Die Vertiefung der Abgründe

Essay Im Rückblick auf das Kinojahr ist ein Film untergegangen, der mehr über unsere Gesellschaft aussagt, als viele Kritiker wahrhaben wollten: Der niederländische Film „WIR“

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Ausschnitt aus dem Film „WIR“
Ausschnitt aus dem Film „WIR“

Foto: Meteor Filmverleih

Ein Film, so schön gefilmt, dass man den Sommer förmlich riechen kann. In einem belgisch-niederländischen Grenzdorf verbringen acht Teenager ihren letzten gemeinsamen Sommer. Sie werden die Schule bald verlassen. Das echte Leben steht vor der Tür. Noch ist es weit weg. Und so soll es auch bleiben. Diese viereckigen Gärten, mit ebenso viereckigen Häusern und langweiligen Menschen überall, die darin wohnen und in deren Gesichter man nicht schauen mag – es ist nicht zum Aushalten. Die Jugendlichen fahren auf ihren Fahrrädern (einer fährt Moped) über die Felder und überqueren eine Autobahnbrücke. Sie sind jung und schön. Der stetig dahinfließende Verkehr, dieser reißende Strom aus Blech ist in seiner lärmenden Monotonie der Ausdruck für das geordnete Leben, das man nicht führen möchte. Auf dieser Autobahnbrücke werden die Mädels ihre Röcke heben und ihr Geschlecht präsentieren. Später. Ein paar Grenzüberschreitungen später.

WIR ist das Spielfilmdebüt des niederländischen Regisseurs René Eller und die Adaption des Skandalromans von Elvis Peeters. Acht Jugendliche, vier Jungs und vier Mädchen – Thomas, Simon, Jens, Karl, Liesl, Ruth, Ena und Femke – beschließen, der bürgerlichen Enge zu entfliehen; indem Sie ihre Körper benutzen, sie zunächst erkunden und dabei schließlich immer mehr – so scheint es – Grenzen übertreten. Zunächst schläft jeder mit jedem – also die Männer mit allen Frauen. Die Jungs führen den Mädchen Gegenstände ein, die daraufhin raten müssen, um was (ein Feuerzeug?) oder um wessen Penis es sich handelt. Ein Bild, in welchem die männliche Dominanz deutlich wird.

Zunächst handelt es sich um pubertäre Spiele, die jedoch schon bald in der Idee münden, mit Pornos Geld zu verdienen. Damit setzt sich – belassen wir es zunächst bei dieser gängigen Beschreibung – eine Abwärtsspirale in Gang, die nicht mehr so einfach aufgehalten werden kann. Vom Porno-Dreh geht es in die (Zwangs-)Prostitition. Dazwischen, davor oder wann auch immer wird ein Hund auf dem Bahngleis festgebunden, ein tödlicher Unfall auf der Autobahn provoziert und schließlich stirbt eines der Mädchen bei einem Eiszapfen im Unterleib zuviel. Die Eltern sind abwesend, unwissend, hilflos. Der Bürgermeisterkandidat und weitere (oftmals einflussreiche) Männer nehmen die Dienste der minderjährigen Mädchen gerne an. Die Jungs ziehen derweil im Hintergrund die Fäden. Plötzlich hat man Geld – aber Geld kann man bekanntlich ja nie genug haben.

All diese unzuverlässigen Erzähler

Der Film beginnt im Gerichtssaal. Der Grund dafür bleibt lange unklar. Ein klassischer dramaturgischer Trick, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer_Innen zu erheischen. Wie sich später herausstellt, geht es um die Frage, wer Femke ermordet hat? Die Jungendlichen haben den Unfall vertuscht und schieben die Tat dem Bürgermeisterkandidaten in die Schuhe. Schließlich findet man am Körper der Toten auch dessen DNA, da er noch am Nachmittag des selben Tages mit ihr geschlafen hatte. Femke, die wunderschöne Femke, die alle begehrt haben und die den Neid der anderen Mädchen auf sich zog. Sie ist tot. Im Verlauf des Films passiert das einfach. Ein kurzer Moment der Trauer. Dann folgt die pragmatische Spurenbeseitigung. An der Dynamik der Geschichte ändert dieser tragische Unfall wenig. Es geht einfach munter weiter. Wobei man sich in keinem Moment sicher sein darf, was in den Erzählungen eigentlich der Wahrheit entspricht.

Alles kann eine Lüge sein. So lässt es die Struktur des Films zu. Vier Jugendliche der Gruppe erzählen unterschiedlichen Personen (Mutter, Freundin, Psychologe, Richter) die Geschichte aus ihrer Perspektive, die sich in immer neu ansetzenden Rückblenden auffächert und labyrinthisch wird. Nichts will sich hier zu einem Ganzen fügen. Zu sehr sind die Schilderungen mit dem Temperament der jeweiligen Figur durchsetzt: Der Tonfall, die eingeschlagenen Seitenwege und auch die Ästhetik der einzelnen Episoden unterscheiden sich. Die Lücken zu füllen, dazu sind die Zuschauer_Innen selbst aufgefordert.

So will beispielsweise Liesl die amoralische Künstlerin sein und wird immer wieder über die Ästhetik ihrer Kunst sprechen. Man spürt förmlich, wie sie sich in einen Nihilismus hineinsteigert, der überdecken soll, dass sie eigentlich nur anerkannt werden möchte. Thomas hingegen, der gewalttätige Anführer erzählt die erlogene Opfergeschichte vor Gericht, während die Bilder vom gesprochenen Wort hier abweichen und (s)eine männliche Gewalt zeigen: Da werden kleine Mädels aufgegabelt und in die Prostitution geschickt. Wenn die jungen Dinger nicht spuren, wird schonmal auf deren Körper uriniert. Aber auch hier schlummert unter der Oberfläche eine Abneigung gegen die eigene Herkunft, gegen das reiche Elternhaus und den snobistischen Bruder. Welcher Filmebene soll man hier eigentlich noch trauen? Passen das Innere und das Äußere noch zusammen?

Hier werden keine Grenzen überschritten

WIR wird in der Filmkritik als eine Geschichte der Grenzüberschreitung beschrieben. Angeblich handelt der Film von einer verkommenen Jugend, die einfach nicht mehr genug bekommt, der kein Kick mehr ausreicht. Eine Hölle aus Sex, Gewalt und Nihilismus. Böse, böse ist die Welt der Jugendlichen. Gut, gut, gut ist die Moral der Kinderstuben. Kinderlein habt eure Hormone im Griff.

Doch so einfach ist es nicht. Der Film ist komplexer, als es die meisten Kritiken darstellen. WIR handelt nämlich nur auf der Oberfläche von Grenzüberschreitungen. Im eigentlichen Sinne werden von den Jugendlichen keine Grenzen überschritten. Vielmehr werden die von der Gesellschaft sorgsam versteckten Abgründe der Menschen aufgetan und gespiegelt. Der Film, in seiner ganzen ästhetischen Form, ist der schonungslose Ausdruck eines männlichen, patriarchalen Abgrundes, der hinter und unter den bürgerlichen Fassaden schlummert und dem sich die Jugendlichen anschmiegen. Im Glauben, sie würden Grenze überschreiten und sich damit aus der geordneten Welt der Langeweile sprengen können, verstricken sich die Jugendlichen in einem gesellschaftlichen Sumpf – es wird nur explizit, was implizit bereits überall stattfindet, heimlich begehrt und getrieben wird.

Eine verführerische Ästhetik: Coming-of-Age

Die Lehrer, Politiker und Familienväter treiben es mit den jungen Mädchen. Natürlich in den Hinterzimmern. Das Geld zirkuliert auf diesem Schwarzmarkt der Körperflüssigkeiten. Unter der Oberfläche der Reinheit zirkuliert eine Gewalt – eine männliche, phallische Gewalt. Wenn die Jugendlichen ermahnt werden, dann von den Müttern. Die Grenze, die innerhalb dieser Gesellschaft gezogen wird, ist eine, die von den Frauen bevölkert wird, die ihre Körper durchläuft: Die Heilige und die Hure. Die saubere, brave Hausfrau auf der einen Seite. Die schmutzige, willige Hure auf der anderen. Getrennt werden diese Welten von der zwanghaften Illusion der bürgerlichen Werte. Die Männer jedoch sind, dürfen Weltenbummler sein.

Bereits der Titel deutet auf einen Riss zwischen den Geschlechtern hin. Es sind die Mädels, die hier die Röcke heben. Da mögen die beiden Erzählerinen Ruth und Liesl noch so sehr darauf pochen, dass sie die Macht der Verführung über die Männer genossen haben. Eine Grenzüberschreitung stellt die Entscheidung zu Pornographie und Prostitution nicht dar. Sie folgt einer kapitalistischen Logik, in der nur die Frauen als Ware verkauft und penetriert werden. In die Frauen wird eingedrungen. Sie erfahren das Zustoßen, das Abspritzen und Betatschen und es findet nur in eine Richtung statt. Die Jungs werden nicht berührt. Sie berühren. Alles bewegt sich innerhalb der hetero-normativen Ordnung, in welcher der Mann aktiv und die Frau passiv ist.

Zudem sind alle Jugendlichen das Produkt ihrer Umwelt, d.h. der gesellschaftlichen Realitäten, durch die sie sich bewegen. In einer Szene steht Thomas, der Strippenzieher (?) vor dem Spiegel und imaginiert sich in die Rolle des Machers. Schließlich küsst er sein Spiegelbild – eine narzisstische Geste der Bilderliebe. Denn der Spiegel ist immer bereits ein Screen, das Tor in eine Welt aus weiteren Bildern, die man sich aus dem Netz zieht.

Die Jugendlichen erfüllen nur abgründige Rollen, aber sie Überschreiten keine Grenzen. Sie sind vielmehr Parasiten, die sich mit dem gesellschaftlichen Virus infizieren – mit der Gier nach Geld, Macht und mehr Orgasmen. Sie glauben, die gesellschaftlichen, kapitalistischen Kräfte benutzen zu können. Dabei reproduzieren sie jedoch nur deren Machtstrukturen: Ihre Rebellion ist reinste Unterwerfung. Zunächst Selbstunterwerfung. Dann die Unterwerfung der Weiblichkeit – die schonungslose Entfesselung des Phallus.

Die subversive Form der Verführung

Regisseur René Eller hat seinen Film – Marcus Stiglegger hat es in einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur auf den Punkt gebracht – eine verführerische Ästhetik gegeben. Als hätte man die Darsteller aus einem Katalog des amerikanischen Fotografen Ryan McGinley ausgeschnitten, ist der Film in seinen hellen, sommerdurchtränkten Bilder der reinste Ausdruck eines jugendlichen Freiheitsdrangs. Alle Charaktere sind zu schön und die Frauen werden lasziv in Szene gesetzt. Die Coming-of-Age-Ästhetik kreuzt sich mit Bildern der Hochglanzpornografie. Es gibt Hardcoreszenen. Brüste, errigierte Penisse und gespreizte weibliche Schenkel. In ihren Erzählungen bemühen sich die zwei Mädchen Liesl und Ruth ein Gefühl von Freiheit auszudrücken, was sich in den Bildern einschreibt: Letztlich aigeren sie immer für ein männliches Auge.

Diese Form zieht die Zuschauer_Innen unweigerlich in den Film hinein, weil es die Form unserer Gesellschaft ist. So werden Körper definiert, dargestellt und ausgestellt. Alles ist zu Beginn von WIR herrlich vertraut. So wird Geschlecht konstruiert, in Werbung und Fernsehen. Gleichzeitig konfrontiert der Film mit einer kühlen Amoralität, die immer mehr zunimmt. Als die Jugendlichen realisieren, dass sie eine Massenkarambolage auf der Autobahn ausgelöst haben und für den Tod von Menschen verantwortlich sind, wird der kleinste Anflug von moralischem Zweifel mit dem Verweis auf Selbstverantwortung erstickt: Der Familienvater hätte eben nicht unter die Röcke der jungen Schülerinnen schauen dürfen – er ist seiner Verantwortung nicht gerecht geworden. Der Mann ist das Tier. Er wird nicht in Frage gestellt.

Die Sexualität der Frau aber, sie wird benutzt. Ebenso sind es im Film nur die Frauen, die verletzt werden, die zugerichtet, abgerichtet, denen ein Fötus aus dem Bauch geschlagen wird. Die Rede von der Grenzüberschreitung ist in diesem Fall eine konservative. Sie verkennt die bösartige, analytische Wucht dieses Films. Der Albtraum kommt aus der Gesellschaft selbst. Die Jugendlichen werden zum expliziten Ausdruck des konstituierenden Abgrunds, der sie fortan formt und deformiert. Der Exzess wird hier als das entlarvt, was er ist: ein konservativer Akt der Normerhaltung – fast wie Karneval, die strukturgebende Ausnahme von der Regel.

"WIR - Der Sommer als wir die Röcke hoben und die Welt gegen die Wand fuhr" ist auf DVD, Bluray und als Online-Stream erhältlich.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Sebastian Seidler

Schreibt über Kino, Kultur und Politik. Liebt düstere Musik, Filme, die einem etwas abfordern und liest zu wenig Romane - was aber auch egal ist.

Sebastian Seidler

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