„Wie einsam sie war“

Sahra Wagenknecht Christian Schneiders Biografie fragt nach der Entwicklung eines Menschen, nicht nach innerlinken Intrigen
Ausgabe 42/2019
Schneiders Leistung ist es, ihre Entwicklung zwischen ideologischer Treue und erlernter Kompromissbereitschaft nachzuzeichnen
Schneiders Leistung ist es, ihre Entwicklung zwischen ideologischer Treue und erlernter Kompromissbereitschaft nachzuzeichnen

Foto: Imago Images/Christian Ditsch

Sie hat einiges erlebt. Allein diese Ehe: 16 Jahre, auf dem Papier, mit einem Mann, der mit ihr in die Türkei reiste, erst dort gestand, gerade vor Strafverfolgung wegen Anlagebetrugs zu flüchten, und den Sahra Wagenknecht dann dort auf eigene Kosten aus dem Knast holte. Der meist in Irland lebte und während dieser Ehe drei Kinder mit drei Frauen zeugte.

War eben nicht so eng, diese Beziehung, sagt sie heute. Was auf die besondere Rolle von Nähe und Distanz hinweist, wie sie das zentrale Thema der Sahra-Wagenknecht-Biografie des Sozialpsychologen Christian Schneider ist.

Nahegekommen sind ihr wenige. Auch loyal ergebene Fraktionsmitarbeiter fragen nach dem Erscheinen eines Interviews mit ihrer Chefin den Interviewer gerne mal: „Und, wie ist sie denn so?“ Ihre engste Freundin aus Kindheitstagen erinnert sich im Gespräch mit Schneider an ein sehr einseitiges Verhältnis: „Ich war da, war immer da – mit ausgestreckter Hand. Aber sie hat sie nur teilweise genommen.“ Doch das ist kein Grund für Groll beim Blick zurück, im Gegenteil, sie spricht voller Zuneigung und Verständnis dafür, „wie einsam Sahra war“.

Es ist eine Einsamkeit, die sie lange nicht als Defizit, sondern bald als Raum für ihre inneren Monologe mit dem als Idol entdeckten Goethe empfinden wird. Ihr Vater ist da längst, seit Wagenknecht zweieinhalb Jahre alt war, in seine iranische Heimat zurückgekehrt – es dieser Verlust, der sie prägt wie nichts anderes. Sie eignet sich ein am Persischen orientiertes Schriftbild an; als sie so im letzten Schuljahr erstmals dem großen Goethe-Kenner Peter Hacks schreibt, antwortet dieser: „Mein Fräulein, schreiben Sie mir bitte doch nicht mehr auf Persisch. Es sieht sehr schön aus. Aber es ist sehr schwer zu lesen.“ Ein in späteren Jahren enger Begleiter Wagenknechts, Thomas Städtler, sagt: „Es gibt wenig Menschen, die mich so reizen, mich liebevoll über sie lustig zu machen, wie Sahra, in ihrer positiven Art von Weltfremdheit, welche gleichzeitig die Welt so gnadenlos realistisch sieht wie eine Greta Thunberg.“

Raus aus Karlshorst

Städtler, ein Psychologe und Konservativ-Liberaler, der später den Start ihrer volkswirtschaftlichen Promotion am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung betreuen wird, lernt Wagenknecht kennen, als diese 1998 in Dortmund – als einzige Direktkandidatin der PDS im Westen – für ein Bundestagsmandat antritt. Er trifft eine Beobachtung, der zustimmen wird, wer Wagenknecht nicht nahegekommen ist, aber aus nächster Nähe erlebt hat: „diese Spannung zwischen einer gewissen Kühle in der Argumentation und einer Herzlichkeit im menschlichen Umgang“.

Es ist bei Weitem nicht die einzige Spannung: Die Wissenschaftlerin, die zugunsten der Politik dem „universitären Kosmos“ und damit dessen „professionellen Deformationen“ entgeht. Die Jugendliche, die Honeckers Schönmalerei der DDR auf einer Wandzeitung in der Schule anklagt, dann als junge Frau in der BRD die DDR verteidigen wird. Die Politikerin aus dem Osten mit dem Wahlkreis im Westen. Die bürgerlich gekleidete Sozialistin, der der Zuspruch der Deklassierten gilt. „Dass in ihr scheinbar Unvereinbares friedlich koexistiert“, wie es Schneider beschreibt, ist wohl der Grund dafür, dass es viele Kritiker der Gegenwart nie vermochten, Wagenknecht auszuhalten. Ihre Zeit als Fraktionschefin von 2015 an fiel zusammen mit einer Entwicklung, in der die Diskursmechanismen der sozialen Medien immer dominanter werden: diese Blase oder die andere, entweder-oder, schwarz-weiß, like it or not. Wagenknecht hat den umgekehrten Weg genommen, heraus aus ihrer Blase der 1990er, geprägt von den Folgen des Endes der DDR in Gestalt des Anschlusses an die BRD und der Zurückgezogenheit ihrer Wohnung in Berlin-Karlshorst. 1992 veröffentlicht sie den Text „Marxismus und Opportunismus“ in den Weißenseer Blättern, Stalins Politik „als prinzipientreue Fortführung der Lenin’schen“ – bei manchem politischen Gegner mag das damit geprägte Bild von der gefährlichen Radikalmarxistin bis heute mitschwingen, wenn er an die Frau denkt, deren Mitgliedschaft in der Kommunistischen Plattform längst ruht.

Schneiders Leistung ist es, ihre Entwicklung seither zwischen ideologischer Treue und erlernter Kompromissbereitschaft nachzuzeichnen, vor allem entlang der Goethe-, Hegel- und Marx-Lektüre sowie ihrer eigenen Veröffentlichungen. Ohne zu unterschlagen, wie schon im verfemten Traktat von 1992 mit dem Lob auf Walter Ulbrichts Neues Ökonomisches System und dessen Abkehr von reiner Planwirtschaft etwas angelegt war, was 24 Jahre später ihr „bemerkenswertestes“ Buch, Reichtum ohne Gier, zu dem machte, was es ist: ein realpolitischer Entwurf, der auf Wettbewerb und Innovationsgeist setzt und das gute Leben zum Ziel hat. In dem alle weniger arbeiten, quantitativen Mehrkonsum durch Konsum höherwertiger Güter ersetzen, Daseinsvorsorge über direktdemokratische Gemeinwohlökonomie organisieren und sicher gebunden statt angstvoll alleine sind (der Freitag 17/2016). Fehlen nur noch die politischen Mehrheiten. Womit ihre virulenteste Spannung in den Fokus rückt.

„Eigentlich“ ist Wagenknecht keine Politikerin. Sagt ihre Mutter. Sagt ihr Mann Oskar Lafontaine. Sagt Wagenknecht selbst, mit Blick auf die Fraktionsarbeit, „Leute zusammenzuholen, zu strukturieren, mit Leuten umzugehen“, den Apparat beherrschen, das liege ihr nicht. „Was möchten Sie sein?“, heißt es im Proust-Fragebogen. Wagenknecht: „Eine Schriftstellerin, deren Bücher gesellschaftliche Debatten auslösen.“

Der Verlust des Vaters

Wer hier nach neuen Innenansichten all der wüsten Kämpfe innerhalb der Linken oder der vorerst gescheiteren Sammlungsbewegung Aufstehen sucht, wird sie, abgesehen von Selbstkritik, nicht finden. Was zum Ersten daran liegt, dass alles sattsam bekannt und bezeugt ist, etwa Bernd Riexingers Ausspruch mit vom Wein gelockerter Zunge 2017: „Sahra muss gegangen werden, und daran arbeiten wir. Wenn wir sie immer wieder abwatschen und sie merkt, sie kommt mit ihren Positionen nicht durch, wird sie sicher von alleine gehen.“

Aber auch daran, dass Autor Schneider nicht als scharfsinniger Analyst gegenwärtiger Parteipolitik angetreten ist, sondern als Zeichner eines Psychogramms des Menschen Sahra Wagenknecht. Für das der Verlust des Vaters der Ausgangs-, die Liebe zu Lafontaine ein entscheidender Wende- und der Rückzug aus der ersten Reihe der Politik der vorläufige – krönende – Schlusspunkt ist. Krönend, weil sie eigenes Unvermögen eingestanden, die einzig gesunde Konsequenz aus ihrem Burn-out gezogen und so den Raum für das, was sie sein möchte, geschaffen hat.

Info

Sahra Wagenknecht. Die Biografie Christian Schneider Campus 2019, 272 S., 22,95 €

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Geschrieben von

Sebastian Puschner

stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter Politik

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

Sebastian Puschner

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