Im Freitag der vergangenen Woche taucht das Wort „neoliberal“ neunmal auf. Mit fünf Nennungen hat das jüngste Ressort dieser Zeitung, der monatlich erscheinende und von mir verantwortete Wirtschaftsteil, den Löwenanteil daran. Mir ist nicht wohl bei dieser Bilanz, auch wenn ich mir sicher bin, dass sie ein Ausrutscher ist und nicht stellvertretend steht für alle bisherigen 13 Ausgaben.
„Neoliberal“, dieses Wort, es ist so einfach, so bequem, so abgedroschen – ich meine das ernst. Jede und jeder meint sogleich zu wissen, wovon die Rede ist. „Neoliberal“ steht synonym für „böse“, und zugleich für „übermächtig“. Unentrinnbar. Alternativlos. Der Wirtschaftsteil aber will genau so nicht
will genau so nicht sein. Er soll das mächtig und möglich machen, was eine Alternative sein könnte. Natürlich muss er ebenso ein Ort sein, an dem die vornehmste Qualität des Freitag aus 25 Jahren seine Fortsetzung findet: die scharfsinnige Kritik der bestehenden Verhältnisse. Aber mit dem Wirtschaftsteil haben wir auch eine Brücke in die Zukunft zu bauen versucht, weil diese Kritik zum Selbstzweck zu werden, in Zynismus und damit faktisch Toleranz des Bestehenden umzuschlagen droht. Es gibt Alternativen, mögen sie und ihre Protagonisten noch so klein sein und mag der Glaube an sie von vielen als noch so naiv belächelt werden. Vollgeld, solidarische Landwirtschaft, Gemeinwohlökonomie, es gab im vergangenen Jahr hier einiges davon zu lesen.Da nun die bloße Thematisierung solcher Ansätze das alle privaten und öffentlichen Sphären immer stärker durchdringende neoliberale Paradigma freilich nicht in Auflösung versetzen wird, trifft es sich gut, dass gerade das neue Buch des US-Wirtschaftshistorikers Philip Mirowski auf Deutsch erschienen ist: Ich sehe Untote leben länger. Warum der Neoliberalismus nach der Krise noch stärker ist (Matthes & Seitz 2015, 325 S., 29,90 Euro) als eine Art Geburtstagsgeschenk für den Freitag. Über 300 Seiten zur Frage, warum der Neoliberalismus, an dem sich diese Zeitung seit 1990 und Linke insgesamt schon viel länger abarbeiten, heute erfolgreich wie nie zuvor ist.Linke ObsessionMirowski widerlegt die jüngste Blüte der linken Obsession für den Neoliberalismus: Den Glauben einiger Linker an die Behauptung neoliberaler Denker nämlich, das Phänomen als solches gebe es gar nicht oder es sei zu diffus, um es einer klaren Analyse zu unterziehen. Es gibt den Neoliberalismus, mögen seine Protagonisten sich auch selbst nicht neoliberal nennen. Und er lässt sich sehr wohl fassen, weil er eben nicht auf eine dunkle Verschwörung zurückgeht. Sondern maßgeblich auf das Treffen von drei Dutzend Denkern, unter anderem Friedrich von Hayek, Milton Friedman, Walter Eucken, Karl Popper und Wilhelm Röpke 1947 am Mont Pèlerin in der Schweiz, von wo aus sie einen Neuanfang für den ihrer Meinung nach im 20. Jahrhundert diskreditierten Liberalismus starteten. Haben sich die Forschungsprogramme etwa Friedmans und Röpkes in den Folgejahren auch teils weit auseinanderentwickelt: Die Mont Pelerin Society (MPS) ist die innerste Puppe der neoliberalen Matrjoschka, Hochschulfakultäten unter anderem in Chicago und Freiburg wurden zu ihrem nächstgrößeren Ring, umgeben wiederum von Stiftungen (in Deutschland etwa Bertelsmann), Denkfabriken und Medien, allen voran Rupert Murdochs News Corporation.Placeholder infobox-1Der Startpunkt dieses neoliberalen Kollektivs liegt dort, wo sich heute die Linke noch befindet: in der Bedeutungslosigkeit – eine Folge des Untergangs wirtschaftsliberaler Konzepte durch die Große Depression 1929. Dass es seine in den 1980er Jahren gewonnene Vormachtstellung in der Finanzkrise behauptet hat, ist nicht unwesentlich auf das Zusammenraffen seiner Kräfte zurückzuführen, für das ein MPS-Sondertreffen im März 2009 in New York sinnbildlich steht.Wer den Neoliberalismus in Zukunft mit Substanz und Nüchternheit kritisieren will, dem sei die Lektüre der 13 Punkte empfohlen, auf die Mirowski dessen Programm verdichtet hat: Das neoliberale Dogma ist durch und durch konstruktivistisch; es braucht zur Durchsetzung seiner Ziele Autoritäten und einen starken Staat, dichtet zugleich dem Markt einen natürlichen Charakter, einen menschlicher Erkenntnis unzugänglichen evolutionären Ursprung an und entzieht sich der Debatte um die daraus offenkundig resultierenden Widersprüche, indem es die Ontologie dieses Marktes im Ungefähren belässt und ihn schlicht zum unschlagbar besten Prozessor von Informationen erklärt. Der Staat wird im praktischen Neoliberalismus nicht kleiner, sondern im Gegenteil durchgreifender in der Durchsetzung marktradikaler Programmpunkte – der Abbau der Grenzen für den Kapitalverkehr, die aktive Unterstützung unfehlbarer Unternehmen und die Förderung der als produktiv gewerteten Ungleichheit allen voran. Ein armer Mensch geht eher in der für ihn vorgesehenen Rolle des Unternehmers seiner selbst auf, wenn er Reichen nacheifern kann.Maßnahmen wie die in Verfassungsrang erhobene Schuldenbremse brauchen zwar demokratische Legitimation durch die Bevölkerung. Doch die Zwangsläufigkeiten jenes angeblich naturwüchsigen Marktes, der immer und für alles eine Lösung hat, stecken die Grenzen der Demokratie ab und zeigen so, dass die von Neoliberalen aufs Schild gehobene „Freiheit“ nichts ist als ein großer Bluff. Ähnlich verhält es sich mit der zentralen Bedeutung der für die Armen vorgesehenen Gefängnisse und mit der rein rhetorisch aufrechterhaltenen Anschlussfähigkeit an die christliche Rechte.So wohltuend es ist, dank Mirowski eine griffige Beschreibung des Neoliberalismus zur Hand zu haben, so gefährlich ist es, sich nun an der Vielzahl schreiender Widersprüche darin abarbeiten zu wollen – Stoff für 25 weitere Jahre böte sie.Finanzkrise und KlimawandelDoch man bedenke, dass das neoliberale Denkkollektiv derweil die Öffentlichkeit mit seinen mehrgleisigen Strategien zum Umgang mit den beiden großen Herausforderungen unserer Zeit bombardiert, Finanzkrise und Klimawandel. Gleis eins: Leugnung. Den Klimawandel gibt es nicht, die Finanzkrise hatte mit orthodoxer Wirtschaftswissenschaft nichts zu tun. Gleis zwei: Mehr Markt – Bankenrettung und Emissionsrechtehandel. Gleis drei: Innovationen, und zwar in Gestalt neuer Finanzmarktprodukte, die reichen wie armen Käufern in einer Phase weltwirtschaftlicher Stagnation neuen Wohlstand versprechen, sowie als Geo-Engineering, das CO2-Emissionen von der Bedrohung zum neuen Geschäftsmodell macht. All diese sechs Strategien werden kein Problem lösen und sie dominieren doch den öffentlichen Krisendiskurs.Statt weiter wie das Kaninchen vor der Schlange zu erstarren, stände es Linken gut zu Gesicht, den Diskurs endlich wieder selbst mit Strategien zu fluten. Und zwar nicht mit solchen, die beim Zurücksehnen in eine angeblich gute alte Zeit keynesianischer Wirtschaftspolitik, sozialistischer Sozialstaatlichkeit und regulierter Finanzmärkte stehen bleiben. Sondern mit neuen Ideen und Erzählungen, die dem einsamen Ich des Neoliberalismus ein solidarisches Wir der Arbeiterinnen, der gewerkschaftlich Organisierten, der Armen, der Klimafreunde oder der genossenschaftlich organisierten Bankkunden entgegensetzen.Mirowski lesen, Mund abwischen, die Alternativen ins Licht rücken – das ist meine Devise für den Beginn der nächsten 25 Jahre Freitag. Wenn sich dabei, der Einfachheit halber und um Zeichen zu sparen, noch ab und an das Wort „neoliberal“ findet, dann wissen Sie ja jetzt, was gemeint ist.
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