Wolfwerden

#Kino Nicolette Krebitz erzählt in ihrem neuen fulminanten Film WILD unverkopft-körperlich über das weibliche Begehren. Darüber sollte man sich schon einen Kopf machen.

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Dieser Film atmet Gilles Deleuze, den Denker des Werdens. Tier-Werden. Frau-Werden: Wenn der Körper von einer Intensität durchfahren wird, wenn er sich aufbäumt und die klaren Linien der Ordnung ununterscheidbar werden, sich überkreuzen, verschieben, das gesellschaftliche Raster nicht mehr greift. Es ist ein Ereignis eingetreten und danach wird nichts mehr so sein, wie es davor war. Vorher und nachher werden nicht mehr zusammenpassen, denn von nun an wird man ein anderer sein: Ich ist ein Anderer.

Ania, die Protagonistin dieses Films, ist ein Anderer. Der Welt und sich selbst. Die Trostlosigkeit der Umgebung ist ihr ins Gesicht geschrieben. Hochhaussiedlung, banaler Job und keine wirkliche Nähe zu den Menschen um sich herum. Auf dem Weg zur Arbeit steht plötzlich dieser Wolf am Rand eines kleinen Wäldchens. Dann beginnt eine Geschichte des Werdens, die man eigentlich gar nicht wirklich zusammenfassen kann. Sie ist sozusagen wild. Die Liebe einer Frau zu einem Wolf, der Ausbruch aus den Normen. Wer nun denkt, dies klinge nach wenig Handlung, unterschätzt die visionäre Kraft von Nicolette Krebitz.

WILD unterwandert und wuchert

WILD handelt von den wirren Linien der Sexualität, von Begehren, vom Einbruch der Natur in das Soziale – wobei man fragen muss, ob der Sex nicht bereits immer schon die Ordnung stört, weil er uns zu Tieren werden lässt, uns aus der Vernunft heraushebt und uns den Körpern überlässt. Kein Ich im Sex, nirgendwo. WILD handelt von weiblicher und männlicher Sexualität, von der scheinbaren Ordnung, in der diese Binarität als gesichert gilt. Aber WILD handelt auch von der Liebe, von Einsamkeit und der Sehnsucht nach Wildheit, nach Ausbruch und der Suche nach einer Heimat in der Entgrenzung. Dafür erfindet der Film Bilder und Allegorien des Dazwischen.

Die Form des Films lässt dabei nicht klar einordnen. Das Ambivalente, Doppeldeutige und Phantastische bricht durch die Formsprache hindurch, durch das Genregerüst. Wenn man so will, ist WILD ein Liebesfilm, ein Märchen für Erwachsene, ein klein bisschen Horrorfilm (Werwölfe!). Ein bisweilen kompromissloses, feministisches Drama über Sexualität und Lust, Freiheit und Domestizierung des Weiblichen, ohne dabei – und das ist ein Wunder – intellektuell unterkühlt zu sein. Trotz der ruhigen Bilder ist da eine körperliche Rohheit, was nicht nur am Spiel der beiden Hauptdarsteller liegt. Es pulsiert auch die Dramaturgie, die ihre Energie aus den Subtexten zieht, die sie aufruft. Alles ist seltsam an diesem Film, alles ist seltsam gut und genau deshalb weiß man nicht, was in der nächsten Sekunde passieren wird. Endlich ist da die Möglichkeit der Überraschung- Das Kino versprüht wieder einen Zauber und entfernt sich vom Wort, um wieder näher bei der Körperlichkeit der Bilder zu sein.

Bereits in den ersten Minuten spürt der Zuschauer, dass mit dieser jungen Frau etwas nicht stimmt. Keineswegs wird dabei eine klassische Exposition ausgebreitet. Die Bilder dürfen sprechen, die Körper: Das verhuscht-verletzliche Spiel von Lilith Stangenberg ist lyrisch. Es gibt keine Gründe und keine Psychologie. Es gibt Hinweise, sicher – der kranke Großvater, die Absenz der Eltern, immer wieder die Einsamkeit. Ja, da ist ein einsamer Mensch, isoliert und eingesperrt. Aber es gibt da nur dieses Jetzt und in dieses Jetzt werden auch wir eingesperrt: Die Innerlichkeit ist Äußerlichkeit. Jetzt und Jetzt und Jetzt.

Dann das Ereignis: Der Wolf am Waldesrand der Siedlung. Von da an wächst der Wahn, der Liebeswahn: das Wolfwerden hat begonnen. Das ist Liebe, denn diese bedeutet immer, dass wir ein anderer werden, ein Spiel aus Unterwerfung und sich unterwerfen. Wie wir den anderen, den geliebten einfangen wollen, so soll hier der Wolf einfangen werden. Doch der Wolf steht nicht nur für die Liebe, das gefährliche Objekt der Begierde. Die Mauern der Ordnung werden alsbald eingerissen. Doch nochmal langsam …

… wie geht das zusammen? Liebesgeschichte und Wolf?

Der Wolf ist bedrohlich. Er ist interessant. Er ist das Versprechen des Ungebändigten. In der fadenscheinigen Ordnung der Geschlechter, ist der Wolf das Männliche, der Jäger – die Frau ist die Beute. Deutlich wird diese Figur auch durch die sich abzeichnende Parallele zwischen Boris und dem Wolf hervorgehoben. Diese großartige, einzelgängerische Aufgekratztheit, die Georg Friedrich hier ausspielt, als hätte er noch nie etwas anderes gemacht. Sie erdet einerseits das Phantastische und vertieft es gleichzeitig. Diese atemberaubende Szene in der Gasse bei Nacht: Ania verfolgt Boris. Nun ist sie der Jäger. Er hat sie schon längst bemerkt und kommt ihr bedrohlich nahe. Was ist da zu hören? Ein Knurren? Ohne dass es deutlich werden würde, verschiebt sich der Film in das Horrorgenre, eher spurenelementar. Das Wolfwerden des Mannes. Sie wehrt sich, entzieht sich und nimmt Boris die Geldbörse ab. Das Geld, die Potenz, die sexuelle Spannung – all das ist dahin. Eine symbolische Kastration.

Wer ist hier der Werwolf? Der Mann? Die Frau? Der böse Wolf oder Gretchen?

Bereits bei Rotkäppchen handelt es sich ja nicht um eine harmlose Kindergeschichte. Der Wolf und das Mädchen – der Mann und die Sexualität. Die Geilheit verwandelt den Mann in ein Biest – aber als ob es so einfach wäre. Die Sexualität verschiebt die Eindeutigkeiten und daher gibt es auch nichts schwierigeres, kein Terrain, dass weniger vermint ist, als über Sex zu sprechen. Trotz aller pornographischer Bilder tun wird das ja nicht, verlassen wir das geschützte Terrain des Erlaubten nicht, des scheinbar bloß materiellen, körperlichen. Noch zugespitzter: Besonders der Frau wird nicht erlaubt, immer noch nicht, WILD zu sein.

Eigentlich ist die Verkörperlichung der Sexualität in den Medien eher eine Entkörperlichung. Was zählt ist nur das Glatte, das Klinische, die rasiert, saubere Frau. WILD löst das ein, was Feuchtgebiete sein wollte: Das Begehren der Frau ist nicht zahm, lässt sich nicht domestizieren. Da wird durchaus auch mal der Wolf begehrt, da will gebissen werden, auch mal gewürgt, weil die Frau auch etwas Wölfisches hat, ein Tier ist – ein Tier wird.

Wer glaubt der Wolf ist nur männlich, der irrt.

Der Wolf ist auch weiblich. Der Wolf ist der Sex, das Begehren, die Lust. Sagen wir es deutlicher: Das Thema von Wild ist das animalische, das a-soziale. Was ist, wenn man nicht so richtig dazugehört. Als Frau gehört man nicht so wirklich dazu, wenn man WILD ist. Das darf nur die Hure. Die ist aber schon immer dieser Zwischenwelt gefangen, im subsozialen oder inter-sozialen Raum gefangen, domestiziert im Rotlicht. Der Zoo der Menschen, das ist das Bordell: Mit all den Spiegeln und den Gerätschaften. Die Hure der Wolf, der/die aus der Natur gerissen und in einen Käfig gesperrt wird.

Als Boris und sie miteinander schlafen und er - nahezu kindlich - zu früh kommt, wird er zum Beschützer: Er will sie nicht schwängern. Sie will weiter ficken. Am Ende kommt es nicht dazu. Und in einem Akt der Tierwerdung kackt sie auf den Schreibtisch. Das ist Punk. Das ist Rebellion. Der Wolf verändert die Welt. Er ist der wahre Liebhaber und der Beschützer, weil er sich nicht unter dem Schafspelz versteckt und weil man sich bei ihm auch nicht mehr unter dem Schafspelz verstecken muss. Hinaus in die Welt. Schweigsam und doch solidarisch. Roh. Wild. Das ist Kino. Das ist weiblich or … whatever. Das ist Sinnlichkeit

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Sebastian Seidler

Schreibt über Kino, Kultur und Politik. Liebt düstere Musik, Filme, die einem etwas abfordern und liest zu wenig Romane - was aber auch egal ist.

Sebastian Seidler

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