Weiß schon jede, für wie glaubwürdig sie den US-amerikanischen Investigativ-Journalisten Seymour Hersh hält? Hersh hat gerade einen langen Artikel veröffentlicht, auf den wohl viele Menschen seit dem 26. September 2022 gewartet haben. Der Titel lautet „Wie Amerika die Nord Stream-Pipeline ausschaltete“. Die Diskreditierungsbemühungen gegen Hersh laufen.
In keinem etablierten Massenmedium ist eine auch nur annähernd so ausführliche, detaillierte und plausible Beschäftigung mit den Nord-Stream-Attacken erschienen. In Deutschland ermittelt immerhin der Generalbundesanwalt „wegen des Verdachts der verfassungsfeindlichen Sabotage“, um, wie es Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) sagte, „den Saboteuren auf die Spur zu kommen und diese vor ein deutsches Gericht stellen zu können“.
„Aus Gründen des Staatswohls“
Ob der Bundesregierung Ergebnisse aus Überwachungs- und Geheimdienstquellen vorlägen, die auf die Urheber der Explosionen hinweisen, hatten Abgeordnete der Linksfraktion im Bundestag die Bundesregierung gefragt. Das Bundeswirtschaftsministerium von Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) antwortete Mitte Dezember: „Die Bundesregierung ist nach sorgfältiger Abwägung zu der Auffassung gelangt, dass die Beantwortung der Fragen aus Gründen des Staatswohls nicht erfolgen kann.“ Selbst die Umweltkatastrophe durch austretendes Methangas scheine bei den Grünen niemanden so richtig zu interessieren, hatte es aus Reihen der FDP schon einmal geheißen.
Eine Antwort auf all die Fragen liefert nun Seymour Hersh, der Aufdecker des Vietnamkrieg-Massakers der US-Armee von My Lai 1986. Gewählt hat er dafür die Online-Plattform Substack.
Mit norwegischer Hilfe
Hersh schildert, wie ein enger Kreis um US-Präsident Joe Biden die Anschläge auf die russisch-deutschen Erdgas-Pipelines Nord-Stream 1 und 2 von langer Hand – vor dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 – geplant und in Kooperation mit Geheimdienstkreisen aus dem Heimatland des norwegischen NATO-Generalsekretärs Jens Stoltenberg am 26. September 2022 nahe Bornholm vollenden hat lassen.
Bereits Ende Juni hätten dort während der NATO-Sommerübung BALTOPS Tiefseetaucher der US Navy Minen platziert. Als Camouflage diente ihnen eine der Übungsmission kurzerhand hinzugefügte „Forschungs- und Entwicklungsmaßnahme“, die in den eigenen Worten der US Navy vortrefflich geeignet war, „um die neuesten Fortschritte in der Minenjagdtechnologie mit unbemannten Unterwasserfahrzeugen (UUV) in die Ostsee zu bringen und die Wirksamkeit des Fahrzeugs in Einsatzszenarien zu demonstrieren“. Zur Detonation gebracht worden seien die Minen am 26. September 2022 auf Veranlassung von US-Präsident Joe Biden mittels einer von einem Flugzeug abgeworfenen Sonarboje.
Joe Bidens Ankündigung
Die technischen Details wie der Hergang von NATO-Übung und „Forschungs- und Entwicklungsmaßnahme“ sind leicht überprüfbar, die Zusammenhänge und Interessenlagen der beteiligten Akteure – vor allem die der Erdgas-Exporteure Norwegen und USA – völlig plausibel. Hersh Darlegung würde auch das Kommunikationsverhalten der Bundesregierung erklären, wenngleich diesem eisernen Schweigen bezüglich deutscher Interessen keine Absolution erteilen. Alle zentralen Einlassungen aus jenem engen Kreis um Biden zu Nord Stream, ob von Unterstaatssekretärin Victoria Nuland („Senator Cruz, wie auch Sie, bin ich, und ich denke auch die Regierung, sehr erfreut zu wissen, dass Nord Stream 2 nun, wie Sie sagen, ein Haufen Metall auf dem Meeresgrund ist.“) oder Außenminister Anthony Blinken („Das ist eine großartige Gelegenheit, die Abhängigkeit von russischer Energie ein für alle Mal zu beenden“, „Das bietet eine enorme strategische Chance für die kommenden Jahre“, „Wir sind jetzt der führende Anbieter von Flüssiggas in Europa“), sind hinlänglich bekannt.
Ebenso öffentlich ist Bidens klare Ankündigung während des USA-Besuchs von Bundeskanzler Olaf Scholz vor einem Jahr: „Wenn Russland in die Ukraine einmarschiert, wird es kein Nord Stream 2 mehr geben. Wir werden dem ein Ende bereiten. Ich verspreche Ihnen, dass wir in der Lage sein werden, das zu tun.“ Erinnert sei auch an jenen Tweet des ehemaligen polnischen Außenministers und jetzigen Vorsitzenden der Delegation des Europaparlaments für die Beziehungen zu den USA, Radosław Sikorski, kurz nach den Nord-Stream-Anschlägen: „Thank You, America!“
Eine anonyme Quelle
Unerwähnt lässt Hersh übrigens, dass in atemberaubender zeitlicher Parallelität zu den Nord-Stream-Anschlägen nicht weitab vom Tatort Regierungsvertreter Norwegens, Polens, Dänemarks, und der EU die Eröffnung der Pipeline Baltic Pipe feierten, durch die nun Gas von Norwegen nach Polen fließt und die die konkurrierenden Nord-Stream-Röhren am Grund des Meeres kreuzt. Alles in allem muss man fragen, ob eine vermeintlich unerklärliche Geheimoperation wie die gegen Nord Stream schon jemals als dermaßen ausgestreckter Mittelfinger in Richtung anderer Länder, vor allem Russland und Deutschland, dahergekommen ist.
Dennoch hat Seymour Hershs Artikel eine zentrale Schwäche: Sie basiert auf einer anonymen „Quelle mit direkten Kenntnissen über die operative Planung“. Einem Informanten, der ungenannt bleiben will, so sehr zu vertrauen – dieses Vorgehen ist dem Investigativjournalisten auch in der Vergangenheit schon vorgeworfen worden.
Wer hat jetzt ein Interesse daran?
Hersh also misstrauen? Kann man machen. Interessanter aber ist, auf Basis der evidenten Plausibilität seiner Schilderung, sich auf die Frage einzulassen, wie sie Freitag-Autor Wolfgang Michal gestellt hat: Wer kann ein Motiv haben, Hersh zum jetzigen Zeitpunkt mit derartigen Informationen zu versorgen? Wer profitiert von deren Veröffentlichungen jetzt?
Eine mögliche Antwort darauf mag finden, wer den Text Hershs bis zum Ende liest, wo es aus dem Munde der anonymen Quelle heißt: „,Well', he said, speaking of the President, ,I gotta admit the guy has a pair of balls. He said he was going to do it, and he did.'“ Auf Deutsch: Wow, Joe Biden hat „Eier“. Er hat gesagt, er tut es. Er hat es getan. Ein Mann, ein Wort.
Make America Great Again
Und tatsächlich dürfte Seymour Hershs Recherche wohl kaum jemandem weniger schaden als dem 80-jährigen US-amerikanischen Präsidenten, in dessen Demokratischer Partei weit und breit niemand in Sicht ist, der ihn bei den schon im kommenden Jahr anstehenden Präsidentschaftswahlen als Kandidatin mit guten Siegchancen nachfolgen könnte.
Biden, den viele als Tattergreis verlachen. Biden, der mit den Waffenlieferungen an die Ukraine Freiheit und Demokratie ebenso verteidigt wie die Interessen der Lobbyisten und Arbeiter der US-Rüstungsindustrie. Zu dessen Regierung Wirtschaftsminister aus Deutschland und Frankreich pilgern, um darum zu betteln, sein Inflation Reduction Act möge im Sinne von „Make America Great Again“ die Interessen der US-Wirtschaft wie einer grünen Ökonomie nicht gar so hemmungslos bedienen und damit dem Standort Europa zusetzen. Biden, der in den USA gerade für einen meisterhaften Moment bei seiner Rede zur Lage der Nation gepriesen wird, in dem er die Republikaner zu einem Bekenntnis zu Krankenversicherung und sozialer Absicherung nötigte. Biden, der im nächsten Wahlkampf wohl nicht zögern dürfte, auf mutmaßliches Republikanisches Paktieren mit Russland und dessen Interessen an einer Beeinflussung der US-Wahlen hinzuweisen. Biden, der selbst nicht zögert, Pipelines dieses kriegführenden Landes in die Luft sprengen zu lassen. Joe Biden, der „Eier hat“. Hoffentlich nicht solche, als dass er es auf einen neuen Weltkrieg wird ankommen lassen.
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