Kritik der Authentizität

#Lügenpresse Hinter dem Zweifel an den Medien steckt ein Authentizitätswahn. Die Medien sollten diesem nicht nachkommen. Stattdessen brauchen wir mehr Komplexität und Haltung

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Superauthentischer Medienmacher (l.) interviewt Lügenkanzlerin
Superauthentischer Medienmacher (l.) interviewt Lügenkanzlerin

Foto: Steffen Kugler/Bundesregierung via Getty Images

Der Kampf gegen die zunehmende Radikalisierung, gegen die Verrohung des Umgangstons und damit gegen brennende Flüchtlingsunterkünfte, ist auch ein Kampf um den Wert und die Wirkung von Nachrichten und Bildern. Genau genommen also um deren Status. Nichts anderes bedeutet die Rede von der sogenannten Lügenpresse. Wenn nahezu der gesamte Medienapparat von einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe in Frage gestellt wird, verliert die demokratische Öffentlichkeit ihrer wichtigsten Mittel – Aufklärung, Aufdeckung, Investigation. Zum Thema Lügenpresse wurden unzählige Artikel geschrieben. Wie immer gibt es darunter bessere und schlechtere. Georg Seeßlen ist mit seinen tiefgründigen Analysen im Freitag und in der Jungle World in neue Tiefenschichten vorgestoßen. Eine der zentralen Aussagen: Nachrichten haben sich von der Wirklichkeit immer mehr entfernt, erschaffen vielmehr eigene Wirklichkeiten und dienen lediglich der Bestätigung und Konstruktion einer eigenen Weltsicht.

Die goldene Regeln: Komplexitätsreduktion und Emotionalität

Dies beginnt bereits mit den Kernelementen des heutigen Journalistenhandwerks – goldene Regeln vor allem für den Fernsehmacher: Ein Beitrag muss zugänglich sein und eine emotionale Geschichte erzählen. Am Ende wird der Inhalt einer vorgefertigten Dramaturgie untergeordnet, die zu immer gleichen Bilderfolgen führt. Man will schließlich, dass die Zuschauer nicht wegschalten. Werden die Dinge zu kompliziert, lassen sie sich nicht in Schwarz und Weiß einteilen, ist das mit der Weltbestätigung schon schwierig. Nicht umsonst haben sich die dritten Programme der regionalen Farbe verschrieben.

In Zeiten der algorithmischen Nachrichtenaufbereitung und der je nach Weltsicht zugeschnittenen Nachrichtenfeeds, potenziert sich dieses Problem der Abspaltung ins Unermessliche. Tendenzen gab es dazu schon immer. Der überzeugte Linke glaubte nur der Zeitung seines Vertrauens, wie der Konservative nicht jedes Schmierblatt in die Hände nahm. Für eine kritische und informierte Öffentlichkeit braucht es aber Pluralität. Diese gilt aber nicht nur für die Produzenten. Auch der Rezipient muss sich zum pluralen Leseverhalten zwingen. Sonst kippt man zurück in die Ideologie. In der digitalen Gegenwart haben sich die Stimmen multipliziert. Blogs, Foren und soziale Netzwerke, sie alle generieren Nachrichten. Mit diesen Nachrichten generieren sie eine neue Unübersichtlichkeit, eine Geschwindigkeit und als Gegenbewegung eine immer stärkere Abschottung bestimmter Gruppen: Komplexitätsreduktion.

Woher kommt dieser Zweifel?

Nachrichten brauchen Zeit und Reflexion, da sie sich sonst selbst überholen. Dann passiert das, was Georg Seeßlen als Hyperinformation bezeichnet: Die Nachricht richtet sich nicht mehr nach der Wirklichkeit, nach dem Widerstand des Realen - die Nachricht selbst ist das Ereignis. Man denke an die Nachricht von dem gestorbenen Lageso-Flüchtling oder an all die Opfer von Gewalt durch Flüchtlinge, die es niemals gegeben hat. All das ist in meinen Augen eine treffende Analyse der Gegenwart. Dennoch steht man immer noch vor einem Rätsel: Wann und wie hat das angefangen? Wann hat sich die Welt entwirklicht und warum haben wir das alles nicht gemerkt?

Die Wirkungsweise und die Funktion scheinen hinreichend beschrieben. Nun könnte man sagen, es liegt letztlich an der ideologischen Verblendung der AfD oder der Dummheit von Pegida-Demonstranten, die ihre nationale Eingrenzung in ihrem Medienkonsum medial vorwegnehmen: Da wollen einfach ein paar Bürger in ihrer heilen Welt nicht gestört werden. Diese Argumentation macht es sich zu leicht und verschiebt das Problem nur. Es ist eine Ahnung, dass eine Sehnsucht nach Authentizität und affektiver Nachricht ein wesentlicher Schlüssel sein könnte. Das Internet hat uns nicht nur eine Vervielfältigung der Stimmen gebracht, es hat in uns allen einen Wunsch nach Authentizität geweckt, auf die eine oder andere Form. Direkte, ungefilterte Kommunikation, horizontale Machtverhältnisse und eine Überwindung der klassischen Nachrichtenproduzenten: das Volk ergreift die direkte Demokratie. Diese naive Utopie hat sich auf eine seltsame Weise verwirklicht.

Direkte Kommunikation gilt als authentisch

Der Erfolg von Bloggern und Youtubern liegt genau darin: Da spricht einer von uns, hinter dem kein Sender, keine große Institution steht. Das ist natürlich nicht selten ein Irrglaube, aber dennoch: Die mediale Inszenierung der Unmittelbarkeit erzeugt nun mal verführende Authentizitätseffekte. Da sitzen echte Menschen, die von echten Problemen schreiben, ihren echten Gefühlen Ausdruck verleihen und die in der Welt stehen, nicht in der Redaktionsstube sitzen. Liveschalten und Liveticker haben eine ähnliche Wirkung. Live vor Ort zu sein, ganz nah dran am Geschehen, wie bei der Räumung des Stadions in Hannover, bringt zwar kaum Inhalte oder Information, aber ein Gefühl von Realität. Da passiert etwas, genau jetzt, während wir hier vor dem Fernseher sitzen. Ist das nicht auch eine Form von Authentizität? Hier vergeht Zeit, wir sind direkt vor Ort und ihr könnt uns bei der Arbeit zusehen.

Alle anderen Formen, der Kommentar, die Reportage – letztlich alles, was in irgendeiner Weise mit textlicher oder bildlicher Montage und mit Redaktionen zu tun hat – steht im Verdacht der Meinungsmache: Da vergeht soviel Zeit, vom Ereignis bis zum geschrieben Wort, dass das unmöglich ohne Manipulation von statten gehen kann. Das ist zumindest der Verdacht. Der als Objektivität getarnten Subjektivität setzt man radikale Subjektivität entgegen.

Ist das nicht ein seltsamer Widerspruch? Auch der authentische Youtuber gibt nur seine Meinung wieder. Dennoch wirkt das authentisch, weil der Ort des Sprechens ein anderer ist. Dieser mag nicht weniger inszeniert sein, aber eben auf eine andere Art und Weise: Authentisch eben, aus dem Bauch heraus. Die Lösung der etablierten Medien, insbesondere der öffentlich-rechtlichen Sender scheint eine inflationäre Verwendung des O-Tons zu sein. Wenn das Volk glaubt, wir wären zu weit von ihm entfernt, dann lassen wir eben das Volk zu Wort kommen – so die Losung. Es ist der Versuch, sich die verlorene Authentizität zurückzuholen: Am Ende produziert man Affektbilder, Affekttöne – Nachrichten aus dem Bauch heraus. Das unüberlegte Wort, das im Zorn geäußerte Fluchen, ist nicht einfach eine Einzelmeinung. Man kann sich darin einhaken, mit den eigenen Affekten. Insbesondere wenn der O-Ton nicht reflexiv eingeholt wird, keine Gegenposition bezogen wird, die Montage ausbleibt. Durch die mediale Rahmung wird dieses im Affekt gegebene Statement eines Augenzeugen zur authentischen Nachricht, zu einem Zeugnis und damit zur Wirklichkeit. Authentizität heißt direkt und aus dem Bauch heraus, ungefiltert, frei Schnauze.

Mit dieser Taktik erreichen die etablierten Medien das Gegenteil dessen, was sie eigentlich wollen. Doch die Sache ist noch viel schlimmer. Am Beispiel des Youtube-Kanals #Dreisechzich des WDRs zeigt, dass der Versuch den Vlog in das öffentlich-rechtliche System zu überführen letztlich nur schlechte Kopie wird: Man merkte, dass hier Authentizität hergestellt werden sollte und spürte, dass hinter den Gesichtern letztlich eine Redaktion stand. Nicht falsch verstehen. Ich fand das Experiment durchaus gelungen, denn eine Redaktion ist in Zeiten einer immer komplexer werdenden Welt notwendig. Die breite Masse fühlte sich aber nicht angesprochen. Für die Mehrheit sprach da immer noch das Establishment, versuchte sich der WDR nur hinter einem jüngeren Aussehen zu verstecken.Aber das ist gar nicht schlimm, denn man ist dem Konsumenten viel zu lang entgegengekommen und verliert, oh welch dialektische Wendung, immer mehr an Boden.

Haltung ist das Mittel

Überall ein menschelnder Zugang, eine emotionale Brücke und wenig Komplexität. Jeder Beitrag braucht eine Dramaturgie, muss gut gebaut werden, damit er sich verkauft, angeklickt wird, oder eine gute Quote bringt. Der Journalismus hat sich bisweilen selbst in eine unsägliche Abhängigkeit gebracht. Heute leben wir also in Zeiten des (Bauch)Gefühls, in der ein Misstrauen gegen die Arbeit der Journalisten alter Schule herrscht. Das Abwägen, Reflektieren und Recherchieren wird zum Auslaufmodell, zum Staatsfernsehen.

Wir müssen uns diesem Authentizitätswahn erwehren, indem wir die Haltung, die Reflexion, den Bericht und den Diskurs dagegenhalten und nicht aufhören die Authentizität als das zu entlarven, was sie letztlich immer sein wird: eine Inszenierung, ein mediales Konstrukt. Der Leser und der Zuschauer sind keine Konsumenten, die Ansprüche stellen können. Der einzige Anspruch, den es zu erfüllen gilt, ist der Anspruch die Probleme, Ereignisse und Diskurse – die Wirklichkeit – so angemessen wie möglich wiederzugeben. Ob diese Wirklichkeit den Wutbürgern passt oder nicht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Sebastian Seidler

Schreibt über Kino, Kultur und Politik. Liebt düstere Musik, Filme, die einem etwas abfordern und liest zu wenig Romane - was aber auch egal ist.

Sebastian Seidler

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