Chinas leere Mitte

Rezension China übt eine Faszination aus, die nicht nur mit ökonomischen Erfolgen zu tun hat, sondern auch mit einer jahrtausendealten Kultur und dem von ihr geformten Denken

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Eine Szene, wie sie auch das Cover des Buches „Tritt durch die Wand und werde, der du (nicht) bist – Auf den Spuren des chinesischen Denkens“ von Kai Marchal zeigt
Eine Szene, wie sie auch das Cover des Buches „Tritt durch die Wand und werde, der du (nicht) bist – Auf den Spuren des chinesischen Denkens“ von Kai Marchal zeigt

Foto: STR/AFP/Getty Images

Wer heute durch China reist, begegnet einem Land, das zugleich geschichtsversessen wie geschichtsvergessen ist: Da ist zum einen der Stolz auf eine Hochkultur, deren schriftliche Zeugnisse mindestens 3500 Jahre zurückreichen. Und da ist zugleich ein beredtes Schweigen über kritische Ereignisse in der jüngeren Geschichte. Wer beispielsweise die Terrakotta-Armee des ersten Kaisers von China besucht, wird von der Aura dieser lebensgroßen Kriegerfiguren überwältigt und kann die patriotischen Gefühle des Volkes ermessen. Wer sich daneben auch noch für die jüngere Vergangenheit, zum Beispiel für die Kulturrevolution, interessiert, der wird bald bemerken, dass darüber ungern gesprochen wird.

Mit beidem – der Geschichte dieses riesigen Reiches wie auch mit seiner Gegenwart – setzt sich der deutsche China-Wissenschaftler Kai Marchal auseinander. Es ist zugleich die sehr persönliche, wenn nicht gar intime Beschreibung einer «Suche nach einer radikal Anderen». Das interessiert den Rezensenten brennend, denn er selbst hatte einmal China als Alternative im Blick – im Sinne eines Gegenentwurfs zur Welt des Kapitalismus. Heute kann er sich ein Bild davon machen, dass kapitalistisches Denken und Handeln dort längst angekommen sind. Allerdings wird das so entstandene Gesellschaftssystem immer noch durch einen «sozialistischen» Überbau gerechtfertigt.

Wie kann das eigene Leben gelingen?

Der 1974 geborene Kai Marchal hat allerdings nicht die gleichen Motive wie der alte Achtundsechziger. Der Autor sucht das «radikal Andere» nicht auf den Ebenen von Politik und Ökonomie, sondern gräbt tiefer: Er will die Andersartigkeit chinesischen Denkens besser begreifen. Während seines Studiums in Heidelberg gerät Marchal an Professor W., einen ehemaligen «maoistischen Studentenführer», der sich einst für fernöstliche Mystik interessiert hatte. «Aus der Sicht der 1990er – mit ihren vermeintlichen Gewissheiten – verstand ich solche biografischen Widersprüche nicht. Mystizismus und Maoismus erschienen mir so unvereinbar wie Vorder- und Rückseite des Mondes». Dieser Professor W., dessen Bekanntschaft der Rezensent auch machen durfte, denn er reiste mit ihm 1978 durch China, weckt im Studenten den Wunsch, sich intensiv mit den Schriften eines Mannes auseinanderzusetzen, der im dritten Jahrhundert n.Chr. lebte und jung starb. Sein Name, Wang Bi, war dem Rezensenten bis anhin nicht bekannt, und so wird es wohl auch den meisten Leserinnen und Lesern gehen, die nicht bei Rudolf G. Wagner, dem «Professor W.», Sinologie studiert haben.

Wang Bi verfasste keine eigenen Bücher, sondern kommentierte drei kanonische Texte des Alten China: das Daodejing, das «Buch der Wandlungen» oder Yijing (bei uns auch unter dem Namen I Ging bekannt) sowie die «Gespräche» des Konfuzius. Wang Bi gelang eine «kritische Neulektüre» der Tradition des volksreligiösen Daoismus und eines herrschaftlichen Konfuzianismus. Er habe, so Marchal, die chinesische Identität dynamisiert, indem er die drei Texte auf einen Fluchtpunkt hin interpretierte: Wie kann das eigene Leben gelingen? Es geht um die «Universalität des Übungsweges»: Jeder und jede kann aus der «ichförmigen Existenzweise» herausfinden und sich den «tieferen Schichten des Daseins» zuwenden, ist die Botschaft von Wang Bi in der Lesart von Kai Marchal.

Selbstüberwindung statt Selbstermächtigung

Im Zentrum der chinesischen Identität steht Konfuzius – und nicht umsonst werden heute die von der Volksrepublik finanzierten Bildungszentren in aller Welt nach ihm benannt. Das ist angesichts der heftigen Kritik, die während der Kulturrevolution an Konfuzius wegen seines elitären Denkens und der Verteidigung einer hierarchischen Ordnung geübt wurde, doch höchst verwunderlich. Vielleicht aber auch nicht, denn das heutige Regime in Beijing, das den Namen «kommunistisch» kaum noch verdient, stützt sich wieder auf Eliten und Hierarchien. In China herrscht gegenwärtig ein Autoritarismus, der alles den Erfordernissen von wirtschaftlichem Wachstum und Erfolg unterordnet. Da passt ein traditionelles Konfuzius-Bild bestens.

Marchal versteht die Kritik und hält fest: «Überkommene Autoritäten haben sich immer gern in den Windschatten dieses Mannes gestellt.» Doch er verweist auch auf seine andere Seite: «Der Wunsch, ein besserer Mensch zu werden, prägte das Leben des Konfuzius» und habe ihn zu einem Mann gemacht, «der sich beharrlich für das Wohl anderer Menschen eingesetzt hat». Seine «Logik der Selbstverbesserung» strahle «im Zeitalter des Neoliberalismus vielleicht noch einmal besonders hell». Dies sei allerdings ein Missverständnis, denn Konfuzius gehe es nicht um Selbstermächtigung, sondern um die Überwindung dieses Selbst.

Widersprüche und Vielfalt

Im heutigen China ist von einem solchen Geist kaum noch etwas zu erkennen. Kai Marchal beschreibt seine erste Begegnung mit der chinesischen Hauptstadt: «Ich war entsetzt, begeistert, überwältigt, verletzt und ignorant. So viele Menschen, die auf der Suche nach Geld, Erfolg und Glück waren, hatte ich noch nie gesehen.» Das war vor über 20 Jahren. Heute weist die chinesische Entwicklung noch mehr ins Gigantische. Wohin soll die Reise dieses Riesenreiches gehen? Das Land ist unübersichtlich, widersprüchlich und groß – deshalb verbieten sich Verallgemeinerungen, die heute vielfach im Schwange sind.

Marchal bemüht das Bild der «leeren Mitte», um das China der Gegenwart besser zu verstehen: Sie werde von einer «Machtelite mit autoritären Mitteln» freigehalten. Der Tübinger Sinologe Helwig Schmidt-Glintzer, der eine Mao-Biografie geschrieben hat, sieht das etwas anders: Diese Leere gehe einher mit einer Fähigkeit, Selbstwidersprüche auszuhalten – und diese Widersprüche würden auf eine innere Vielfalt deuten. So ist also noch nicht ausgemacht, dass die gegenwärtige Führung des Landes das letzte Wort behalten wird.

Kai Marchal: Tritt durch die Wand und werde, der du (nicht) bist. Auf den Spuren des chinesischen Denkens. Berlin: Matthes & Seitz 2019, 349 Seiten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert

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