Warum Plastik aus Gras die Zukunft ist

Die Buchmacher Harald Welzers Stiftung Futurzwei hat einen neuen Zukunftsalmanach veröffentlicht. Nie war er nötiger denn jetzt
Ausgabe 52/2014
4.000 Tonnen Müll entstehen aus zwei Milliarden Aluminium-Kaffeekapseln pro Jahr allein in Deutschland
4.000 Tonnen Müll entstehen aus zwei Milliarden Aluminium-Kaffeekapseln pro Jahr allein in Deutschland

Bild: Martin Ruetschi/Keystone

Es hätte wohl keinen besseren Zeitpunkt für die Veröffentlichung dieses Buchs geben können als jetzt. Der FUTURZWEI Zukunftsalmanach 2015/16 erscheint am Ende eines Jahrs, in dem der Ölpreis auf Talfahrt gegangen ist. Ökonomen jubeln, weil billiges Öl die Produktion der Industrie, den Konsum der Verbraucher und damit das Wachstum der Wirtschaft anzuheizen verspricht. Und inmitten dieser Gemengelage erscheint ein Band, der den Weg weisen will in eine „enkeltaugliche Zukunft“, abgekoppelt vom klimaschädlichen Verbrauch endlicher Ressourcen und geprägt von intakten, nachbarschaftlichen Gemeinschaften von Menschen, die ihre Güter miteinander teilen. 82 „Geschichten des Gelingens“ versammelt der Almanach, und selten war es nötiger, sie zu erzählen und sie zu lesen.

Eine dieser Geschichten ist die des Chemikers und Ingenieurs Michael Gass, der Plastik herstellt, das nach Heu riecht, weil es aus Wiesengras statt aus Öl besteht. Schon vor dem jetzigen Preisverfall musste er sich damit herumplagen, dass der Rohstoff Öl seinen potenziellen Kunden in der Industrie noch viel zu billig ist, als dass sie ihm durch den Rohstoff Gras ersetzen würden. Deswegen produziert und vertreibt Michael Gass nun selbst Terrassendielen und Kugelschreiber aus seinem Bioplastik.

Nach der Ausgabe 2013 ist dies nun der zweite Zukunftsalmanach der Stiftung Futurzwei. Deren Direktor und Mitherausgeber Harald Welzer leitet das Buch mit einem Essay ein, dessen besonderes Verdienst in der Absage an alle apokalyptischen Argumentationsmuster liegt: Nein, die Welt geht nicht unter wegen der 4.000 Tonnen Müll aus zwei Milliarden Aluminium-Kaffeekapseln pro Jahr allein in Deutschland; der Klimawandel bedeutet nicht das Ende der Menschheit.

Worum es geht, ist die Verschärfung der ungleichen Machtverhältnisse. Wer Vermögen hat, kann auf die knapper werdenden fruchtbaren Böden zugreifen und muss sich ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen nicht fügen. Wer dagegen arm ist, wird immer mehr Druck und immer weniger Freizeit haben, oder er holt sich schon heute bei der Suche nach Altmetallen den Gifttod: auf einer Müllhalde im Senegal, zwischen den verbrennenden Kunststoffgehäusen ausrangierter Elektrogeräte aus Deutschland.

Material ist das Schwerpunktthema dieses Buchs, und das ist wiederum der Grund dafür, dass sich die sonst übliche Futurzwei-Erzählweise diesmal nicht ganz durchhalten lässt. Der von Welzer beschworene Kulturwandel, den die 82 Porträtierten schon leben, soll ja in allen Gesellschaftsschichten virulent werden, indem er in einer optimistischen Erzählhaltung und nicht mit Verzichtsdogmen daherkommt. Doch wenn die Mitherausgeberinnen Dana Giesecke und Luise Tremel in ihrem lesenswerten Essay den ganzen Wahnsinn entfalten, der in unserem Verbrauch von Material oder in den globalen Produktionsketten liegt, dann wird klar: Ohne Verzicht wird es nicht gehen.

Schon klar, Verzicht ist nicht gleich Verzicht – ein Leben mit mehr Zeit und weniger Zeug ist ein besseres Leben, als wir es heute führen. Doch die Semantik des Verzichts ist noch immer viel zu negativ; und für die Profiteure des heutigen, expansiven Kulturmodells ist es noch viel zu leicht, eine Gesellschaft jenseits des Wachstums als Schreckgespenst zu diffamieren.

Vielleicht braucht es darum gar einen rigorosen Verzicht auf das Wort Verzicht – im nächsten Zukunftsalmanach und in allen anderen noch zu erzählenden Geschichten des Gelingens.

Info

FUTURZWEI Zukunftsalmanach 2015/16. Geschichten vom guten Umgang mit der Welt Harald Welzer, Dana Giesecke, Luise Tremel (Hg.), Fischer 2014, 544 S., 16,99 €

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Geschrieben von

Sebastian Puschner

Stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter „Politik“

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

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