Wenn die Lust am Wählen zurückkehrt

Fernsehen Der Leere und Langeweile des TV-Duells um das Kanzleramt folgte ein Fünfkampf der kleinen Parteien, welcher für den 24. September hoffen lässt
Seine Privatisierungs-Fantasien trug Christian Lindner ganz offen vor, ohne Maskerade
Seine Privatisierungs-Fantasien trug Christian Lindner ganz offen vor, ohne Maskerade

Foto: John MacDougall/AFP

Und die Frau hatte sowas von Recht: „Das war toll, vielen Dank“, sagte Moderatorin Sonia Seymour Mikich nach 75 Minuten „Fernseh-Fünfkampf“ mit Sahra Wagenknecht, Cem Özdemir, Joachim Herrmann, Christian Lindner und Alice Weidel. Wer am Sonntagabend inmitten des großkoalitionären Gähnens die Lust am Wählen verloren hatte, konnte sie 24 Stunden später, bei der Debatte zwischen Linker, Bündnis 90/Die Grünen, CSU, FDP und AfD zurückgewinnen. Und wer seine Stimmabgabe am 24. September von der Qualität dieser beiden Fernseh-Duelle abhängig machen will, wird sein Kreuz kaum bei Union oder SPD machen.

Endlich Streit!

Freilich war in der Auseinandersetzung der kleineren Parteien nicht alles Gold, was glänzt – wie am Sonntagabend dominierte auch hier der Themenkomplex Abschiebung und Abschottung, blieb der Zusammenhang zwischen Migration und imperialer Handelspolitik auf einen entsprechenden Hinweis von Linken-Fraktionschefin Wagenknecht beschränkt. Ein hieran anschließender Diskurs über fehlende Vermögensbesteuerung und noch immer viel zu niedrige Löhne, über die damit verwobenen Folgen deutscher Handelsüberschüsse für Europa blieb aus. Und auch die zivilisationsbedrohende Dimension des Klimawandels und einer die Luft verpestenden Art von Mobilität hätten noch mehr Bilder vertragen können als das von Grünen-Chef Özdemir gezeichnete: sein siebenjähriger Sohn in Stuttgarts versmogter Innenstadt, die Atemorgane auf Höhe der Auspuffe, was der Größenordnung wohl durchaus nahekommt, bedenkt man die dort dem Vernehmen nach hohe Beliebtheit riesiger Fahrzeuge vom Typ Sport Utility Vehicle (SUV).

Trotzdem fiel es hier leichter zuzugestehen, dass in 75 Minuten eben nicht alles passt als dies am Sonntagabend mit seinen elendig langen knapp 100 Minuten der Fall war. Denn im Gegensatz zum tatsächlichen Einvernehmen der angeblichen Kontrahenten Angela Merkel und Martin Schulz boten Wagenknecht und Weidel, Özdemir und Herrmann wie Lindner etwas, das sonst so sehr fehlt in diesem Wahlkampf: Streit. Gegensätze. Klare Kante.

Das radikale Festhalten am freien Markt als Antwort auf steigende Mietpreise und Lösung für alle Fragen des Grundrechts auf Wohnen (Weidel, AfD, und Lindner, FDP) gegen eine an die Inflation gekoppelte Deckelung der Mietpreise (Wagenknecht) sowie eine neue Wohnungsgemeinnützigkeit (Özdemir). Besserer Breitband-Ausbau mittels Vollprivatisierung von Post und Telekom (Lindner) gegen die Rückgewinnung öffentlicher Eigentümerschaft wie Verantwortung für die Daseinsvorsorge (Wagenknecht). Schutz des Grundrechts auf Asyl sowie Familiennachzug zum Wohle der Integration (Wagenknecht, Özdemir) gegen das Schleifen des ersteren (Weidel) und das weitgehende Aussetzen des zweiteren (Herrmann). Werben für mehr Europa, Euro-Kritik, EZB-Bashing. Grün-gelbe Wortgefechte über Atomwaffen, Russland, Putin und die Ukraine.

Hier dankte niemand den Moderierenden für deren Fragen wie es Martin Schulz am Sonntag so oft, anbiedernd und brav getan hatte, dass einem der Mund offen stehen blieb vor Fassungslosigkeit. Hier beklagten die Kontrahenten, dass sie nicht noch mehr zu Rente oder Digitalisierung sagen durften.

Charakter, nicht Doktortitel

Die fünf Kontrahenten waren eben solche, und lösten schon am Abend vorher ein, was tags darauf Bundestags-Präsident Norbert Lammert in seiner Abschiedsrede fordern würde: mehr Streit. "In der Regel wird in den Plenarsitzungen noch immer zu viel geredet und zu wenig debattiert", sagte Lammert.

Seinen Anteil daran hatte das moderierende Duo aus Mikich und Christian Nitsche. Glaubhaft unvorbereitet sahen sich die Fünf etwa aufgefordert, jetzt eine frei zu wählende Frage an einen frei zu wählenden Kontrahenten aus der Runde zu stellen. Herrmann und Özdemir stritten über Kohlekraftwerke in Bayern und besetzte Häuser in Berlin; Wagenknecht erkor sich als einzige Alice Weidel für dieses Tête-à-Tête aus, fragte nach den "handfesten Halbnazis" vom Schlage Björn Höckes, die der konservative AfD-Flügel mit ins Parlament ziehen werde. Was die 75 Minunten lang sauertöpfisch dreinblickende, in der Kälte von Goldman-Sachs-Büros sozialisierte Weidel vom "höchsten Akademisierungsniveau" fabulieren ließ, das die AfD unter allen Parteilisten besitze. Und was wiederum Christian Lindner auf den Plan rief, der sagte: "Hier gehts aber nicht um Doktortitel, sondern um Charakter." Inmitten des Streits eine galante rot-gelbe Allianz gegen den Rechtspopulismus der Eliten – wer hätte das für möglich gehalten?

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Geschrieben von

Sebastian Puschner

Stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter „Politik“

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

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