Wie im Dorfladen

Parteitag Bochum, Wittenberge, Berlin: An der Linken-Basis haben viele die Nase voll vom Streit der Führungsfrauen
Ausgabe 23/2018
Solidarität sei die Zärtlichkeit der Führungsgremien: die Partei- und die Fraktionschefin einander ganz nah
Solidarität sei die Zärtlichkeit der Führungsgremien: die Partei- und die Fraktionschefin einander ganz nah

Foto: Metodi Popow/Imago

Der Riesentopf mit Kartoffelsuppe ist leer, die Podiumsdiskussion über Armut und Sozialpolitik läuft, da geht ein Gemurmel durch das Publikum im Jahrhunderthaus Bochum: Oskar Lafontaine betritt den Saal, schüttelt die Hände der hiesigen Linken-Bundestagsabgeordneten Sevim Dağdelen, läuft zu seinem Platz in der ersten Reihe. Aber da fehlt doch wer!

Nebenan wurde hier früher Stahl erzeugt, eine Tafel informiert stolz über den „weltweit ersten Stahlformguss“ in Bochum, um 1850. „Sahra kommt“ steht auf den Plakaten vor der Halle, auch auf denen am Wahlkreisbüro Dağdelens, gleich die Straße rauf. Doch Sahra Wagenknecht kommt nicht an diesem Sonntag Ende April: Sie ist krank, ihre Stimme weg, also springt Lafontaine ein. Die Schlussrede ist als Höhepunkt vorgesehen: Den Vormittag über haben hier an die 130 Linke in Workshops der „Stadtteil-Konferenz“ geschwitzt, sich von einer Gewerkschafterin Organizing-Konzepte erklären lassen und mit Genossinnen von der niederländischen Socialistische Partij (SP) über deren erfolgreiche Kiez-Arbeit diskutiert. Sie haben sich das Hirn zermartert: Wie ist gegen den Rechtspopulismus anzukommen, gerade in abgehängten Vierteln, wo sie, wenn, dann meist die AfD wählen?

Jetzt, am Nachmittag, hat sich die Zahl der Anwesenden verdoppelt, und Ex-Parteichef Lafontaine schreit bald so, dass man Angst hat, auch er könnte seine Stimme verlieren. „Es geht darum, die Sammlung stärker werden zu lassen“, er spricht vom „Scheitern“ bei der Bundestagswahl, „wir brauchen Bilder und Worte, die die Gefühle der Menschen erreichen“, auch wenn diese anderen dann platt vorkämen. „Wir müssen dem rechten Populismus den Populismus der Linken entgegenstellen“, für eine bessere Rente und gegen Hartz IV, für friedliche Außenpolitik und den Erhalt der Natur, für öffentlich-rechtliche Plattformen, „die die Enteignung unseres Denkens und unserer Demokratie durch die Digitalkonzerne rückgängig machen“.

Eine halbe Stunde später erhebt sich das Publikum von den Stühlen, klatscht begeistert, vom Anfang-Fünfziger in der VfL-Bochum-Trainingsjacke über den 18-jährigen Nachwuchskader mit Krawatte und Anzug bis zur jungen Frau mit „Kein Mensch ist illegal“-Shirt. Kurz scheint es, als könnte das ja doch noch was werden mit dieser Partei.

Dicke Luft im Saal

Doch wenn Sahra Wagenknecht am kommenden Wochenende mit längst wiedererlangter Stimme beim Parteitag in Leipzig geredet haben wird, dürfte das Echo nicht so einträchtig ausfallen wie bei Lafontaine in Bochum. Katja Kipping und Bernd Riexinger werden wohl mit weit weniger als den anderswo üblichen 100 Prozent an die Parteispitze wiedergewählt werden. Gegen deren Kandidaten für das Amt des Bundesgeschäftsführers, Jörg Schindler (Freitag 22/2018), tritt nun der ehemalige Bundestagsabgeordnete Frank Tempel an. Und die „Richtungsentscheidung“, welche der Vorstand in der Debatte über die Migrationspolitik herbeizuführen gedenkt, wird diese kaum beenden. Zwar führt keine Partei diese Debatte so elaboriert wie die Linke, mit all den Thesenpapieren, Konzepten und Erwiderungen. Doch gerade sie droht daran zu ersticken. „Unversöhnlichkeit von beiden Seiten“ nennt ein Fraktionsmitglied die Gemengelage. „Wir sind nicht mehr fähig, Diskurse zu führen, andere Meinungen auszuhalten und gemeinsam als Linke zu kämpfen.“

Offene Grenzen für alle? „Ach, das meint die Katja doch gar nicht so“, sagt beim Rauchen vor der Halle in Bochum ein Parteimitglied, Arbeiter bei Siemens, Ende 50. „Die beiden sollen mal mit ihrem Zickenkrieg aufhören, kann man als Basismitglied ja wohl erwarten.“

Wagenknecht gegen Kipping? „Das kenne ich nur aus den Medien“, sagt ein paar Wochen später der Wahlkreismitarbeiter einer Bundestagsabgeordneten aus Brandenburg. So wie er reden viele hier, am vergangenen Samstag in Wittenberge, bei der Partei-Konferenz zur „Zukunft der ländlichen Räume“ mit rund 80 Teilnehmern. Die denkmalgeschützten Fenster im holzvertäfelten Saal des Rathauses Wittenberge kann man nicht öffnen, die Luft ist so, wie es Fraktionsmitglieder immer aus dem Linken-Sitzungssaal im Bundestag erzählen: heiß, stickig, dick. Doch hier stehen keine Fehdenkämpfe über Interviews und Intrigen an, hier ist das Streiten über einen „nichtintegrativen Führungsstil“ wahlweise in Partei oder Fraktion – um neoliberale Naivität hier und Linksnationales dort – weit weg. Denn dafür ist die Gefahr zu nah.

In Siedenbrünzow etwa – 528 Einwohner, Mecklenburgische Seenplatte – stimmten 2016, bei der Landtagswahl, 22,8 Prozent für die AfD. Bei der Bundestagswahl 2017 dann 29 Prozent. Vor Ort hätten die Rechtspopulisten niemanden, sagt Siedenbrünzows Linken-Bürgermeister Dirk Bruhn, „aber wenn ich zwei Plakate für uns klebe, hängen da 20 von der AfD“.

Bruhn ist ein so großer wie kräftiger Mann, brauner Bart und Haarkranz, gelernter und studierter Landwirt. Die 170 Kilometer nach Wittenberge ist er gekommen, um von seinem Ort zu erzählen. Als einzige von 16 Gemeinden in der Umgebung betreibt Siedenbrünzow die örtliche Kita noch selbst. Neun Kinder sind es aktuell, Kostenneutralität herrsche bei zehn, rechnet Bruhn mit an die Wand geworfenen Folien vor. Aber das zuständige Amt wolle so oder so, dass auch Siedenbrünzows Kita an einen vermeintlich kostengünstigeren freien Träger geht. Den Widerstand dagegen führt der Linke ebenso erfolgreich wie sein CDU-Vorgänger. Das liegt vor allem am Umspannwerk im Gemeindegebiet, welches kräftige Steuereinnahmen und Haushaltsrücklagen von einer Million Euro garantiert.

Bruhn treibt nicht Kipping oder Wagenknecht um. Sondern die Frau vom Amt, die nur darauf wartet, dass eine seiner beiden Erzieherinnen krank wird, der Bürgermeister nicht schnell genug Ersatz beschaffen kann. Dann droht die Schließung.

Die kommunale Kita ist ihm wichtig: Bruhn kann im Ort vermitteln, wenn Eltern ihren Nachwuchs woanders hinschicken wollen, weil der eigentlich nicht mit Kindern aus Hartz-IV-Familien spielen soll. Oder wenn es einen Weg zu finden gilt, damit die Kinder von Erwerbslosen überhaupt in die Kita gehen können, anstatt zu Hause zu bleiben. Neun Prozent beträgt die Arbeitslosen-, elf Prozent die Unterbeschäftigungsquote in der Region. Die afghanische Großfamilie, die sie Ende 2015 in zwei von ihren Dutzenden gemeindeeigenen Wohnungen untergebracht hatten, ist jüngst in die nächste Stadt gezogen, vor allem weil die Busse aus Siedenbrünzow so selten fahren.

Die Partei wächst wieder

Bruhn tut, was er kann, für Kita, Ort – und Partei. Aber er glaubt nicht, dass Gegnerschaft des Spitzenpersonals, die durch ein endgültiges Für oder Wider zu offenen Grenzen enden soll, die Gretchenfrage für die Zukunft der Linken ist. „Ich muss ja nicht bei allem mit Frau Wagenknecht einer Meinung sein, kann das aber doch aushalten.“ Bruhn selbst etwa ist skeptisch, dass das mit der Sammlungsbewegung so klappt, „wie es der Franzose gemacht hat“. „Wir wollten neulich einen rot-rot-grünen Kandidaten als Landrat aufstellen. Das hat sich nach zwei Wochen zerschlagen.“

Jean-Luc Mélenchons Bewegung La France insoumise gilt als Vorbild für Wagenknechts und Lafontaines Sammlungsbewegung. Für die könnten die beiden an einem Samstag Ende April in Berlin-Neukölln wohl nicht alle der rund 130 versammelten Linken begeistern. Es ist die letzte von sechs Regionalkonferenzen, die Kipping und Riexinger organisiert haben. Im Sharehouse Refugio leben mehr als 40 Geflüchtete, es gibt ein Café, Sprachkurse, Veranstaltungsräume – dort hängen heute Linken-Transparente: „Pflege-Notstand stoppen“, „Miete runter, Löhne rauf“. Zu Beginn sollen alle die Hände heben und zeigen, wie lange sie schon dabei sind: Etwa die Hälfte ist vor weniger als einem Jahr beigetreten, die meisten hier sind unter 40. „Wer jung ist und die Welt verändern will, für den ist die Linke die erste Adresse“, ruft Katja Kipping, „ich bin stolz darauf.“ 3.390 Mitglieder mehr als 2016 hatte die Linke 2017, der erste Zuwachs seit Jahren, vor allem in Städten wie Berlin, dem mitgliederstärksten Landesverband nach Sachsen; den höchsten relativen Zuwachs gab es mit 39 Prozent in Bayern.

Liegt es am Sozialismus?

Dieser Zustrom beschert der vom Vorstand ausgerufenen „Partei in Bewegung“ eine große Vielfalt an Standpunkten, was sich zeigt, als in Neukölln das Mikrofon durch die Reihen geht. „Keine Abstriche beim Thema Migration“ und „Niemals einen positiven Bezug auf Grenzen“, fordert jemand. „Die Angst vor dem Islam, die da ist, kann man doch nicht ignorieren“, sagt jemand anders. „Ein Image-Problem“, attestiert einer, der seit einem halben Jahr Mitglied ist, seiner Partei: „Ich glaube, das liegt am Sozialismus.“ Zu sehr sei der im öffentlichen Empfinden nun einmal mit Mauer, Schießbefehl und DDR-Mangelwirtschaft verbunden. Ein Sachse gibt zu bedenken: Wenn bei ihm zu Hause 43,5 Prozent die AfD wählten, dann helfe es doch nicht, denen allen zu unterstellen, sie seien Nazis und Rassisten. In der hintersten Reihe blättert eine Frau aus Berlin-Kreuzberg durch das Migrations-Papier, das Wagenknecht unlängst gelobt hatte; die Frau sagt: „Flüchtlingen vor Ort helfen, ich bin entsetzt!“ Die Solidaritätswelle 2015 habe doch gezeigt, was möglich sei.

Es ist eine Herausforderung, diese Vielfalt produktiv zu machen. Kipping stellt sich ihr, derweil Wagenknecht der Politik Ab-, der AfD Zugewandte und Prominente um die Linke zu sammeln versucht. Eigentlich eine plausible Arbeitsteilung. In der Realität aber tut sich die eine Seite schwer mit früheren Wählern, die nun für die AfD stimmen. Und die andere klagt ein ums andere Mal: „Die SPD hat seit 1998 zehn Millionen Wähler verloren, wir haben nur zwei Millionen dazugewonnen.“

Bei der Konferenz mit Kipping diskutieren sie dann in Arbeitsgruppen, wie Pflegerinnen und Mieter zu mobilisieren sind. Das Ganze ähnelt im Grundsatz doch sehr der Stadteil-Konferenz in Bochum, die Kreischef Amid Rabieh organisiert hat; vor bald zwei Jahren initiierte Rabieh einen Aufruf, „diffamierende Angriffe“ gegen Sahra Wagenknecht zu beenden. Jetzt, bei der Konferenz, sagt er: „Antirassismus reicht nicht“, wenn die Linke in abgehängten Stadtvierteln Fuß fassen und die Leute dort auf der Straße erreichen wolle. In Dreiergruppen üben die Teilnehmer gerade genau das. Ein paar Schritte weiter erklären die niederländischen Sozialistinnen von der SP ihren deutschen Genossen geduldig: Ja, der Widerstand gegen Entlassungen bei Opel sei auch wichtig, aber Kampagnen für Tempo-30-Zonen, Bürgersteige und die Kostenfreiheit des kommunalen Streichelzoos lohnten ebenso. „Die Leute müssen das Gefühl loswerden, sie hätten keine Kontrolle mehr“, sagt die SP-Generalsekretärin Lieke Smits. Eine Million Leute auf diesem Wege direkt erreichen und 100 öffentliche Intellektuelle für die SP gewinnen, das sei die Strategie. Was Smits nicht verschweigt: 135 Kiez-Aktionen im vergangenen Jahr waren zu wenige, bei der Kommunalwahl neulich erlitt die Partei teils horrende Verluste. Führungsstreit gibt es auch.

In Wittenberge, bei der Konferenz zum ländlichen Raum, ist nach Bürgermeister Dirk Bruhn ein Unternehmensberater dran, der überall in Deutschland die Gründung von Dorfläden begleitet hat. Sein Vortrag – auf Oberbayrisch – ist von solcher Fulminanz, dass man am liebsten gleich in die Uckermark ziehen und dort die kollektive Lebensmittel-Nahversorgung mitorganisieren möchte. Wovon denn abhänge, will ein Zuhörer wissen, ob solch eine Gründung wirklich gelinge. Der Bayer hat eine klare Antwort: „Vom Team, das im Laden selbst angestellt ist und arbeitet.“ Wenn gerade die Führungsfiguren nicht harmonierten, gehe der Laden vor die Hunde.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Sebastian Puschner

stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter Politik

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

Sebastian Puschner

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