Wohnen ist der Gipfel

Mietenwahnsinn Politik und Rechtsstaat halten die steigenden Mieten nicht auf. Bürgerinnen wie Sandra Hanke kämpfen dagegen an
Ausgabe 38/2018
Wohnen ist der Gipfel

Illustration: der Freitag, Material: Golero, KristianSeptimiusKrogh + Rosshelen/Istock

Es ist noch eine Dreiviertelstunde bis zum Start der Mieten-Demo, aber in Münchens U-Bahn-Linie 2 droht die Stimmung schon zu kippen. „Dafür ist München wohl zu selbstgefällig“, sagt Sandra Hanke. „Dann hätten wir es ja sein lassen können“, meint ihre Nachbarin. „Das kann peinlich werden für die Stadt“, sagt eine andere.

„#ausspekuliert“ lautet das Motto der Demo; München soll gegen Spekulanten, hohe Mieten und fehlende Wohnungen auf die Straße, von 10.000 Teilnehmern war die Rede. Aber gerade hat einer angerufen, der schon am Ort der Auftaktkundgebung ist: 40 Leute seien erst da.

Am Abend zuvor, erzählt Sandra Hanke, habe einer der Demo-Organisatoren noch eine lange E-Mail geschrieben. Habe sich erinnert, wie er damals mit Hanke und den anderen Mietern aus der Adams-Lehmann-Straße in München-Schwabing in Kontakt getreten sei, wie sie Flyer in die Briefkästen der Nachbarschaft geworfen, Briefe an die Politik geschrieben, die Medien informiert, die Podiumsdiskussion initiiert hätten – im Grunde sei das für ihn der Anfang von allem gewesen, habe er geschrieben, ohne den er jetzt wohl nicht diese Demo mitorganisieren würde. Diesen Versuch, aus der Vereinzelung verzweifelter Mieter eine Bewegung zu formieren, die die Wohnungsmisere auch in Deutschlands teuerster Stadt auf die Straße und in die Parlamente trägt.

Murren in der U-Bahn

Es gibt in der U-Bahn nur ein Thema: ob denn jetzt ausreichend viele dem Ruf folgen werden. „Wenn die Leute jetzt nicht demonstrieren, wann denn dann?“, fragt eine der Adams-Lehmann-Mieterinnen.

Als sie sich das erste Mal in einer Tiefgarage trafen, um gemeinsam über den Widerstand gegen ihre Mieterhöhungen zu beratschlagen, da waren sie 60. Als sie vor Gericht zogen, etwa 30. Jetzt in der U-Bahn sind sie zu zwölft. Der Widerstand zermürbt. „Arbeit, Familie und dieser Kampf mit dem Vermieter – Hobbys braucht man keine mehr“, sagt Sandra Hanke und prüft mit dem Finger, ob die weiße Farbe auf dem schwarzen Regenschirm hält: „Rettungsschirm für GBW Mieter“ steht da.

Die Gemeinnützige Bayerische Wohnungsgesellschaft (GBW) stand einmal für ein Versprechen des Staates. Für Sandra Hanke, die vor zehn Jahren in den Neubau in Schwabing zog, lautete es: neun Euro kalt pro Quadratmeter. In München ist das wirklich ein Versprechen. Um 61 Prozent sind die Mieten hier seit 2008 gestiegen, auf einen Mittelwert von 17,90 Euro kalt pro Quadratmeter, so eine jüngst veröffentlichte Marktanalyse des Immobilienportals immowelt.de.

Vor zehn Jahren zogen nicht nur Hanke, ihr Mann und die zwei Kinder in vier Zimmer auf 88 Quadratmetern in eine „EOF-Wohnung“, errichtet mit staatlichem Geld aus dem Programm für „Einkommensorientierte Förderung“. Vor zehn Jahren im Spätsommer erreichte die Finanzkrise mit dem Lehman-Brothers-Crash ihren Höhepunkt. Die Bayerische Landesbank war da schon am Taumeln, und drohte nun wegen ihrer Subprime-Spekulationen und der Übernahme der Hypo Alpe Adria zu kollabieren. Teil der „Rettung“ der BayernLB war der Verkauf ihrer Tochter GBW. Aber nicht etwa an ein mitbietendes Konsortium aus bayrischen Kommunen, in denen die 30.000 GBW-Wohnungen liegen, unter Führung Münchens. Sondern an ein bis heute weitgehend ominöses Geflecht aus Investoren, geführt von einer Aktiengesellschaft, der Patrizia Immobilien AG. Dank Bayerischem Rundfunk und Süddeutscher Zeitung ist über dieses Geflecht heute immerhin bekannt, dass seine Gewinne weitgehend steuerbefreit sind, indem sie nach Luxemburg fließen.

Eine Privatisierung aus dem Lehrbuch im Jahr 2013. Der damals verantwortliche CSU-Landesfinanzminister lächelt jetzt von den Plakaten, die Sandra Hanke auf dem Weg zur Münchner Mieten-Demo passiert: Ministerpräsident Markus Söder.

„Mau“, sagt Hanke: Vielleicht 1.000 Leute stehen verstreut auf dem Mariahilfplatz herum, als die Truppe aus der Adams-Lehmann-Straße ankommt und die beiden Transparente entrollt. Auf dem einen steht: „GBW Mieter sucht neues Zuhause.“

Darauf stehen die Chancen in München ähnlich schlecht wie in vielen der anderen 76 deutschen Großstädte mit mehr als 100.000 Einwohnern. Allein für all jene Haushalte, die weniger als das Bundesmedianeinkommen zur Verfügung haben – 3.710 Euro etwa bei einem Vier-Personen-Haushalt – fehlen in der bayrischen Landeshauptstadt rund 79.000 leistbare Wohnungen. Das hat ein Forscherquartett um den Stadtsoziologen Andrej Holm kürzlich im Auftrag der Böckler-Stiftung ausgerechnet. In allen deutschen Großstädten belaufe sich die Versorgungslücke auf 1,9 Millionen Wohnungen, vor allem für Ein-Personen-Haushalte mit Einkommen unterhalb der Armutsgrenze fehlt es an Wohnraum.

Sandra Hanke sieht sich nach anderen Wohnungen für ihre Familie um, aber eigentlich will sie ja bleiben: Die Kita, in der sie arbeitet, ist nah, die Schulen, der Bus, die Straßen- und die U-Bahn, der Olympiapark. Die Wohnung ist schön, ausreichend groß, und im Moment zahlen sie ja noch nicht so arg viel mehr als ein Drittel ihres verfügbaren Einkommens. Sie haben sich „rausgearbeitet“ aus dem „zusätzlichen einkommensabhängigen Wohngeld-Zuschuss“ der Stadt München, sagt Hanke, „wir waren fleißig“.

Jetzt aber sehen die Hankes ihrer Verdrängung entgegen, weil die privatisierte GBW voll durchzieht und Mieterhöhung nach Mieterhöhung schickt. Bei der Demo hält Sandra Hanke das zweite Transparent hoch: „Erzieherin finanziert Raketen: 15 % alle 3 Jahre.“

Dass im Jahr 2018 ein Vermieter überhaupt bis zu satten 15 Prozent mehr innerhalb von drei Jahren verlangen darf und sonst nur die sich in vielen Stadtvierteln von Jahr zu Jahr weiter hochschaukelnde „ortsübliche Vergleichsmiete“ als Grenze gilt – das ist bemerkenswert genug. In deutschen Städten erscheint alles andere als ein resoluter Mietenstopp, wie ihn die Linkspartei und nun auch die SPD für fünf Jahre fordern, absurd. Mietenstopp, das wäre ein naheliegendes Thema für einen „Wohngipfel“, wie ihn die Bundesregierung an diesem Freitag abhalten wird. Doch die Fantasie der Union reicht für kaum mehr als steuerliche und bürokratische Erleichterungen zugunsten privater Investoren.

Zugunsten der privaten Investoren hinter den Wohnungen Sandra Hankes und ihrer Nachbarn fiel im vergangenen Mai eine Entscheidung des Landgerichts München aus: Die Mieter hatten sich gegen die Erhöhungen zu wehren versucht, indem sie einen Passus aus dem Mietspiegel der Stadt zitierten: „Der Mietspiegel für München ist für freifinanzierte Wohnungen im Stadtgebiet München anzuwenden“, steht dort, und weiter, dass er nicht gelte für „Wohnungen, die mit öffentlichen Mitteln gefördert wurden – sogenannte Sozialwohnungen. Hierzu zählen auch sogenannte EOF-Wohnungen“. Aber mit Verweis auf genau diesen Mietspiegel begründen Hankes Vermieter ihre Erhöhungen. Und dagegen erheben die Mieter Einspruch. 2012 hatte das Landgericht in einem ähnlichen Fall Mietern Recht gegeben. 2018 aber scheiterten Hanke und die anderen. Die Begründung des Gerichts ist komplex – und rechtskräftig. Sie führt dazu, dass eine der Nachbarinnen bei der Demo sagt, sie hätte nie geglaubt, dass sie einmal so am Rechtsstaat und an der Politik zweifeln würde, wie sie das heute tut.

Der Bürgermeister fleht

Die Politik schiebt sich die Verantwortung für die Angst und den Ärger in der Adams-Lehmann-Straße inzwischen gegenseitig zu: „Seitens der Landeshauptstadt München sehe ich keine weiteren Eingriffsmöglichkeiten“, schrieb der SPD-Oberbürgermeister Dieter Reiter im Mai an die CSU-Landesbauministerin Ilse Aigner (CSU), „deshalb bitte ich Sie zu prüfen, inwieweit Ihr Ministerium bzw. der Freistaat eine geeignete Lösung sieht.“ Aigner antwortete einen Monat später und endete mit dem Satz: „Leider besteht aufgrund der beschriebenen rechtlichen Gegebenheiten keine Möglichkeit, die Mieter in der Adams-Lehmann-Straße durch Mietbeschränkungen oder direkte finanzielle Hilfe zusätzlich zu unterstützen.“

Überhaupt schreibt Dieter Reiter gern Briefe: Horst Seehofer hat als CSU-Bundesbauminister jüngst einen bekommen, in dem der OB ihn anfleht, dass der Bund den Kommunen ermöglicht, die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen nicht nur in bestimmten Gebieten, sondern flächendeckend in der ganzen Stadt verbieten zu können, denn: „Obwohl in München in den vergangenen Jahren, vor allem durch städtische Wohnungsbaugesellschaften, viele Wohnungen gebaut wurden, kann der steigende Bedarf gerade an bezahlbarem und familiengerechtem Wohnraum in München bei Weitem nicht gedeckt werden.“ Dass Reiters Bitten erhört werden, steht nicht zu erwarten.

Die #ausspekuliert-Demo ist längst auf der Straße, läuft jetzt auf dem Franz-Josef-Strauß-Ring an der Bayerischen Staatskanzlei und vier Söder-Plakaten in einer Reihe vorbei. 7.000 kursiert als Teilnehmerzahl, es reicht für Sandra Hanke und die anderen, um nicht enttäuscht zu sein; in den Medien wird es nachher heißen: 10.000 Teilnehmer. Dass Franz Josef Strauß sich einen Fall wie den aus der Adams-Lehmann-Straße in München-Schwabing in einem Landtagswahlkampf nicht entgehen lassen, sondern auf kurzem Dienstweg öffentlichkeitswirksam gelöst hätte, das ist vorstellbar. Hanke und die anderen haben ihre nächste Aktion schon vor Augen: Sie wollen Markus Söder bei einer Wahlkampfveranstaltung besuchen.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Sebastian Puschner

stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter Politik

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

Sebastian Puschner

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