Bruchlinien begreifen

Rezension Rund um den Globus flackert Widerstand auf – doch so schnell, wie er auftaucht, scheint er auch wieder verschwunden zu sein. Wie lassen sich die Zeichen der Zeit deuten?

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Bruchlinien begreifen

Foto: Ed Giles/ AFP/ Getty Images

Einem alten Achtundsechziger mag es manchmal so erscheinen, als würde sich wieder etwas zusammenbrauen wie damals, als es auf einmal überall losging: in Paris ebenso wie in Zürich, bei den Schwarzen in den US-amerikanischen Ghettos wie unter der Jugend Chinas. Nur wenige Wochen liegen die Protestaktionen in Istanbul oder in Brasilien zurück, und wer den Blick zeitlich ein wenig weitet, wird sich an Occupy Wallstreet, Massenaktionen in Israel und selbstverständlich an den «Arabischen Frühling» erinnern.

2011 schien so ein Zauberjahr wie 1968 zu werden, doch das ist nun alles Schnee von gestern. Die Geschichte nimmt keinen glücklichen Verlauf, wie an den Entwicklungen in der arabischen Welt deutlich wird: Der Geist des Aufbruchs wurde von den Kräften der Konterrevolution gekidnappt – seien dies Islamisten oder Repräsentanten des Ancien Régime. Das Beispiel Ägypten zeigt zudem, dass die eine Macht die andere abzulösen vermag, ohne dass eine Volksbewegung dazwischentreten könnte. Diese wird vielmehr als Instrument «höherer» Interessen missbraucht.

Widersprüche in gebündelter Form

Um das Jahr 2011 geht es auch in einem Buch von Slavoj Žižek, das dieses Frühjahr erschien. Ist es überhaupt noch aktuell genug, um jetzt besprochen zu werden – und fördert es ein besseres Verständnis der Gegenwart? Ich meine: Ja. Der Autor ist eine schillernde Figur auf der intellektuellen Bühne unserer Zeit, ein wenig mit Peter Sloterdijk vergleichbar. (Zu ihm kommen wir noch.) Trotzdem, oder gerade deshalb, lohnt sich die Auseinandersetzung mit dem Psychoanalytiker und Philosophen.

Žižek hat sich mit dem «Jahr der gefährlichen Träume» auseinandersetzt – einem Jahr, in dem die gesellschaftlichen Widersprüche in gebündelter Form erschienen sind. Angefangen vom bereits erwähnten Arabischen Frühling über die Reaktorkatastrophe in Fukushima, den Terroranschlag in Norwegen bis hin zur verschärften Euro-Krise. Es sind Träume von Befreiung wie solche der Zerstörung, die hier zum Ausdruck kommen, und manche dieser Träume verkehren die Wirklichkeit ins pure Gegenteil, wie das japanische AKW-Unglück gezeigt hat: Gedacht als ein Instrument der Fortschritts, wird die Nutzung der Atomkraft zu einem Mittel der Vernichtung.

Den Universalismus verteidigen

Bei Žižek taucht die ökologische Frage nicht auf, zumindest nicht in diesem Buch. Es geht ihm hier vor allem um das System des Kapitalismus im Ganzen, das hinter den konkreten Erscheinungen steht und von diesen weitgehend verdeckt wird. Nehmen wir zum Beispiel das «Manifest» des Norwegers Anders Behring Breivik: Mit diesem versuchte er seine Mordorgie im Juli 2011 zu rechtfertigen. Es sei «sicher kein Fall von Gefasel eines Verrückten», meint Žižek, sondern «eine substantielle Darstellung der ‹europäischen Krise›, die als (mehr oder weniger) explizite Rechtfertigung für den wachsenden fremdenfeindlichen Populismus dient». Als Gegenkraft genügt gemäss Žižek nicht, «Toleranz» zu verbreiten. Europa müsse vielmehr sein «Erbe der radikalen und universalen Emanzipation» wiederbeleben.

Der Akzent liegt auf der Universalität. «Freiheit für alle» ist das zentrale Versprechen des Kapitalismus in neoliberaler Gestalt, das er aber nicht einhalten kann. Gewiss: Der Kapitalismus setzt Menschen aus knechtenden Verhältnissen frei, wie es das «Kommunistische Manifest» sehr schön beschreibt. Aber nur, um sie in neue Herrschaftsstrukturen zu führen, die der Verwertung des Kapitals und der Mehrung des Profits dienen.

Die Linke müsse sich auf ihren Anspruch universeller Befreiung zurückbesinnen, meint Žižek. In Zeiten eines prosperierenden Kapitalismus sei es für diese einfach gewesen, «die Kassandra zu geben und davor zu warnen, dass unser Wohlstand auf Illusionen beruht». Jetzt, in Zeiten sozialer Zersetzung, fehle aber «jegliche konsistente Antwort der Linken auf diese Ereignisse».

Über das System hinaus

Der Autor versucht in seinen Büchern, solche Antworten zu finden. So setzt er sich beispielsweise mit Sloterdijks «Ethik der Gabe» auseinander, die dieser mit einer feurigen Rede gegen den «kleptokratischen Steuerstaat» verbunden hat. Man konnte sie mit einigem Recht als Angriff auf den staatlich organisierten Ausgleich zwischen den Klassen begreifen. Žižek geht nun allerdings über die Verteidigung des sozialdemokratischen Sozialstaats hinaus, die zugleich eine Anerkennung des kapitalistischen Systems beinhaltet. Er sieht in der Ethik der Gabe einen urkommunistischen Gedanken enthalten, der von Karl Marx so formuliert worden ist: «Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.» Das bedeutet die Abkehr von einer Logik des gleichen Masses, in dem ich eben soviel gebe (zum Beispiel Arbeitskraft), wie ich bekomme (in diesem Fall Lohn).

Solche Gedanken, die von Menschen tagtäglich praktiziert werden – in der Familie oder Freundschaftsbeziehungen –, gehen über das herrschende System hinaus. Ansatzpunkte einer Anderen Gesellschaft sind vielfach vorhanden, doch ohne die fundamentale Abkehr von diesem System wird sie nicht kommen. Žižeks Buch regt dazu an, die Bruchlinien der Gegenwart besser zu begreifen.

Slavoj Žižek: Das Jahr der gefährlichen Träume. Aus dem Englischen von Karen Genschow. Frankfurt/Main: S. Fischer Verlag 2013, 221 S., € 19.99

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert

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