Um kurz nach zehn Uhr vormittags begegnet mir dann endlich das richtige Wort. Wahrscheinlich wurde es schon hunderte Male vorher benutzt, um das zu beschreiben, was an diesem Montagabend auf dem Breitscheidplatz in Berlin geschehen ist. Aber ich habe mich nur sehr reduziert in den Strom der sozialen Medien eingeschaltet in der Nacht von Montag zu Dienstag. „Tragödie, es ist schlicht und einfach eine Tragödie“, sagt ein Kollege. Ja, das ist es. Ein Lkw ist in einen Weihnachtsmarkt gerast, zwölf Menschen sind tot, 48 weitere liegen mit – teils schweren – Verletzungen in Krankenhäusern, hat die Polizei Berlin mitgeteilt. Unfall? Anschlag? Amok? Keiner weiß es am Montagabend, am Dienstagvormittag gibt es Indizien. Zunächst ist es schlicht und ergreifend eine Tragödie.
Dass auf dem Breitscheidplatz in Berlin-Charlottenburg etwas Schreckliches geschehen ist, das habe ich am Montagabend zuerst über eine Meldung des Polizeireporters der Berliner Zeitung, Andreas Kopietz, erfahren. Sein Profil auf Twitter ist das, das ich bei den wenigen Malen während der Abendstunden anklicke, in denen ich mich in den Strom der sozialen Medien einklinke. Ich kenne Kopietz vom Lesen, halte ihn für einen hervorragenden Polizeireporter mit besten Quellen. Letzteres findet in diesen Stunden seine Bestätigung: er meldet sich vergleichsweise selten zu Wort und wenn, dann immer sachlich, informativ, mit Verweis auf Quellen.
"Wir wissen nicht, was passiert ist"
Als andere die Ereignisse vom „#Breitscheidplatz“ schon in eine Reihe stellen mit „#Nizza #Istanbul #Orlando #Ankara #Tel Aviv #Maiduguri #Brüssel #Aleppo #Bagdad“, als der AfD-Politiker Markus Pretzell längst von „Merkels Toten“ und „verfluchter Heuchelei“ geschrieben hat, da teilt Kopietz mit: „Polizeisprecherin kann Anschlag nicht bestätigen und sagt: 'Wir wissen immer noch nicht, was passiert ist.'“ Es ist gut, dass es in diesen Zeiten, in den Affekte und Hysterie öffentlich stärker vernehmbar werden, in denen alle über „Fake News“ diskutieren, Nachrichtenjournalisten gibt, die sich nicht von der Konzentration auf die handwerklichen Grundlagen abbringen lassen.
Mir selbst gelingt es nicht vollends, mich ungeachtet einer unsicheren Nachrichtenlage nicht dem Affekt hinzugeben: mehr als sechs Stunden bevor die Polizei Berlin erstmals von einem „vermutlich terroristischen Anschlag“ schreibt, zitiert auf Twitter ein Bekannter die Worte des damaligen norwegischen Regierungschefs Jens Stoltenberg nach dem Anschlag auf der Insel Utoya 2011: „Die Antwort auf diese Angriffe muss mehr Demokratie, muss mehr Offenheit sein. Ansonsten haben die, die hinter diesen Angriffen stecken, ihre Ziele erreicht.“ Ich retweete das. Und mache den Retweet wenig später rückgängig, weil ich zu diesem Zeitpunkt weiter nicht weiß, ob es sich auf dem Breitscheidplatz um „Angriffe“ und damit um Vorsatz gehandelt hat.
Das wissen auch die insgesamt sechs weitab von Berlin lebenden Freunde und Angehörige nicht, die mich in den Stunden nach der Tragödie mit Fragen nach meiner Unversehrtheit kontaktiert. Ich kann nachvollziehen, dass man bei so vielen Meldungen von solch einem Ereignis zuerst an die denkt und sich um die sorgt, die mehr oder weniger nahe des Ortes dieses Ereignisses leben. „Alles gut. Locker bleiben“, habe ich ihnen geantwortet. Viele mögen die Worte "locker bleiben" für befremdlich halten angesichts des Schocks, den solch eine Tragödie mit sich bringt.
Doch was ich eben tatsächlich nicht nachvollziehen kann, wogegen sich eine gewisse Aversion regt, dass ist die Hysterie, das Hyperventilieren, der Affekt jenseits der persönlichen Betroffenheit, das Verstoßen gegen den Pressekodex. „Wie die Süchtigen“, sagt jemand morgens zu mir, um damit Journalistenkollegen zu beschreiben, denen keine Vermutung, keine Spekulation zu klein und zu ungesichert ist, um sie sogleich hinaus in die Welt zu posaunen, penetrant, im Fünf-Minuten-Takt.
Selbsterfüllende Prophezeiung
„Nächstes Jahr 20 Prozent für die AfD, das ist jetzt sicher“ – noch so eine Wendung, die mir mehrmals in den Stunden seit Montagabend begegnet ist und bei der ich nicht bestreiten kann, dass sie mir selbst in den Sinn gekommen ist. Aber genau dieses Denken läuft Gefahr, zu einer sich selbst erfüllen Prophezeiung zu werden. Am Dienstagvormittag dann, als erste Details über den von der Polizei festgenommenen Tatverdächtigen – 1993 geboren in Afghanistan oder Pakistan, als Asylsuchender eingereist, Gegenstand von Ermittlungen zum Tatbestand der sexuellen Belästigung – kolportiert werden, da retweete ich dann das Zitat Jens Stoltenbergs. Wenig später erscheint auf meinem Telefon die Eilmeldung, dass der Festgenommene den Lkw-Anschlag abstreitet.
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