Volle Taschen hier, Identität dort

Thierse-Debatte Der ehemalige Bundestagspräsident hat Recht: Fragen der Zugehörigkeit werden heute intensiver diskutiert als Fragen der Verteilung. Aber warum eigentlich?
Ausgabe 10/2021
Vereint in Fremdscham für Wolfgang Thierse: Kevin Kühnert und Saskia Esken
Vereint in Fremdscham für Wolfgang Thierse: Kevin Kühnert und Saskia Esken

Foto: Odd Andersen/AFP/Getty Images

Ende 2022 könnte es ja so aussehen: Die NGO Lobby Control lobt Kanzlerin Annalena Baerbock für das verabschiedete Lobbyregister und das Verbot bezahlter Beraterjobs von Parlamentariern – noch vor dem Auftakt des Strafprozesses gegen den ehemaligen CSU-Bundestagsabgeordneten Georg Nüßlein wegen seiner Maskendeals. Bundesbildungsministerin Saskia Esken lässt sich mit Ressortkolleginnen aus den Ländern vor einer Schule ablichten, die per Blitz-Programm als die letzte in Deutschland mit schnellem Internet ausgestattet worden ist. Nach dem Koalitionsausschuss tritt Linken-Chefin Susanne Hennig-Wellsow vor die Kameras, um das Nein der Bundesregierung zum Iran-Krieg zu verkünden. Gesine Schwan wird doch noch Bundespräsidentin.

In der Realität schimpft Baerbock über „schwarzen Filz“, könnte aber dennoch bald mit ihm regieren. Hennig-Wellsow kann im Interview mit Jung & Naiv nicht sagen, wo auf der Welt die Bundeswehr in welchem Einsatz steht. Esken schämt sich mit Kevin Kühnert für Wolfgang Thierse, weil der in der FAZ einen streitbaren, klugen, für viele uninteressanten Text mit dem Titel „Wie viel Identität verträgt die Gesellschaft?“ veröffentlicht hat; Schwan verteidigt ihn. Während sich also Mitglieder des Union-Clans in der Corona-Krise schamlos die Taschen vollmachen, diskutiert man links recht angeregt über Identitätspolitik.

Thierse hat recht: „Themen kultureller Zugehörigkeit“ erregen die Gesellschaften heute mehr als „verteilungspolitische Gerechtigkeitsthemen“. Warum die kulturelle Zugehörigkeit so bedeutsam ist, welche Chancen und Risiken dies birgt, diskutiert der Text, aber er hat eine Leerstelle, wie die ganze Debatte: Warum ist die Erregung über Verteilungsgerechtigkeit so vergleichsweise klein?

Ein noch klügerer Text liefert Anhaltspunkte. Fabio De Masi von der Linken beklagt darin die fehlende Bereitschaft seiner Partei und Fraktion, „sich für die ökonomischen Debatten unserer Zeit zu interessieren“. Sein Versuch, dies zu kompensieren, habe ihn über die Belastungsgrenze getrieben, nun kandidiert er nicht mehr für den Bundestag. Ausgerechnet der, der jeden Raubzug der Reichen, von Cum-Ex über Wirecard bis zum „Nüßleinschaukeln und Diätenabgreifen“, mit Worten geißeln kann, die alle verstehen, und Alternativen kennt.

Warum fühlt sich De Masi so einsam, warum gelingt es keiner Partei, Fragen von Verteilung und Ungerechtigkeit zu popularisieren? Statt Twitter-Hieben auf vermeintlich identitätspolitisch Verirrte empfiehlt sich die Lektüre des Buches Die demokratische Regression von Armin Schäfer und Michael Zürn. Hier wird klar: Es gibt in der Politik zu wenige, die das interessieren muss. Längst sitzen in den Parlamenten überproportional viele mit höherer Bildung und höheren Einkommen, entscheiden zugunsten der Reichen oder bereichern sich selbst, während für Arme ein Mandat eine Illusion ist, ebenso die Vorstellung, selbst wählen zu gehen, werde etwas ändern.

Thierse, Kühnert, Schwan und Esken haben alle ein sicheres Einkommen und mindestens Abitur. Sie sollten mal mitgehen, wenn in ihren Berliner Kiezen jetzt Unterschriften gesammelt werden für das Volksbegehren zur Vergesellschaftung der Wohnungsbestände großer Konzerne. Sie werden Menschen treffen, die Sprache, Religion, Gender unterscheidet und der Verteilungskampf eint. „Identität ist wichtig im Leben. Sie darf aber nicht dazu führen, dass nur noch Unterschiede statt Gemeinsamkeiten zwischen Menschen betont werden“, schreibt Fabio De Masi. Er kommt dann bestimmt mit zum Sammeln.

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Geschrieben von

Sebastian Puschner

Stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter „Politik“

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

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