„Der Grundsatz der politischen Neutralität wird in den Schulen sehr einseitig ausgelegt“
Foto: Max Brunnert für der Freitag
Draußen glitzert die Sonne im Starnberger See, drinnen bläst ein Dutzend Forscher und Lehrende zur „Reform der wirtschaftswissenschaftlichen Ausbildung und zur Erneuerung der ökonomischen Bildung“. Die gerade erst aus der Taufe gehobene Gesellschaft für sozioökonomische Bildung und Wissenschaft (GSÖBW) ist zu ihrer ersten Jahrestagung zusammengekommen, sie versammelt Ökonomen, Soziologen, Fachdidaktiker und Wirtschaftspädagogen, mit dabei sind etwa der Elitenforscher Michael Hartmann, die Mitgründerin der Cusanus-Hochschule Silja Graupe sowie der Privatisierungskritiker und Freitag-Autor Tim Engartner.
An der Akademie für Politische Bildung im oberbayrischen Tutzing diskutieren sie, wie der Neoklassik und ihrem herrschenden Dogma
ng diskutieren sie, wie der Neoklassik und ihrem herrschenden Dogma vom Homo oeconomicus etwas entgegenzusetzen ist an Schulen und Hochschulen. Wie vehement sich Vertreter der dominierenden Theorie gegen einen Pluralismus in Lehre und Forschung wehren, das weiß GSÖBW-Vorstandsmitglied Bettina Zurstrassen, Professorin für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Universität Bielefeld, sehr gut. 2015 musste die Bundeszentrale für politische Bildung zeitweilig ein Vertriebsverbot gegen einen von Zurstrassen herausgegebenen Band mit Materialien für den Unterricht verhängen, weil sich die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) beschwert hatte: Ihr war der Band zu kritisch.der Freitag: Frau Zurstrassen, ich glaube, ich hatte Glück, dass ich vor ein paar Tagen Ihren Band „Ökonomie und Gesellschaft“ von 2015 noch ergattert habe.Bettina Zurstrassen: Ja, es gibt nur noch wenige Restexemplare.Der Laden der Bundeszentrale in Berlin hatte noch eines. Beim Durchblättern war ich dann etwas enttäuscht – allerdings nicht von den Inhalten.Das freut mich. Denn den Autoren und Autorinnen des Bandes ist es gelungen, auf spannende Art und Weise alternative, kritische Perspektiven auf wirtschaftspolitische Probleme zu eröffnen.Die Finanzkrise wird mit Bezug zu einem Stück des Deutschen Theaters von 2013 behandelt: „Das Himbeerreich“. Und Wirtschaftswachstum wird nicht unter der Frage betrachtet, wie wir mehr davon erreichen, sondern ob wir das überhaupt noch anstreben sollten. „Enttäuscht“ war ich, weil gar kein „Warnhinweis“ beilag, wie er dem Buch nach einer Intervention der Arbeitgeber beigelegt worden sein soll.Ja, es hat einen solchen Beileger gegeben. Darin hieß es, die Schrift solle Lehrkräfte unterstützen, eine ganzheitliche Perspektive auf wirtschaftliche Probleme zu vermitteln. Letztlich klang das dann wie Werbung für unsere Publikation.Placeholder infobox-1Was hatten die Arbeitgeber genau gemacht damals?Das Buch erschien im Februar 2015, im Sommer erhielt dann der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung einen Brief von Peter Clever.Clever ist Mitglied der Hauptgeschäftsführung der BDA.Genau. Clever brachte sein „großes Befremden“ über den Band zum Ausdruck. Er vermittle „ein monströses Gesamtbild von intransparenter und eigennütziger Einflussnahme der Wirtschaft auf Politik“. Der BDA-Mann monierte, dass sich „die Bundeszentrale auf ein Niveau einseitiger Propaganda gegen die Wirtschaft“ begebe. Um das zu beweisen, wurden Zitate verkürzt und aus dem Kontext gerissen. Als Beleg wird etwa eine Passage angeführt, die Schulprojekten der Industrie Imagepflege unterstellt. Genau das aber ist das Ziel, etwa wenn der „Wirtschaftsverband Erdöl- und Erdgasgewinnung“ mit seiner Schularbeit wortwörtlich die „Verbesserung der Reputation der Branche“ anstrebt.Die Bundeszentrale widersprach den Vorwürfen, dennoch hat das zuständige Bundesinnenministerium die Publikation kurz darauf verboten.Ja – ohne dass die Unterstellungen der BDA fachlich überprüft worden wären. Und uns Herausgebern wie Autoren wurde nicht einmal die Möglichkeit gegeben, Stellung zu nehmen.Dann sollte der wissenschaftliche Beirat der Bundeszentrale sich mit dem Ganzen befassen. Und der hat für die Aufhebung des Vertriebsverbots gesorgt.Er hat das empfohlen. Dafür, dass das Buch dann zügig wieder freigegeben wurde, hat dann vor allem der öffentliche Protest gesorgt, der mediale und zivilgesellschaftliche Druck, der losgebrochen war.Jetzt haben Sie einen neuen Verband mitgegründet, der sich hier in Tutzing erstmals trifft: Was will die GSÖBW?Die neoklassische Dominanz in Hochschulen und in Schulen durchbrechen, mehr Pluralismus ermöglichen. Und vor allem ein Forum sein, in dem Wissenschaftler die Konzeption der sozioökonomischen Bildung für Schule und Hochschule weiterentwickeln, Forschung betreiben und politisch für sozioökonomische Bildung eintreten.Was heißt das konkret?Es geht darum, dass wir Schüler, Schülerinnen und Studierende zu Analyse und Reflexion von Problemen und Lebenslagen, die mit Wirtschaft zu tun haben, befähigen, die aber eben nicht an disziplinären Grenzen Halt machen.Unternehmensverbände fordern ja seit Jahren etwas anderes: ein eigenes Schulfach Wirtschaft. Was halten Sie davon?Wenig. Denn ein Fach Wirtschaft ist ein Fach der Wirtschaft. Das ist keine Parole, sondern Realität: In Baden-Württemberg, wo es seit kurzem genau so ein neues Fach Wirtschaft gibt, diente als Blaupause für den Bildungsplan ein Gutachten des Gemeinschaftsausschusses der deutschen gewerblichen Wirtschaft. Das heißt, dass hier ein Papier der Wirtschaft fast eins zu eins in ein Unterrichtsfach umgesetzt wird. Außerdem haben Unternehmen und unternehmensnahe Institutionen einen sehr privilegierten Zugang zu Schulen. Banker oder jemand von einem Chemiekonzern in der Schule – das ist heute der Normalfall.Na, dann könnten doch einfach Gewerkschafter mit ins Klassenzimmer kommen.Denen wird der Zugang aber oft verweigert, das höre ich von Lehrerinnen und Gewerkschaftern immer wieder: Die Schulleitungen intervenieren, weil sie den Grundsatz der politischen Neutralität verletzt sehen. Diesem Grundsatz kann ich viel abgewinnen. Er wird hier aber sehr einseitig ausgelegt.Während meiner Schulzeit gab es diesen Attac-Aufkleber: ein Schulbuch in Form einer Zigarettenschachtel, darunter die Zeile: Was, wenn ein Zigarettenkonzern die Grundschule übernähme?Das klang mal provokativ, heute ist es durchaus möglich, etwa in den USA. Die Ökonomisierung erfasst zunehmend das Schulsystem. In Deutschland sind wir noch nicht ganz so weit, aber auch hier erkaufen sich Unternehmen etwa über Spenden Einfluss. Und 16 der 20 umsatzstärksten deutschen Unternehmen produzieren heute eigene Unterrichtsmaterialien. Sie wollen damit über die Schulen an die Köpfe der Kinder.Wenn ich jedoch an meine eigene Schulzeit denke, erinnere ich mich überhaupt nicht an privatwirtschaftliche Beeinflussung.Schon 2006 haben laut der Pisa-Studie 87 Prozent der 15-Jährigen hierzulande eine Schule besucht, an der die Wirtschaft Einfluss auf Lehrinhalte ausübt. Ein weiteres Beispiel für die steigende Einflussnahme ist die Berufsorientierung.Inwiefern?Wie von Wirtschaftsverbänden gefordert, wird sie massiv ausgebaut. In Nordrhein-Westfalen wurde im Schuljahr 2016/17 die sogenannte Potenzialanalyse eingeführt. Das heißt, es gibt in der 8. Klasse einen Berufsorientierungstag, durchgeführt von externen Firmen. Der Bund unterstützt NRW bis 2020 mit 95 Millionen Euro. Weitere Bundesländer werden wohl folgen. Das Ganze soll die Reflexion über die Berufswahl fördern.Klingt doch gut.Vordergründig, ja. Eine vernünftige Berufsorientierung hat ihre Berechtigung. Aber solche Maßnahmen sind Schritte hin zu einer Privatisierung des Schulsystems. Der Einfluss der Wirtschaft auf die Inhalte des Unterrichts nimmt weiter zu. Zumindest an Gymnasien wird ein Bedarf herbeigeredet. 2014 hatten nur vier Prozent der Studienberechtigten im Alter zwischen 20 und 34 keinen formalen Berufsabschluss. In der Vodafone-Studie „Schule und dann?“ von 2015 gaben 74 Prozent der Befragten an, dass sie keinen weiteren Unterstützungsbedarf bei der Berufsorientierung haben.Vielleicht machen die sich schlicht zu wenig Gedanken über ihre berufliche Zukunft.Ganz im Gegenteil. Schüler versuchen heute, Berufsrisiken zu antizipieren. Sie stellen sich etwa die Frage, ob sie einen Beruf körperlich bis zur Rente ausüben können oder ihnen Altersarmut droht.Trotzdem: Was soll schlecht sein daran, das die Berufswelt in der Schule eine wichtige Rolle spielt?Das ist ja längst der Fall! Sehen Sie, genau das ist diese neoklassische Denkweise: Gegen die Unwägbarkeiten des Arbeitsmarktes soll mehr Berufsorientierung helfen, die zu permanenter Anpassung an diesen Markt befähigt. So ist es auch mit der Finanzkrise: In Reaktion darauf gibt es etwa in Spanien nun Finanzunterricht in Schulen – als hätten die Bürger mit ihrer Dummheit die Krise ausgelöst und nicht die unseriösen, kriminellen Machenschaften der Finanzindustrie. Solch ein Denken schiebt dem Bürger Verantwortung zu, wo politische Gestaltung notwendig wäre. Berufsorientierung, die auch diese Aspekte thematisiert, fände ich gut. Tatsächlich wird sie verstärkt als eine Art Sozialtechnik konzipiert, die Schüler in Berufe drängen soll, in denen es Bedarf gibt.Wir brauchen nun mal dringend mehr Pflegerinnen und Pfleger.Aber warum? Vor allem weil die Bedingungen so unattraktiv sind. Markt und Staat versagen also. Das Geld, um diese Berufe wieder attraktiv machen, fehlt angeblich – in einer Zeit, in der Unternehmen und Staat so viel Geld haben wie nie zuvor. Stattdessen drängt man gerade sozialstrukturell benachteiligte Schüler in diese Berufe.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.