Ukraine-Krieg Im Westen verschmäht, in China ein Star: Der US-Politikwissenschaftler John J. Mearsheimer legt in Berlin seine Sicht auf Russland, die Ukraine und die Verantwortung für den Krieg dar. Eine Begegnung
In China ist er ein Star – und fühlt sich intellektuell fast zu Hause. Im Westen hingegen lebten die meisten Leute in einer Traumwelt, sagt Mearsheimer
Foto: Yasin Ozturk/AA/Picture Alliance
Peter der Große, es muss doch jetzt endlich raus, „Peter der Große“, ruft also der Mann aus der letzten Reihe und erschrickt sogleich über sich: „Sorry to interrupt you“, dämpft er schuldbewusst seine Stimme und blickt nach vorne zu John J. Mearsheimer, dem er ins Wort gefallen ist. Aber wenn der hier sage, es gehe im Ukraine-Krieg nicht um Wladimir Putins Imperialismus, was solle man dann davon halten, dass sich Putin jüngst mit Peter dem Großen verglichen hat? Dass er sich östlich der russischen Grenze jetzt „Gebiete zurückerobern und stärken“ sieht, wie der Zar das im 18. Jahrhundert in Schweden tat?
Ein Knistern liegt in der angenehm kühlen Luft des Konferenzraums, nicht nur an dieser Stelle, aber das
aber das Knistern war ja garantiert: denn mit John J. Mearsheimer, 74, hat das Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies der Universität Bonn vier Monate nach der russischen Invasion einen US-Politikwissenschaftler nach Berlin-Mitte geladen, dessen Sicht auf den Ukraine-Krieg nicht weiter entfernt sein könnte von der Sicht der meisten im Regierungsviertel, in Hauptstadtredaktionen und Denkfabriken. Der Westen und insbesondere die USA haben eine entscheidende Rolle bei der Entstehung dieses Krieges gespielt – das ist Mearsheimers zentrale Aussage.Peter der Große? Putin, der Imperialist? Vorne am Rednerpult hebt Mearsheimer die Schultern. „Kann sein.“ Ziele änderten sich. „Aber mir geht es hier um die Vorgeschichte dieses Krieges.“ Und die wird für ihn keine andere durch das, was Putin den Russen zur Feier des 350. Geburtstags von Peter dem Großen verkündet. 2008 der Ukraine wie Georgien die Mitgliedschaft in der NATO zu versprechen, war ein Fehler, Mearsheimer – Ausbildung an der Militärakademie in West Point, fünf Jahre Offizier der Luftwaffe, dann wissenschaftliche Karriere – hat das häufig wiederholt.„Die Ukraine falsch verstehen“ ist sein Artikel in der New York Times im März 2014, zur Zeit der Krim-Intervention, überschrieben, „Rüstet die Ukraine nicht auf“ ein weiterer Text dort im Februar 2015. Sieben Monate später hielt er einen Vortrag an der Universität Chicago, wo er seit 1982 lehrt; das Video davon ist unter dem Titel Why is Ukraine the West’s Fault? bisher mehr als 27 Millionen Mal geklickt worden, gerade in den vergangenen Monaten. Mearsheimers Stimme wird auch dort gern plötzlich laut und dunkel wie in Berlin, wenn er sagt: „Wenn du nahe einer Großmacht wie Russland lebst, dann höre lieber genau zu, was diese Großmacht als existenzielle Bedrohung erachtet.“ Selbst ihn – „einen Hardcore-Realisten!“ – habe die Invasion geschockt. Aber eigentlich habe Moskau immer klargemacht, wie es die seit Joe Bidens Amtsantritt forcierte und beim NATO-Gipfel 2021 in Brüssel bekräftigte „US-Obsession“ für eine Mitgliedschaft der Ukraine sieht: als rote Linie, deren Überschreiten Folgen hat, koste es, was es wolle. Und mache es die Ukraine nicht zum De-facto-Mitglied, dass sie seit Jahren von den USA mit Waffen, militärischem Know-how und Geld überschüttet werde, während jedes Angebot des Kremls, einen Kompromiss zu finden, ohne Folgen blieb, die USA selbst aber qua Monroe-Doktrin gestern wie heute selbstverständlich davon ausgehen, dass ihre eigene Nachbarschaft frei von jeder Militärpräsenz anderer Großmächte bleibt?Intellektuell ist China sein ZuhauseHarte Kost für viele deutsche Ohren. Den Rahmen hat die Uni Bonn klein gehalten. Knapp 30 Männer und sechs Frauen sind ins so unscheinbare wie vornehme Magnus-Haus an der Museumsinsel gekommen, nebenan wohnt Angela Merkel, von der Mearsheimer enttäuscht ist, weil sie den USA nie die Stirn bot, obwohl sie wusste, wie gefährlich deren Ukraine-Politik ist. Draußen im Hof surrt der Rasensprenger, drinnen outet sich ein chinesischer Student der FU Berlin: großer Fan Mr. Mearsheimers sei er, und der in China ja ohnehin ein Star. Den Ball nimmt der Geschmeichelte gerne auf: Jeden Auftritt in China, so Mearsheimer, beginne er mit den Worten „Es ist gut, wieder bei meinen Leuten zu sein“. Kulturell fremd sei ihm das Land, aber intellektuell fast wie ein Zuhause. „Die meisten Leute im Westen leben in einer Traumwelt.“Im Westen hat es die kleine außenpolitische Denkschule des Realismus jetzt noch schwerer als sonst, der Offene Brief Studierender der Uni Chicago gegen Mearsheimers „anti-ukrainische Ideologie“ spricht Bände. Er sagt: „Es hat außerhalb der Ukraine 1993 nur eine Person gegeben, die dem Land riet, seine Atomwaffen zu behalten“, anstatt sie Russland zu geben. „Das war ich.“ Der Aufsatz erschien in derselben Ausgabe der Foreign Affairs wie Samuel P. Huntingtons The Clash of Civilizations?.Die Bekanntschaft beider hatte schon mehr als zehn Jahre zuvor in den USA der Student Friedbert Pflüger gemacht, dem da erst noch eine Karriere als CDU-Außenpolitiker bevorstand, gekrönt von zwei Ordensverleihungen in Polen und Litauen für sein Engagement zugunsten der EU- und NATO-Osterweiterung. Dann wurde Pflüger Berater für Nord Stream 2, heute ist er Aufsichtsratsvorsitzender beim Lobbyverein Zukunft Gas – und Lehrbeauftragter an der Uni Bonn, daher im Magnus-Haus für die Einführung zu Mearsheimers Vortrag zuständig: „Die Grenzen des eigenen Vermögens zu erkennen, Einfluss auf andere Staaten zu nehmen“, dabei helfe „John“, und dabei, mit denen, die die Welt anders als der Westen sehen, einen Modus Vivendi zu finden.Mit einem Weg aus der auch für die hiesige Gaswirtschaft desaströsen Lage hilft John an diesem Tag nicht. Er sehe keinen Anhaltspunkt dafür, dass dieser Krieg bald ende, sagt Mearsheimer. Die Gefahr einer nuklearen Eskalation sei real, der Westen schlecht auf die eigentliche Herausforderung China eingestellt. Werde es Kooperation zwischen Russland und Europa eines Tages wieder geben, dann sei er selbst längst „six feet under“.
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