«Ein Gespenst geht um in Europa»: So beginnt bekanntlich das von Karl Marx und Friedrich Engels 1848 veröffentlichte Manifest der Kommunistischen Partei. Weil dieser Kommunismus zu jenem Zeitpunkt nicht viel mehr als die Keimform einer künftigen Bewegung darstellte, wollten die beiden jungen Revolutionäre «dem Märchen vom Gespenst des Kommunismus ein Manifest der Partei selbst entgegenstellen».[1] Heute blicken wir auf eine Geschichte zurück, die in vielfältiger Weise von kommunistischen Gedanken geprägt (manche meinen: vor allem verunstaltet) worden ist. Diese Geschichte ist keineswegs abgeschlossen, denn da und dort wird aufs Neue die Aktualität des Kommunismus behauptet, eingeklagt, beschworen – und dies trotz der Spuren von Ausbeutung, Gewalt und Unterdrückung, die mit diesem Namen verbunden sind.
Ein genauerer Blick zeigt, dass die Menschheitsgeschichte von Anfang an Elemente des «Kommunistischen», also des Gemeinschaftlichen in Produktion und Reproduktion des Lebens, in sich getragen hat. Grosses Gewicht erhielt diese Einsicht durch die Untersuchung von egalitären «Urgesellschaften» im 19. Jahrhundert. Ein Name darf hier nicht fehlen: jener des US-amerikanischen Anthropologen Lewis H. Morgan. Auf ihn bezogen sich Marx und Engels: Die Gesellschaft der Zukunft werde eine «Wiederbelebung», aber «in höherer Form», der alten Stammeskulturen sein. So wäre die Geschichte von Klassengesellschaften also bloss eine «Durchgangsstufe, in der die materiellen wie geistigen Bedingungen der freien Entwicklung der Individuen erzeugt werden», schreibt der Sozialphilosoph Michael Brie in einem unlängst erschienenen Buch über Das Kommunistische, einer Veröffentlichung der der Partei Die Linke nahestehenden Rosa-Luxemburg-Stiftung (Zitat Seite 20).
Utopie und Alltag
Schon seit längerem steht die Frage im Raum, ob wir in dieser Stufe des Durchgangs stecken bleiben und der Kapitalismus tatsächlich das Ende der menschlichen Geschichte markieren wird. Deshalb ist es sehr verdienstvoll, die Entwicklung kommunistischer Gedanken und einer darauf basierenden gesellschaftlichen Praxis Revue passieren zu lassen, um mögliche Perspektiven zu entwickeln und auf das in der Geschichte noch Unabgegoltene hinzuweisen. Ausserdem gilt: «Wer vom Kapitalismus spricht, kann vom Kommunismus als dessen entschiedenem Widerpart nicht schweigen», heisst es im Vorwort des Politökonomen Lutz Brangsch und von Michael Brie (S. 9).
Die ersten acht Kapitel des Buches führen im Zeitraffertempo vom «Urkommunismus» bis zur «Tragödie des Parteikommunismus». Aus der Geschichte des Kommunistischen im 19., teilweise auch im 20. Jahrhundert wird deutlich, dass es nicht nur um Parteidoktrin ging, sondern um dessen «massenhafte Verankerung […] im alltäglichen Leben», als gelebte Demokratie und Solidarität (S. 74). Der utopische Gehalt des Kommunistischen scheint Brangsch im sozialdemokratischen Vereinsleben des ausgehenden 19. Jahrhundert auf. Er kommt zum bemerkenswerten Schluss: «Die SPD der 1890er Jahre war eine kommunistische Partei, die modernste vielleicht, die es je gegeben hat» (ebd.).
Bürokratie als Bremse
Weshalb konnte sich dieses Kommunistische nicht durchsetzen und wurde die SPD zur entscheidenden Stütze des deutschen Kaiserreiches im Jahr 1914? Eine schwierige Frage, die in wenigen Sätzen nicht zu beantworten ist. Auf jeden Fall scheiterte der «kritische deutsche Kommunismus», wie Brangsch ihn nennt. Die Mehrheits-SPD trennte sich ganz entschieden von ihren eigenen Wurzeln und die KPD wurde «zu einer bolschewistisch-kommunistischen Organisation», die diese Tradition «nur halbherzig aufgriff und weitgehend verleugnete» (S. 80). Hätte die Partei einen weniger Moskau-hörigen Weg verfolgt, wenn Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht nicht 1919 ermordet worden wären?
Der kommunistische Aufbruch in Sowjet-Russland bewegte sich auf einer schmalen sozialen Basis und musste sich gegen die Feinde der Revolution sowie auf dem kapitalistischen Weltmarkt behaupten. Der Apparat, der geschaffen wurde, um den kommunistischen Aufbau zu organisieren, erwies sich «letztendlich als Bremse der Umgestaltung», hält Brangsch fest (S. 108). Es kam hinzu, dass beispielsweise die Bauern «vor allem als Objekt der Umgestaltung gesehen [wurden], nicht als Moment dieser Umgestaltung selbst» (S. 104). Die forcierte Industrialisierung der Landwirtschaft führte zudem «zu einer Entfremdung des Bauern von der Natur und den spezifischen landwirtschaftlichen Kreisläufen» (S. 105) – ein Punkt, der nicht zuletzt auch in der Kritik Mao Zedongs am sowjetischen Entwicklungsweg eine Rolle spielte.
Gleichheit und Freiheit
Michael Brie rechnet mit dem Leninismus ab, wenn er schreibt: «Er verwandelte die Einzelnen in ‹Werkzeuge› der kommunistischen Sache, ja, die Kommunisten selbst formten sich um in blosse Mittel der Politik bis hin zur Selbstvernichtung. Dies ist die Ursünde des Leninismus in der Geschichte der Linken» (S. 127). Das, was von Lenin als diktatorisches Mittel zur Durchsetzung solidarisch-emanzipatorischer Ziele gedacht worden war, entwickelte sich im Stalinismus zum reinen Selbstzweck mit mörderischen Folgen. Und was ist mit China, Mao Zedong und der Kulturrevolution? Darüber lässt sich das Buch nicht aus. Eigentlich schade, denn genau 50 Jahre nach Beginn der «Grossen Proletarischen Kulturrevolution» wäre es an der Zeit, eine linke Debatte darüber zu führen.
Nun also ein Revival der kommunistischen Idee? Michael Brie zitiert den französischen Philosophen Alain Badiou: «Ich weiss sehr wohl, dass der Stalinismus den Kommunismus getötet hat, aber ich denke, dass er wieder erwachen kann.» Brie zeichnet in seinem Beitrag verschiedenen Facetten der neuen Kommunismus-Debatte nach und verweist dabei auf Schwach- wie Leerstellen. An Badiou kritisiert er beispielsweise dessen fehlende Thematisierung eines Mangels an «lebbarer Individualität» unter den Bedingungen des Kapitalismus. Er folgert: «wer nur die Gleichheit anruft und nicht auch die Freiheit, bereitet neuer Knechtschaft den Boden» (S. 204).
Erinnerung an Bahro
«In der heutigen Kommunismusdiskussion ist ein Name vergessen und dies völlig zu Unrecht – der von Rudolf Bahro (1935-1997).» Bei ihm gehe es um «eine neue Zivilisation, die ein grundsätzlich anderes Verhältnis der Menschen zu sich selbst (ihrer eigenen Natur), zueinander und zur äusseren Natur begründet». Ohne die Rezeption seines Werkes «bleibt die heutige europäische Diskussion zum Kommunismus weit unter ihren Möglichkeiten», stellt Michael Brie fest. Diese Bemerkung freut mich als Co-Autor der Biografie von Rudolf Bahro natürlich ganz besonders.[2] Bahros 20. Todestag im Dezember 2017 könnte Anlass sein, sein Erbe aufzunehmen und für die aktuelle Auseinandersetzung fruchtbar zu machen.
Nicht alle Aspekte des Buches können in dieser Besprechung gebührend berücksichtigt werden. So müsste die Frage der «Commons», der Gemeingüter, und damit zusammenhängend die Kritik des bürgerlichen Eigentumsbegriffs, genauer unter die Lupe genommen werden. Die Publizistin Friederike Habermann steuert mit ihrem Text «Über das Kommunistische im Commonismus» einen Beitrag dazu ein. Auch die Bedeutung der Geschlechterfrage darf in einer hauptsächlich maskulin geprägten Geschichte des Kommunismus nicht ausser Acht gelassen werden. Darüber schreibt Bini Adamczak in ihrem Beitrag «Die Versammlung. Kommunismen 1917 – 1968 – 2017». Es gibt also viele gute Gründe, das Buch in die Hand zu nehmen – und das Beste ist: Man kann es sogar kostenlos herunterladen!
[1] Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, in: dies.: Ausgewählte Schriften in zwei Bänden. Band I. Berlin (Dietz Verlag) 1968, S. 17 – 57; Zitate S. 25.
[2] Guntolf Herzberg, Kurt Seifert: Rudolf Bahro – Glaube an das Veränderbare. Eine Biographie. Berlin (Ch. Links Verlag) 2002 (Taschenbuchausgabe: Berlin [Aufbau Taschenbuch Verlag] 2005).
Lutz Brangsch, Michael Brie (Hrsg.): Das Kommunistische. Oder: Ein Gespenst kommt nicht zur Ruhe. Mit Beiträgen von Bini Adamczak, Friederike Habermann und Massimo De Angelis. Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Hamburg (VSA Verlag) 2016, 272 Seiten. (Das Buch kann auch heruntergeladen werden unter: www.vsa-verlag.de.)
Kommentare 13
Leseprobe: Lutz Brangsch, Michael Brie (Hrsg.):
Das Kommunistische
Inhalt
Lutz Brangsch/Michael Brie
Sozialismus oder Kommunismus? – Was sonst! ............................ 227
Was sonst?
oder
Eventuell eine Nummer kleiner!
Der Sozialismus deutscher Machart hat sich als wirtschaftsliberaler Trojaner erwiesen; der aktuelle "Große Vorsitzende" Gabriel macht den Totengräbe der Demokratie, indem er TTIP für tot erklärt, CETA durchzieht, TTIP wieder belebt und TiSA auch nicht verhindert.
Der Kommunismus lebt (Schrödingers Katze läßt grüßen) in China recht kapitalistisch und in Nordkorea sogar erblich feudal.
Und in Deutschland?
Die Vertreter der LINKEN als sammelnder Pool für irgendwie linke Politik liebäugeln mal mit dieser, mal mit jener Richtung, nur eine gemeinsame gibt es nicht.
Was ist in D unser Dilemma?
Nach meinem Wissen ist das die fehlende Rückbindung der Wirtschaftsunternehmen an das Gemeinwohl; die Wirtschaftsunternehmen haben sich seit der Mitte der 1970er Jahre aus dem Gemeinwohl verabschiedet; das Kreditvolumen ist unkontrolliert ausgeweitet worden und durch den Export von Gewinnen sind vor allem die Kommunen und die Sozialsysteme in finanzielle Not geraten.
Der überbordende Finanzmarkt realisiert seine Zinserträge ausschließlich in der Realwirtschaft, weil nur dort Werte geschöpft werden können - der Finanzmarkt selbst schöpft keine Werte, sondern nur ab. Die DumpfbackenPolitikerInnen von CDU/CSU/SPD/(FDP)/Grüne haben als Regierungsparteien darauf reagiert und dort gespart, wo sich niemand mehr wehren kann. Mit Hilfe der Reichsgrundlagen zur Fürsorge des Staates über die Arbeitsscheuen von 1924 hat die Schröder.Bande Hartz4 mit staatlicher Gewalt durchgesetzt; die Mamma.Dilemma.Gang stand dem nicht nach und hatte die Fantasiegebilde der Bänkster sozialisiert - für unsere Kinder und Enkel konserviert !!!
Besen, Besen, sei's gewesen!
Die Aufgabe für die nächsten Jahrzehnte ist nicht Kapitalismus, Sozialismus oder Kommunismus, sondern eine rückgebundene Wirtschaft an die Gesellschaft. Das ist gesetzgeberisch machbar, notwendig und kann sofort beginnen.
Für interessierte Leser.Innen:
Bahro Rudolf: Die Alternative
Die "neue Zivilisation" ist eine uralte: was Mensch schafft, erfüllt sich regelmäßig commonistisch.
Die bürokratische Verwertung des Erschaffenen ist eine, in der Kooperation erzeugte, Raubwirtschaft.
„Der Kapitalismus, der in zunehmendem Maße nur noch dazu dient, die durch derartige kommunistische Praktiken geschaffenen Werte sichtbar zu machen, wird auf diese Weise auf eine rein parasitäre Kraft reduziert, eine Art Lehnsherr, der ihm gänzlich fremden Formen der Kreativität gewissermaßen einen Pachtzins abringt. Wir leben also bereits im Kommunismus, wir müssten es nur endlich erkennen."
David Graeber Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus
Die Sucherei darf also durch das Auffinden des Sichtbaren ersetzt werden: zurück zu den Wurzeln!
es war ja richtig, dass die kommunisten sich umsahen nach mustern in der menschheitsgeschichte, die es wert waren oder sogar unentbehrlich, wieder aufgenommen zu werden. auch war die fundstelle richtig: die urgesellschaft (vor der zivilisation). und das, nachdem noch hegel von der barbarei der "vorgeschichte" doziert hatte.
denn in den frühen städten war bereits so gut wie alles verloren. der mensch ist in den jahrhunderttausenden vor den ersten städten zum menschen geworden. danach kam die herrschaft, kam die rebestialisierung oder inhumanität. die idee des kommunismus war auch eine erinnerung an die solidarische urgesellschaft ohne staat und häuptling. diese idee konnte aber die herrschaftsfreie urgesellschaft nicht neu verwirklichen, weil die geschichte sich nicht zurückdrehen lässt.
jeder schritt und jedes schrittchen zu weniger herrschaft ist ein schritt bzw. schrittchen in die humane gesellschaft, die aber ganz anders beschaffen sein muss als die vergangene urgesellschaft.
Daß Karl Marx mit seiner Diktatur der Arbeiter falsch lag, hatte ihm bereits Pierre-Joseph Proudhon gesagt; der Fehler von Marx war, dies einfach vom Tisch zu wischen und nicht genauer untersucht zu haben.
der gute karl stellte sich taub oder war es einfach. die anarchisten konnten ihm sagen, was sie wollten. karl hielt wie der namensgeber des karlspreises zu aachen an der sache der herrschaft erst einmal fest. damit lag er grundfalsch. und alle, die sich auf ihn beriefen, ebenso. ja.
ich lausche und achte darauf,
daß kein krümel der gespendeten weisheit
auf den boden fällt...
Vermutlich war das Dünkel, Marx bediente sich der hegelschen Dialektik und verwarf alles, was diesem (heeren) Anspruch nicht genügte; Proudhon schöpfte da eher aus der praktischen Erfahrung.
Marx bediente sich an vielen Dünkeln, aber die Verherungen seiner würdelosen Jüngerschaft übertrafen alle elitären Erwartungen.
Aber wir kennen immerhin mittlerweile seinen Namen:
Vermutlich war das Dünkel,
geschenkt, den gibts überall für nix. karl war der gewalt eher zu- als abgeneigt. keine ausnahme, sondern eher das gegenteil.
»karl war der gewalt eher zu- als abgeneigt. keine ausnahme, sondern eher das gegenteil.«
Natürlich der allergrasseste Unterschied zu dem, was er bekämpfen wollte – den vielleicht mit der ein oder anderen Macke geschlagenen, aber ansonsten total friedfertigen Kapitalismus.
Erst mal Danke für Hinweis und Rezension zu dieser Neuerscheinung. Was die Zukunftsaussichten anbelangt, sollte man immer auch mit einkalkulieren, dass gesellschaftliche Gänge (im Unterschied zu technologischen) auch rückwärts verlaufen können. Mit seinem Fortschrittsoptimismus sowie seinem schematischen, sachlich so m. E. nicht stimmenden »Stufenmodell« von (kommunistischer) Urgesellschaft über Sklavenhaltergesellschaft und Feudalismus bis hin zum Kapitalismus liefert der Marxismus da ein leider immer noch teilweise veraltetes Analyse-Besteck. So enthielt etwa – entgegen der marxistischen Lehrmeinung – jede bisherige historische Formation Bestandteile der anderen: die römische Sklavenhaltergesellschaft Handel & Kapitalismus (in Maßen), der Kapitalismus wiederum Sektoren von Sklavenhaltung und Feudalismus.
Wesentlicher scheinen mir allerdings die aktuellen Tendenzen hin zu einer Refeudalisierung zu sein (auch zu dieser Thematik hat der VSA Verlag ein Buch in petto – wenn auch leider nicht downloadbar). Die Anzeichen mehren sich dabei sowohl auf der politischen als auch der gesellschaftlichen Ebene. Die politische ist mit den beiden Begriffen Elitenbildung und Postdemokratie einigermaßen treffsicher charakterisiert. Nicht nur die wirtschaftliche – auch die politische Elite rekrutiert sich zunehmend aus sich selbst heraus. Unter Postdemokratie wiederum versteht man den Prozess der Entscheidungsverlagerung hin zu demokratisch nicht mehr kontrollierbaren Zirkeln – in der EU etwa EU-Kommissare, die dazugehörige Bürokratie sowie ein nicht wirklich demokratisch legitimiertes Pseudoparlament.
Im Gegensatz zu diesen Entdemokratisierungs-Tendenzen sind die unmittelbaren Refeudalisierungstendenzen ein eher schleichender Prozess. Zwischenstaatlich waren die Fälle Griechenland und Ukraine gute Anschauungsbeispiele. Auf der innergesellschaftlichen Ebene dürfte der soziale Problemstau zu Zuständen führen, wie wir sie uns heute vielleicht nicht ausmalen mögen. Immer mehr Menschen rutschten bereits im letzten Jahrzehnt in unterschiedlichste Formen der Schuldenfalle – wobei das Hauptrisiko hier nicht private Konsumanbieter sind, sondern vielmehr der Staat sowie seine Versicherungs- und Inkassoinstitutionen (Hartz IV etwa kann unter Umständen eine teure Angelegenheit werden). Im Zug der beiden Scheren Alters- und Armutsentwicklung steuert das austeristische Exportmodell Deutschland zwangsläufig auf Problemlagen zu, welche mit den aktuellen Mitteln nicht mehr bewältigbar sind. (In anderen kapitalistischen Zentren ist der Trend ähnlich. Allerdings ist dort die Staatsbürokratie zwecks Durchsetzung »neofeudaler« Verhältnisse nicht so ausgeprägt. Hinzu kommen andere Faktoren wie etwa der südländische »Individualismus«.)
Langfristig stehen Leibeigenschaft sowie andere Verdinglichungsverhältnisse aus der feudalen Gruselkiste meines Erachtens durchaus auf der Agenda: knastähnliche Zwangsunterbringung in Heimen (für Alte oder sonstwie nicht »Nützliche«), Vormundschaft, Boot Camps und sonstige Formen von Arbeitslager für Gefangene (bei gleichzeitiger Ausweitung der Haftdelikte, wie es in den USA etwa schon der Fall ist) sowie weitere Formen von Pauperisierung und staatlich-bürokratischer Repression. Auch medizinische Zwangsmaßnahmen (für die Forschung) oder staatliche Verfügungen für Organentnahmen (als bürokratische Entscheidung etwa bei Schulden) sind in längerfristigen Entwicklungsszenarios keinesfalls undenkbar.
Auch beim Wahlrecht sind böse Überraschungen keinesfalls ausgeschlossen. Vorstöße, dieses einzuschränken oder in diesem oder jenem Sinn zu modifizieren, werden ja immer wieder lanciert. Springender Punkt allerdings ist, dass eine politische Linke, die mobilisierungsfähig ist und da gegentrimmen kann, aktuell nicht existiert. Für das Kapital also eine rundum kommode Situation. Angesichts der politischen Zustände würde ich zumindest für Deutschland sowie die angelsächsischen Länder eher eine durchgängige Entwicklung hin zum Schlimmeren prognostizieren. Und das Szenario, dass eine Linke in interventionsfähiger Form wieder entsteht, zumindest stark in Frage stellen. Anzeichen dafür – abseits einiger marginalisierter Milieus – gibt es ziemlich Null.
Mißverständnisse bezüglich Marx werde ich hier nicht kommentieren, sie beruhen nach meinem Verständnis auf einer mangelnden oder falschen Lektüre dieses wichtigsten Impulsgebers der Idee der humanistischen Emanzipation, aber es geht nicht um einen Propheten oder theoretischen Säulenheiligen, sondern um die Sache, und da dürfen Autoritätsbeweise ohnehin keine Rolle spielen.
Ich entschuldige mich im vornhinein für die nachfolgenden hochtheoretischen Überlegungen, die sicher einigen Lesern mißfallen und für nutzlose Haarspalterei gehalten werden. Ich denke aber, wenn man die Frage stellt, ob heute der Kommunismus ein toter Hund ist oder im Gegenteil auf der Tagesordnung steht, kommt man um solche Überlegungen nicht herum. Die Praktiker, die sich diese Frage nicht stellen wollen, mögen also diesen Kommentar freundlichst ignorieren.
Kleingruppenstrukturen sind noch keine Sozialordnung, auch wenn es nach Parsons Parallelen im AGIL-Schema gibt. Die Urgemeinschaft kennt keinen Überschuß und daher auch keine private Aneignung desselben mit Herausbildung einer hierarchischen Struktur. Sie ist stabil, nicht dynamisch. Wenn man von Urkommunismus reden will, das kann man, dann ist das ein unmittelbares, vorbehaltloses Solidarischsein gemäß der Notwendigkeiten der Lebensbewältigung. Der Motor der Entwicklung springt an mit dem Überfluß und der Verdopplung der Welt durch das Denken, was eine Verdopplung in Affirmation und Zweifel bedeutet, von manchen Religionen als Sündenfall und als Strafe der Verzweiflung über den Verlust der Einheit betrachtet, tatsächlich der Weg in eine neue Freiheit. Die Entwicklung ist eine der sich gegenseitig durchdringenden Prozesse der Individuation und Sozialisation. Darum hat die Rede vom Kommunismus als Moment schon in den frühesten Gesellschaften seine Berechtigung. Dieser Kommunismus ist ein vermittelter, keine Rückkehr zu einer unmittelbaren Natur, das hat schon Rousseau gewußt. Von Marx, der von der negativen Darstellung der bürgerlichen Gesellschaft in Hegels Rechtsphilosophie sehr beeindruckt war, wissen wir, daß er den Durchgang durch die Antithese, eben die bürgerliche Existenzweise, im Grunde für notwendig hielt.
So weit möchte ich gar nicht gehen, nur kann eine emanzipierte Gesellschaft sich nicht anders als im Spannungsfeld zwischen Allgemein- und Eigensinn entfalten. In der strukturalistischen Sicht sind die konstitutiven Elemente von Gesellschaften immer die gleichen, nur die Konfigurationen machen den Unterschied. So ist nicht verwunderlich, daß es strukturalistische Marxisten gibt. Das ist allerdings eine prekäre theoretische Position, da der Strukturalismus in seiner Grundhaltung eher ahistoristisch, oft antihistoristisch ist, der Marxismus wie jede emanzipatorische Fortschrittsperspektive aber sich auf den Historismus gründen muß.
Ich selber neige einem strukturfunktionalistischen (oder in der Luhmannschen Umkehrung des funktionellen Strukturalismus) materialistischen Historismus zu. Die entscheidenden Konsequenzen daraus sind: 1. die Kritik an der Gesellschaft muß aus der bestimmten Negation des Bestehenden entwickelt werden. Das „Kommunistische“ hat zu allen Zeiten einen historischen Index. Nicht nur der Urkommunismus, auch die nachfolgenden Formen des „Kommunistischen“ sind mit dem, was heute Kommunismus heißen muß, nur weitläufig verwandt, nicht identisch. Damit setzt die Gesellschaftskritik bei uns 2. eine genaue Kenntnis des Kapitalismus, seiner historischen Leistungen und der Gründe seiner Stabilität, sowie der Brennpunkte seiner antagonistischen Widersprüche voraus. Der Kapitalismus ist wie alle geschichtlichen Formationen vereinfacht ausgedrückt teils irreversible zivilisatorische Entwicklung, teils reversible Fehlentwicklung.
Die inhaltliche Ausformulierung der bestimmten Negation liegt ja in unzähligen Publikationen der kritischen Theorien und wissenschaftlichen Untersuchungen vor, was vielleicht fehlt, ist die griffige, auf den Punkt gebrachte Zusammenfassung all dieser Erkenntnisse, und die Herstellung einer Öffentlichkeit, die das zur Kenntnis nimmt. In diesem Sinn kann ich der Formulierung Wer vom Kapitalismus spricht, kann vom Kommunismus als dessen entschiedenem Widerpart (bestimmter Negation) nicht schweigen nur zustimmen.