Auf der Suche nach einer neuen Zivilisation

Rezension Mit dem Ende des real-existierenden Sozialismus schien die kommunistische Idee erledigt zu sein. Doch das Gespenst kommt nicht zur Ruhe. Eine neue Debatte hat begonnen

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Ein Revival der kommunistischen Idee?
Ein Revival der kommunistischen Idee?

Foto: THOMAS WIECK/AFP/Getty Images

«Ein Gespenst geht um in Europa»: So beginnt bekanntlich das von Karl Marx und Friedrich Engels 1848 veröffentlichte Manifest der Kommunistischen Partei. Weil dieser Kommunismus zu jenem Zeitpunkt nicht viel mehr als die Keimform einer künftigen Bewegung darstellte, wollten die beiden jungen Revolutionäre «dem Märchen vom Gespenst des Kommunismus ein Manifest der Partei selbst entgegenstellen».[1] Heute blicken wir auf eine Geschichte zurück, die in vielfältiger Weise von kommunistischen Gedanken geprägt (manche meinen: vor allem verunstaltet) worden ist. Diese Geschichte ist keineswegs abgeschlossen, denn da und dort wird aufs Neue die Aktualität des Kommunismus behauptet, eingeklagt, beschworen – und dies trotz der Spuren von Ausbeutung, Gewalt und Unterdrückung, die mit diesem Namen verbunden sind.

Ein genauerer Blick zeigt, dass die Menschheitsgeschichte von Anfang an Elemente des «Kommunistischen», also des Gemeinschaftlichen in Produktion und Reproduktion des Lebens, in sich getragen hat. Grosses Gewicht erhielt diese Einsicht durch die Untersuchung von egalitären «Urgesellschaften» im 19. Jahrhundert. Ein Name darf hier nicht fehlen: jener des US-amerikanischen Anthropologen Lewis H. Morgan. Auf ihn bezogen sich Marx und Engels: Die Gesellschaft der Zukunft werde eine «Wiederbelebung», aber «in höherer Form», der alten Stammeskulturen sein. So wäre die Geschichte von Klassengesellschaften also bloss eine «Durchgangsstufe, in der die materiellen wie geistigen Bedingungen der freien Entwicklung der Individuen erzeugt werden», schreibt der Sozialphilosoph Michael Brie in einem unlängst erschienenen Buch über Das Kommunistische, einer Veröffentlichung der der Partei Die Linke nahestehenden Rosa-Luxemburg-Stiftung (Zitat Seite 20).

Utopie und Alltag

Schon seit längerem steht die Frage im Raum, ob wir in dieser Stufe des Durchgangs stecken bleiben und der Kapitalismus tatsächlich das Ende der menschlichen Geschichte markieren wird. Deshalb ist es sehr verdienstvoll, die Entwicklung kommunistischer Gedanken und einer darauf basierenden gesellschaftlichen Praxis Revue passieren zu lassen, um mögliche Perspektiven zu entwickeln und auf das in der Geschichte noch Unabgegoltene hinzuweisen. Ausserdem gilt: «Wer vom Kapitalismus spricht, kann vom Kommunismus als dessen entschiedenem Widerpart nicht schweigen», heisst es im Vorwort des Politökonomen Lutz Brangsch und von Michael Brie (S. 9).

Die ersten acht Kapitel des Buches führen im Zeitraffertempo vom «Urkommunismus» bis zur «Tragödie des Parteikommunismus». Aus der Geschichte des Kommunistischen im 19., teilweise auch im 20. Jahrhundert wird deutlich, dass es nicht nur um Parteidoktrin ging, sondern um dessen «massenhafte Verankerung […] im alltäglichen Leben», als gelebte Demokratie und Solidarität (S. 74). Der utopische Gehalt des Kommunistischen scheint Brangsch im sozialdemokratischen Vereinsleben des ausgehenden 19. Jahrhundert auf. Er kommt zum bemerkenswerten Schluss: «Die SPD der 1890er Jahre war eine kommunistische Partei, die modernste vielleicht, die es je gegeben hat» (ebd.).

Bürokratie als Bremse

Weshalb konnte sich dieses Kommunistische nicht durchsetzen und wurde die SPD zur entscheidenden Stütze des deutschen Kaiserreiches im Jahr 1914? Eine schwierige Frage, die in wenigen Sätzen nicht zu beantworten ist. Auf jeden Fall scheiterte der «kritische deutsche Kommunismus», wie Brangsch ihn nennt. Die Mehrheits-SPD trennte sich ganz entschieden von ihren eigenen Wurzeln und die KPD wurde «zu einer bolschewistisch-kommunistischen Organisation», die diese Tradition «nur halbherzig aufgriff und weitgehend verleugnete» (S. 80). Hätte die Partei einen weniger Moskau-hörigen Weg verfolgt, wenn Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht nicht 1919 ermordet worden wären?

Der kommunistische Aufbruch in Sowjet-Russland bewegte sich auf einer schmalen sozialen Basis und musste sich gegen die Feinde der Revolution sowie auf dem kapitalistischen Weltmarkt behaupten. Der Apparat, der geschaffen wurde, um den kommunistischen Aufbau zu organisieren, erwies sich «letztendlich als Bremse der Umgestaltung», hält Brangsch fest (S. 108). Es kam hinzu, dass beispielsweise die Bauern «vor allem als Objekt der Umgestaltung gesehen [wurden], nicht als Moment dieser Umgestaltung selbst» (S. 104). Die forcierte Industrialisierung der Landwirtschaft führte zudem «zu einer Entfremdung des Bauern von der Natur und den spezifischen landwirtschaftlichen Kreisläufen» (S. 105) – ein Punkt, der nicht zuletzt auch in der Kritik Mao Zedongs am sowjetischen Entwicklungsweg eine Rolle spielte.

Gleichheit und Freiheit

Michael Brie rechnet mit dem Leninismus ab, wenn er schreibt: «Er verwandelte die Einzelnen in ‹Werkzeuge› der kommunistischen Sache, ja, die Kommunisten selbst formten sich um in blosse Mittel der Politik bis hin zur Selbstvernichtung. Dies ist die Ursünde des Leninismus in der Geschichte der Linken» (S. 127). Das, was von Lenin als diktatorisches Mittel zur Durchsetzung solidarisch-emanzipatorischer Ziele gedacht worden war, entwickelte sich im Stalinismus zum reinen Selbstzweck mit mörderischen Folgen. Und was ist mit China, Mao Zedong und der Kulturrevolution? Darüber lässt sich das Buch nicht aus. Eigentlich schade, denn genau 50 Jahre nach Beginn der «Grossen Proletarischen Kulturrevolution» wäre es an der Zeit, eine linke Debatte darüber zu führen.

Nun also ein Revival der kommunistischen Idee? Michael Brie zitiert den französischen Philosophen Alain Badiou: «Ich weiss sehr wohl, dass der Stalinismus den Kommunismus getötet hat, aber ich denke, dass er wieder erwachen kann.» Brie zeichnet in seinem Beitrag verschiedenen Facetten der neuen Kommunismus-Debatte nach und verweist dabei auf Schwach- wie Leerstellen. An Badiou kritisiert er beispielsweise dessen fehlende Thematisierung eines Mangels an «lebbarer Individualität» unter den Bedingungen des Kapitalismus. Er folgert: «wer nur die Gleichheit anruft und nicht auch die Freiheit, bereitet neuer Knechtschaft den Boden» (S. 204).

Erinnerung an Bahro

«In der heutigen Kommunismusdiskussion ist ein Name vergessen und dies völlig zu Unrecht – der von Rudolf Bahro (1935-1997).» Bei ihm gehe es um «eine neue Zivilisation, die ein grundsätzlich anderes Verhältnis der Menschen zu sich selbst (ihrer eigenen Natur), zueinander und zur äusseren Natur begründet». Ohne die Rezeption seines Werkes «bleibt die heutige europäische Diskussion zum Kommunismus weit unter ihren Möglichkeiten», stellt Michael Brie fest. Diese Bemerkung freut mich als Co-Autor der Biografie von Rudolf Bahro natürlich ganz besonders.[2] Bahros 20. Todestag im Dezember 2017 könnte Anlass sein, sein Erbe aufzunehmen und für die aktuelle Auseinandersetzung fruchtbar zu machen.

Nicht alle Aspekte des Buches können in dieser Besprechung gebührend berücksichtigt werden. So müsste die Frage der «Commons», der Gemeingüter, und damit zusammenhängend die Kritik des bürgerlichen Eigentumsbegriffs, genauer unter die Lupe genommen werden. Die Publizistin Friederike Habermann steuert mit ihrem Text «Über das Kommunistische im Commonismus» einen Beitrag dazu ein. Auch die Bedeutung der Geschlechterfrage darf in einer hauptsächlich maskulin geprägten Geschichte des Kommunismus nicht ausser Acht gelassen werden. Darüber schreibt Bini Adamczak in ihrem Beitrag «Die Versammlung. Kommunismen 1917 – 1968 – 2017». Es gibt also viele gute Gründe, das Buch in die Hand zu nehmen – und das Beste ist: Man kann es sogar kostenlos herunterladen!

[1] Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, in: dies.: Ausgewählte Schriften in zwei Bänden. Band I. Berlin (Dietz Verlag) 1968, S. 17 – 57; Zitate S. 25.

[2] Guntolf Herzberg, Kurt Seifert: Rudolf Bahro – Glaube an das Veränderbare. Eine Biographie. Berlin (Ch. Links Verlag) 2002 (Taschenbuchausgabe: Berlin [Aufbau Taschenbuch Verlag] 2005).

Lutz Brangsch, Michael Brie (Hrsg.): Das Kommunistische. Oder: Ein Gespenst kommt nicht zur Ruhe. Mit Beiträgen von Bini Adamczak, Friederike Habermann und Massimo De Angelis. Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Hamburg (VSA Verlag) 2016, 272 Seiten. (Das Buch kann auch heruntergeladen werden unter: www.vsa-verlag.de.)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden