In Berlin, nahe dem Bundestag, hatte die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) vor kurzem noch ein Plakat von Gerhard Schröder hängen. Neben dem Foto prangte ein Zitat aus seiner Regierungserklärung im März 2003: „Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem fordern“.
Nein, die INSM, Speerspitze neoliberaler Propaganda in Deutschland, hatte nicht über Jahre hinweg vergessen, das Plakat abzunehmen. Angesichts von Mindestlohn, Rente mit 63 und vermehrten Streiks war es eine sehnsüchtige Reminiszenz an die rot-grünen Schröder-Jahre. Denn keine Montagsdemonstration gegen Hartz IV konnte damals aufhalten, dass aus wirtschaftsliberaler Ideologie Regierungspolitik wurde. Deutschland legte die Axt an den Sozialstaat und übte sich in demütiger Lohnzurückhaltung – im Ohr stets die Warnung vor dem Verlust der Wettbewerbsfähigkeit in Zeiten der Globalisierung.
Steuereinnahmen wie nie
Die Gewerkschaften gaben bereitwillig eine Losung drein, die für den sozialen Frieden in Deutschland bis dahin maßgeblich war: So stark die Produktivität steigt, so stark sollen die Löhne derer steigen, die sie erwirtschaften. Für das Versprechen neuer Jobs inmitten hoher Arbeitslosigkeit nahmen sie in Kauf, dass die Löhne sich vom Produktivitätszuwachs abkoppelten und die Lohnstückkosten viel schwächer als im Rest der Eurozone stiegen.
Viele halten das für den Grund, dass Deutschlands volkswirtschaftliche Bilanz heute im internationalen Vergleich so scheinbar gut daherkommt: Die Zahl der Erwerbstätigen so hoch wie nie, die Steuererlöse auf Rekordniveau, die Wirtschaft auf Wachstumskurs. Schröder lässt sich als weitsichtiger Politiker feiern, der nicht einmal den Verfall der SPD zur 20-Prozent-Partei scheute, um das Land zukunftsfest zu machen. Tatsächlich sonnt sich das Land in einem trügerischen Glanz, und es ist genau darum zu hoffen, dass es bald viele Berufsgruppen den streikenden Lokführern, Erzieherinnen und Paketboten gleichtun.
Gerade hat die OECD hierzulande ein Allzeithoch der Ungleichheit von Vermögen und Einkommen konstatiert. Zwischen 1995 und 2007 nahm die Zahl atypischer Beschäftigungsverhältnisse um 13 Prozent zu, die der regulären sank um acht Prozent. Seither hat sich die Einkommensungleichheit stabilisiert. Rot-Grün hat einen Niedriglohnsektor entstehen lassen, wie es ihn in Deutschland zuvor nicht gab. Der unter Kohl schon massiv gesunkene Anteil derer, die Mitglied einer Gewerkschaft sind, ist weiter zurückgegangen. Arbeitgeber konnten sich in Massen aus der Tarifbindung heraus und hinein in einen flexibilisierten Arbeitsmarkt flüchten. Im einstigen Musterland der Sozialpartnerschaft feiern die Gewerkschaften heute ein Mindestlohngesetz als größtmöglichen Erfolg. So richtig und wichtig der Mindestlohn nun ist, er belegt zugleich die Niederlage der Arbeit, die ohne staatliche Eingriffe dem Kapital hilflos gegenübersteht.
Vor allem aber hat Deutschland, und nicht Griechenland, Europa in eine tiefe Krise geführt. Für die Währungsunion ist das größte Problem, dass die Deutschen jahrelang unter ihren Verhältnissen gelebt haben. Nicht die angebliche „Gier“ Südeuropas. Konsequente Lohnzurückhaltung verschaffte deutschen Unternehmen eine Übermacht, mit der sie anderen europäischen Volkswirtschaften mehr und mehr Marktanteile wegnehmen konnten. Deutsche Produkte waren nicht mehr nur von guter Qualität, sondern auch zu einem solch günstigen Preis zu haben, dass viele ausländische Konkurrenten keine Chance mehr hatten.
Seit 2000 haben sich Deutschlands Exporte verdoppelt: Absätze im Ausland mussten die schwache Inlandsnachfrage infolge der Lohnzurückhaltung ersetzen. Die so erwirtschafteten Umsätze des Exportweltmeisters flossen, mangels adäquater Besteuerung, nicht etwa in Investitionen in die Infrastruktur. Sondern schufen Profite. Ihre Nutznießer investierten lieber in griechische Staatsanleihen und spanische Immobilien. Nicht, dass deutsche Anleger davon nur profitiert hätten: Ein Drittel ihrer Auslandsinvestitionen haben sie in den vergangenen 15 Jahren verloren.
Exzessiver Export
Mit 7,5 Prozent war der deutsche Handelsbilanzüberschuss 2014 so groß wie nie, mit 200 Milliarden Euro der größte der Welt. Die größte Volkswirtschaft Europas exportiert exzessiv mehr, als sie importiert. Das untergräbt die Stabilität der Union, die sich der Kontinent einst als Lehre aus seiner kriegerischen Vergangenheit vorgenommen hatte. Nicht, dass nun Massen von Arbeitern im Namen Europas der GDL nacheifern und gegen deutsche Handelsbilanzüberschüsse streiken werden. Doch sich darauf zu besinnen, dass die Mehrheit der Menschen hier viel stärker von der enormen Produktivität profitieren muss – das wird nicht nur Löhne erhöhen, Arbeitszeiten verkürzen und das Leben angenehmer machen. Sondern auch die Solidarität eines Europas bestärken, das nichts nötiger hat als ebendies.
Die Umstände dafür sind günstig: Die Konjunktur brummt, auch wegen des niedrigen Ölpreises. Dank des Mindestlohns sowie aufkeimender gewerkschaftlicher Entschlossenheit in Tarifauseinandersetzungen steigen Löhne und Inlandsnachfrage. Jetzt braucht es Gewerkschaften, die diesen Trend stützen und ihn zu einem langfristigen machen, auch mit Streiks, um hohe Forderungen durchzusetzen. Um mehr als drei Prozent müssten die Löhne über mehrere Jahre steigen, um die Ungleichgewichte und die Krise im Euro-Raum einzudämmen, schätzt das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung. 2014 waren es 2,7 Prozent.
Eine der neueren INSM-Anzeigen zitiert Ingo Kramer, Präsident der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände, zum Tarifeinheitsgesetz: „Der Bundestag kann dem vom Bundeskabinett gebilligten Gesetzentwurf mit gutem Grund zustimmen.“ Das hat das Parlament inzwischen getan. Um für die Schwächung der Arbeitnehmer zu werben, hätte die INSM auch die Führerin des Angriffs aufs Streikrecht nehmen können: SPD-Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles.
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