Von Politik und Tatsachen

Theorie Die These vom Siegeszug der "postfaktischen Politik" ist ein beliebter Erklärungsansatz für Trump, Brexit und Co. Doch das ignoriert tieferliegende Probleme

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Von Politik und Tatsachen

Foto: Jessica Kourkounis/Getty Images

„Die Wahrheit ist die Krücke der Verlierer.“ So lautet die griffige Überschrift von Thomas Assheuers Artikel in der Zeit vom 29. September, mit dem eine weitere Stimme in den Chor derer einstimmt, die glauben, mit dem Begriff des Postfaktischen ließe sich das Phänomen Trump, ließen sich AfD und Pegida - ach der ganze schnöde Populismus erklären. Egal was diese politischen Akteure für einen Unsinn von sich geben, es scheint dem Erfolg nicht zu schaden (was nach dem jüngsten Skandal von Trump abzuwarten bleibt).

Zahlen haben keine Emotionen, im Gegensatz zur Rede.

Wenn Trump behauptet, der Klimawandel sei eine Erfindung Chinas, um den Westen zu schwächen, dann stellt er damit die Forschung renommierter Wissenschaftler in Frage. Zieht man deren Daten heran, zucken Trumps Anhänger nur mit den Schultern. Ein alter Kalenderspruch ist zur Formel dieser seltsamen Rationalität geworden: Glaube nur der Statistik, die du selbst gefälscht hast. Ähnliches gilt für all die besorgten Bürger, die gegen Flüchtlingsunterkünfte sind, weil sie besonders den sexuellen Trieb der männlichen, oftmals unbegleiteten Flüchtlinge fürchten, die den Anblick einer blonden Frau als Einladung zur Vergewaltigung verstehen: Die Tiere kommen in unser Land - Bernd Höckes rhetorisches Schnurren ist finsterste Märchenstunde. Doch ein Verweis auf die Kriminalitätsstatistik, auf die vermeintlichen Tatsachen hilft auch hier nicht weiter. Zahlen haben keine Emotionen, im Gegensatz zur Rede. Sie prallen ab an der Sehnsucht nach dem einem kohärenten Narrativ, endlich wieder Deutsch sein zu dürfen. All das ist wahrlich eine postfaktische Bleiwüste. Die Fakten zählen nicht mehr. Der Diskurs hat sich abgekoppelt von der Wirklichkeit. So zumindest das postfaktische Narrativ. Vorbei sind die Zeiten der guten alten Politik, die immer in Referenz auf die Wirklichkeit agiert hat oder zumindest die Fakten letzten Endes immer für eine Erdung gesorgt haben, wenn die Rede allzu weit abgehoben ist. Alles was heute noch zählt ist die Show, die Performance, sind die Gefühle. Der Verwirklichungseffekt, die performative Kraft der Aussagen, Gesten und Bilder, schaffen Identität, die all denen, die keinen Halt mehr in dieser beschleunigten Welt finden, mit einem Fundament ausstatten: weiß, männlich, heterosexuell, usw. Sie können hier einsetzen was sie wollen. Letztlich geht es nicht um den Inhalt, sondern um das Spektakel, das zur Form gerinnt, in die dann sichernder Zement gegossen werden kann. Durchaus problematisch.

Fakten und Interpretationen sind immer Teil des Ganzen.

Der These von der postfaktischen Ära wohnt aber auch eine Sehnsucht nach verlorener Sicherheit inne, eine Sehnsucht nach der guten alten Zeit, in der die Fakten noch einen Wert besaßen. Das Schreckensgespenst des Populismus, es wäre dann gebannt, wenn wir uns nur wieder auf Fakten berufen würden. So einfach, so verklärend. Denn nicht nur ist die Umkehrung, dieser Blick zurück, hoffnungslos nostalgisch. Es besteht die Gefahr ein wesentliches Strukturmoment von Politik und Öffentlichkeit zu verdecken: Fakten und Interpretationen sind immer bereits Teil des Ganzen. Wenn man so will, sind Tatsache und Postfaktisches immer schon ineinander gedreht. Denn es muss nicht gleich die Trump’sche Lüge sein, also jene politische Äußerung, die sich gar nicht mehr um die Tatsache schert, sich einfach erfindet, um ein Ziel zu erreichen. Es genügt bereits eine radikale Schlussfolgerung, eine gewagte Interpretation der Fakten und die Grenze zum Postfaktischen wird schwer zu ziehen. Wann entfernt sich die Interpretation soweit von der Tatsache, dass diese einfach verschwindet? Bewegen wir uns nicht immer schon in diesem postfaktischen Raum, also nach den Tatsachen, wenn wir durch unseren Bezug auf die Welt, der immer schon Interpretation ist, die Tatsachen zum Schwingen bringen? Bevor man all diese Fragen sinnvoll beantworten kann, muss man den Tatsachen auf den Grund gehen.

Der Ruf nach den Tatsachen und Fakten wurde bereits in der unsäglichen Lügenpressedebatte laut. Über Wochen skandierten sich die Wutbürger und Besserwisser in Rage: Fakten, Fakten, nichts als die Fakten. Wagte der Journalist einen Kommentar, bot er eine Deutung an, die möglicherweise auch noch der jeweiligen Weltsicht widersprach, dann pochte der Mob auf Objektivität: Medien sind dazu da, über das zu berichten, was passiert – also über Fakten. Aber was ist eigentlich eine Tatsache?

Die Sprache ist niemals neutral.

Eine der Standartdefinitionen lautet, dass eine Tatsache eben das sei, was wirklich passiert oder passiert ist. Klingt plausibel, sagt aber rein gar nichts aus. Es handelt sich um eine Tautologie. Eine leere Aussagen, da die Definition nur das Wort Tatsache durch einen Satz ersetzt. Daraus ergibt sich auch, dass die Frage nicht an ihr Ende kommt, sondern erneut ansetzt: Was ist das, was wirklich passiert ist? Wir drehen uns im Kreis, wenn wir uns im Abstrakten bewegen. Daher lenken wir doch einfach den Blick auf eine Tatsache der Gegenwart. Seit einiger Zeit verlassen eine große Anzahl von Menschen ihre Heimat und kommen nach Deutschland. Jeder von uns kennt die Bilder. Darauf können wir uns einigen – es handelt sich um eine Tatsache. Politische Konsequenzen können daraus aber wohl kaum gezogen werden. Dazu bedarf es einer Bewertung, einer Interpretation. Diese beginnt bereits bei der Wortwahl, wenn wir die Tatsache kommunizieren, darüber sprechen oder schreiben. Es macht einen großen Unterschied, ob wir bei der Beschreibung dieser Tatsache von einem Flüchtlingsstrom, einer Flüchtlingskrise oder eine humanitäre Katastrophe sprechen. Die Sprache ist niemals neutral. Bereits an dieser Stelle gibt es keine nackte Tatsache mehr. Eine Tatsache, so könnte die Definition lautet, das ist eine Aufforderung Stellung zu beziehen. Das Finden dieser Stellung ist Politik und Politik erschöpft sich nicht in der bloßen Nennung von Fakten. Sie ist ein Prozess von Interpretation, Narration und Sinnstiftung. Vor allem weil die wichtigsten Begriffe des politischen Raumes – Freiheit, Gleichheit oder Gerechtigkeit – eben keine Tatsachen sind. Sie sind nicht gegeben. Freiheit steht nicht dort draußen herum. Freiheit weidet nicht auf einer Wiese und kein Mensch trägt sie vor sich her. Sie ist ein Streitfall, abhängig von Interpretation und Argumenten. Sagen wir es nochmal deutlich, damit es zu keinem Missverständnis kommt: Es gibt es Fakten. Wenn ich mir den Fuß breche. Wenn jemand seine Tasse fallen lässt. Daran kann man nicht rütteln oder anders gesagt, daran kann man eben meist doch rütteln. Politik kann man damit aber nur in den seltensten Fällen machen.

Es fehlt eine Zukunft, ein Narrativ für die Zukunft.

Diesen strukturellen Aspekt von Politik einfach zu unterschlagen ist fahrlässig, weil dem Bürger das Bild einer reinen Politik verkauft wird, die sich eben an der Welt reibt und lediglich mit Tatsachen hantiert. So einfach ist es aber nicht. Vielleicht ist es auch weniger der fehlende Bezug auf Fakten, der ein wirklich Problem darstellt. Vielleicht sind all die Trumps, Johnsons und Petrys dieser Welt nur ein Symptom einer ganz anderen Krise, von der man nicht so gerne spricht – eine Krise der Imagination. Es fehlt eine Zukunft, ein Narrativ für die Zukunft, von der aus die Gegenwart in einem anderen Licht erscheint. Aber diese gilt als unvorstellbar. So lange aber der Neoliberalismus das Maß aller Dinge bleibt, so lange prekäre Lebenswirklichkeiten den Alltag so vieler Menschen erschweren und so lange der einzige Ausweg der Herrschenden darin besteht, von den Krise durch induzierte Wut auf das Andere abzulenken – so lange werden die postfaktischen Narrative die Menschen verführen. Yanis Varoufakis hat es immer wieder betont: Wenn die Politik so weitermacht, keine neuen Perspektiven bietet, werden die Menschen in die Hände rechter Rattenfänger getrieben. Genau das ist es, was gerade passiert.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Sebastian Seidler

Schreibt über Kino, Kultur und Politik. Liebt düstere Musik, Filme, die einem etwas abfordern und liest zu wenig Romane - was aber auch egal ist.

Sebastian Seidler

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