-, Telegram-, Threema-Nachrichten und E-Mails besteht. Ausgetauscht zwischen einer ostdeutschen Landwirtin und einem westdeutschen Wochenzeitungs-Feuilletonisten, die sich Jahre nach ihrem Germanistik-Studium und ihrer gemeinsamen WG-Zeit in Münster zufällig wiedergetroffen haben. Der Feuilletonist arbeitet für eine Wochenzeitung, die stark an die Die Zeit angelehnt ist – weswegen kaum verwundert, vielleicht sogar ein wenig enttäuscht, dass die mithin vernichtendste Rezension bisher von dort kommt.Simon Urban: Werbetexter und gelobter RomancierMit allzu Simplem haben sie es ja auch bei der Zeit nicht so, in der Werbung hingegen schon: Zehs Mitautor Simon Urban hat mit ihr am Deutschen Literaturinstitut Leipzig studiert, war dann aber nicht nur Autor dreier, mitunter hochgelobter Romane, sondern vor allem Werbetexter. Auf seine Kappe geht etwa ein sehr erfolgreicher Edeka-Werbespot. Dass sich Zeh selbst inzwischen mehr auf einfache Sätze und zugängliche Sprache versteht, das hatte übrigens jüngst noch wohlwollend das Zeit Magazin in einem großen Porträt bemerkt: „Vielleicht erfordert die jetzige Zeit Reduktion, Konzentration auf das Wesentliche.“Die einfache Sprache und die unverdrossene Zuspitzung vor allem der Figur des Feuilletonisten – ja, geradezu ein Holzschnitt – werden wohl auch diesem Zeh-Buch Hunderttausende Leserinnen und Leser bescheren. Befragen Sie doch mal Ihr Umfeld: Wer liest sie und wer liest heute, da Twitter, Telegram und Pocket ständig locken, noch andere 400-Seiten-Romane bis zum Ende?Der woke Kultur-Wochenzeitungsjournalist ist also geradezu eine Karrikatur. Bis zu drei Gendersternchen in einem Wort, ein absolut manisches Drängen auf diskriminierungsfreie Sprache, wenn sein Gegenüber – die Landwirtin – gerade von der Vernichtung ihrer Existenz als Bäuerin durch EU-Vorschriften, Regierungs-Ernteverbot wegen der Afrikanischen Schweinepest und Großbrand auf dem Hof berichtet, die naive Gefolgschaft gegenüber Klimaaktivist*innen, die die Redaktion seiner Zeitung übernehmen – das ist drüber, das ist überzeichnet. Aber auch nicht allzu sehr. Es irrt, wer behauptet, es sei all das von journalistischem Alltag heute meilenweit entfernt.Seitenwechsel der JournalistenDie Dynamik von Diskursen und Shitstorms, von schnellen Takes, die Journalistinnen und Sozialwissenschaftler über etwas raushauen, mit dem sie sich selbst noch gar nicht tiefergehende beschäftigt haben (etwa durch die vollständige Lektüre eines Romans), um den Zwängen der digitalen Monetarisierung zu entsprechen, das Leiden an diesem Sog und der häufige, aber selten realisierte Gedanke, diesem Brimborium und der ganzen Branche einfach den Rücken zu kehren (und etwa Lehrer zu werden), die Sucht von Journalisten nach Twitter und ihre Gier nach Journalistenpreisen – all das wird in Zwischen Welten doch recht treffend beschrieben. Zudem kommt im Roman durchaus nicht zu kurz, dass es gute Gründe gibt, auf diskriminierungsfreie Sprache zu achten und Alltagsrassismus wie -sexismus gegenüber aufmerksam zu sein. Auch die in der Realität allerorts in Redaktionen beobachtbaren Generationen- und Geschlechterkämpfe kommen schön zum Vorschein.Was dem Roman eher vorzuwerfen ist: dass er unerwähnt lässt, wie viele vor allem ältere Print-Leser gegen diesen Kurs in Leserbriefen und mit Abokündigungsdrohungen aufbegehren, wegen Gendersternchen in Artikeln, wegen des mutmaßlichen Befolgens der Gebote junger Aktivist*innen, die selbst selten eine gedruckte Zeitung lesen, wegen der vermeintlich abnehmenden Fokussierung auf die soziale Frage, wegen eines Defizits an fundamentaler Kritik an den Regierenden. Vielleicht wäre ein Politik-Journalist der passendere Protagonist gewesen als ein Feuilletonist. Der hätte ja dann, wie so viele Politik-Journalisten dieser Tage, die Seiten wechseln können – wie Michael Stempfle, der gerade noch eine schamlose Lobeshymne auf den neuen Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) geschrieben hat und nun nur wenige Tage später aus dem ARD-Hauptstadtstudio ins Bundesverteidigungsministerium wechselt, um neuer Pistorius-Pressesprecher zu werden. Für den Journalismus ist das ein noch größeres Problem als die Kulturkämpfe der Gegenwart.Dass Journalisten gereizt und hämisch reagieren, wenn sie mit einer zugespitzten literarischen Darstellung ihrer Arbeitswelt konfrontiert werden – geschenkt. Die größte Stärke des Romans, und die bisherige Leerstelle in der heißlaufenden Debatte über ihn, das ist die Auseinandersetzung mit der Arbeitswelt und Lebenslage von Landwirtinnen und Landwirten. Allein, um zu erfahren, wie dreckig es Landwirtinnen und Landwirten heute mitunter geht, wie Depressionen und Suizide zunehmen, wie selbstgerecht gerade die akademische städtische Bevölkerung auf die Bäuerinnen und Bauern auf dem Land herabschaut, wie ahnungslos und gleichgültig sie gegenüber Landgrabbing und realer lokaler Lebensmittelproduktion ist, lohnt es sich, Zwischen Welten zu lesen. Von Simon Urban wäre interessant zu erfahren, ob er es eigentlich bereut, Edeka mit seiner Arbeit als Werbetexter ein kräftiges Umsatzplus beschert zu haben. Die Marktmacht der Einzelhandelskonzerne ist schließlich einer der Hauptgründe für die Misere der Landwirtschaft.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.