Der Deutungskampf um '68 geht weiter

Replik Die «Spiegel»-Ausgabe dieser Woche hat beinahe programmatischen Charakter. Einige Überlegungen zu «neuem Biedermeier», Cohn-Bendit und Beuys.

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Dirk Kurbjuweit beklagt im Spiegel (Nr. 20/2013) den Stillstand in der deutschen Politik. Ein zweites «Biedermeier» drohe – so eine Diagnose, die auch nicht mehr ganz neu ist. Der Publizist Albrecht von Lucke schrieb bereits 2008 über 68 oder neues Biedermeier und den Deutungskampf um die Spätfolgen der Achtundsechziger-Bewegung. Kurbjuweits Klage ist äusserst ambivalent, weil er die durchaus stattfindenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen als Ausdruck des Kampfes «für ein ungestörtes Leben» deutet. Seine Kritik richtet sich gegen Bürgerinnen- und Bürgerbewegungen wie jene in Stuttgart, die ein gigantomanisches Projekt bekämpfen, das nichts mit humanem Fortschritt zu tun hat. Gerade im Widerstand gegen Vorhaben, die lediglich den Status quo – beispielsweise in der Verkehrspolitik – zementieren, zeigt sich ein wieder erwachtes politisches Bewusstsein, das so lange schmerzlich vermisst worden war. Kurbjuweit will offenbar nicht zur Kenntnis nehmen, dass in der Ablehnung solcher Projekte der Widerstand gegen ein technokratisches Gesellschaftsmodell steckt, das nicht nur von Angela Merkel favorisiert wird.

Die genannte Spiegel-Ausgabe hat beinahe programmatischen Charakter: Neben Kurbjuweits Häme über die «Wutbürger», die noch biedermeierlicher als die Biedermeier des frühen 19. Jahrhunderts seien, passt auch die Abwicklung jenes Teils der grünen Geschichte, der seine Wurzeln im Aufbruch von 1968 hatte, gut zur aktuellen Stimmung. Daniel Cohn-Bendit und, ein paar Nummern kleiner, Joseph Beuys werden – je auf ihre Weise – demontiert: der einstige «Dany le Rouge« als Wegbereiter dunkler pädophiler Kräfte in den Kinder- und Jugendjahren der grünen Partei, der frühe Avantgardist der westdeutschen Kunstszene als Blut-und-Boden-Aktivist. Viele Grüne der Gründungsphase experimentierten tatsächlich mit explosiven Stoffen. Rudolf Bahro beispielsweise plädierte für «neue Klöster», in denen innere und äussere Befreiung zusammengehen sollten. Der gleiche Bahro sprach sich dafür aus, alle «grünen» Kräfte zu sammeln, auch solche, die eher zum «braunen» Pol tendieren. Diese Sammlung sollte zugleich mit einer Reinigung verbunden sein. Nicht wenige Grüne hielten ihn deshalb für einen Spinner.

Jetzt kommen also treten genau diese Stoffe wieder an die Oberfläche, bzw., sie werden von daran Interessierten dorthin gezerrt. Dahinter stehen selbstverständlich auch wahltaktische Gründe: Gelingt es, die Grünen von heute (die mit jenen der Achtzigerjahre allerdings nicht mehr sehr viel zu tun haben) zu de-legitimieren, dann kann man sie auch besser in Schach halten. So mag es dann auch möglich sein, jeden Rest eines rebellischen Geistes von einst auszutreiben und sie für eine Koalition mit Schwarz (und eventuell auch Gelb) kompatibel zu machen.

Jakob Augstein trifft den wunden Punkt, wenn er in seiner Spiegel-Online-Kolumne vom 13. Mai 2013 vom deutschen Wunsch nach Veränderung schreibt, die aber keine tatsächliche Umwälzung der herrschenden Verhältnisse bedeutet soll. Das war ja bereits die Krux von 1968: Die linken Studenten und Studentinnen blieben lieber unter sich, als dass sie die Verbindung zu den «Volksmassen» gesucht hätten. Dort, wo sie es versuchten, scheiterten sie an ihrer eigenen Überheblichkeit. (Das ist durchaus selbstkritisch gemeint, denn ich gehöre auch zu dieser Achtundsechziger-Kohorte.)

Kein Zweifel: Der Deutungskampf um «1968» geht weiter. Vielleicht gelingt es doch noch, aus allen Irrtümern und Fehlern das herauszuschälen, was wir heute so dringlich brauchen: Vorstellungen von einem anderen Leben in einer Gesellschaft jenseits eines Kapitalismus, der immer mehr Opfer verlangt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert

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