Die Arbeitswelt muss humanisiert werden

Rezension Obwohl die Arbeit allgegenwärtig ist, werden ihre Bedingungen und konkreten Inhalte nur selten genauer beleuchtet. Eine Publikation aus der Schweiz will Abhilfe leisten.

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Im Zeitalter des globalisierten Kapitalismus verschwinden die Grenzen – beispielsweise jene zwischen Arbeit und sogenannter Freizeit. Einst hatten die Gewerkschaften für einen Achtstundentag gekämpft, der genügend Zeit lässt für die Wiederherstellung der Arbeitskraft. Inzwischen ist uns bewusst geworden, dass dahinter ein männliches Lebensmodell stand – denn für die berufstätige Frau hören die zu erledigenden Aufgaben jenseits des Büros, der Ladentüre oder der Fabrikhalle nicht auf. Heute gehen die verschiedenen Sphären des Lebens ineinander über, wenn beispielsweise auf dem Weg zum Arbeitsplatz oder nach Hause noch Emails gecheckt oder Anrufe getätigt werden müssen.

Zudem findet eine Inflationierung des Arbeitsbegriffes statt: Das Zusammenleben in der Familie oder mit Freunden wird zur «Beziehungsarbeit» und die sportliche Betätigung am Feierabend zum «Work-out». Während sich alles in «Arbeit» verwandelt, verschwimmt der Blick auf die konkrete Arbeit, die dem Erwerb dient. Weitgehend unsichtbar bleibt auch, was heute «Care» oder Sorge-Arbeit genannt wird: das Sich-kümmern um andere Menschen, die auf Unterstützung und Pflege angewiesen sind. Einer grossen Teil dieser Arbeit geschieht im Bereich der unbezahlten, vermeintlich «freiwilligen» Tätigkeiten.

Angesichts des «Tages der Arbeit» scheint es sinnvoll zu sein, das, was wir «Arbeit» nennen, wieder einmal etwas genauer zu betrachten. Dazu kommt das Buch «Arbeit ohne Knechtschaft» genau richtig. Es stammt aus der Werkstatt des schweizerischen «Denknetzes», einer sozialkritischen «Denkfabrik», die sich als Alternative zum von Grosskonzernen gesponserten Think-Tank «Avenir Suisse» versteht – ohne selbstverständlich über dessen finanzielle wie personelle Mittel zu verfügen.

Vorrang der Arbeit

«Humanisierung der Arbeitswelt» hiess einst eine Parole, die im Nachklang zur Achtundsechziger-Bewegung, wenn schon nicht auf eine Revolutionierung, so zumindest auf eine Reformation des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit drängte. In diesem Zusammenhang war viel von Mitbestimmung die Rede: Der Arbeiter, die Angestellte sollte nicht mehr ein Anhängsel der Maschine sein, sondern an den Gestaltung des Produktionsprozesses eigenständig mitwirken können. Eine Mitbestimmungsinitiative der schweizerischen Gewerkschaften scheiterte im März 1976 allerdings an einer deutlichen Zweidrittelmehrheit.

Seither ist nur noch selten von einer «Demokratisierung der Wirtschaft» die Rede, auch wenn die Forderung Eingang in das 2010 verabschiedete Programm der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz gefunden hat. Einer von denen, die sich seit Jahrzehnten dafür einsetzt, ist Willy Spieler, der früher für die Sozialdemokratische Partei im Zürcher Kantonsparlament sass. Er ist auch mit zwei Beiträgen im «Denknetz»-Buch vertreten. In seinem Grundsatz-Artikel geht es um den «Vorrang der Arbeit vor dem Kapital». Spieler bezieht sich sowohl auf sozialistische als auch auf kirchliche Quellen.

Staatsbürger contra Wirtschaftsuntertan

In der katholischen Soziallehre wird der Vorrang besonders anschaulich. Papst Johannes Paul II. nimmt in seiner 1981 erschienenen Enzyklika «Über die menschliche Arbeit» sozusagen Marx‘ Dialektik der Arbeit als Humanisierung der Natur und Naturalisierung des Menschen auf und schreibt: «Die Arbeit ist eine Wohltat für den Menschen – für sein Menschsein –, weil er durch die Arbeit nicht nur die Natur umwandelt und seinen Bedürfnissen anpasst, sondern auch sich selbst als Mensch verwirklicht, ja gewissermassen mehr Mensch wird». Da Kapital keine vergleichbare Bedeutung für die «Menschwerdung des Menschen» hat, wird das «Prinzip des Primates der Arbeit vor dem Kapital» zum «alles beherrschenden Grundsatz» erklärt.

In den vergangenen drei Jahrzehnten hat ein neoliberales Denken das Bewusstsein durchdrungen und deshalb ist das «Primat der Arbeit» heute durchaus umstritten. Viele glauben, dass einzig das Kapital die Welt regiere und die Menschen froh sein müssten, wenn sie einen Arbeitsplatz finden und nicht als «Überflüssige» aussortiert werden. Gibt es ein Recht auf Arbeit? Karl Marx hielt dies für einen «frommen Wunsch», solange das Kapital regiert. Trotzdem ist es wichtig, für die Rechte der Arbeitenden zu kämpfen – und dies nicht nur in einem gewerkschaftlichen Sinn. Willy Spieler erinnert daran, dass unsere Gesellschaft «in zwei sich ausschliessende Teil zerfällt, einen selbstbestimmt demokratischen Teil im Staat und einen fremdbestimmt autoritären Teil in der kapitalistischen Wirtschaft. Der Staatsbürger verträgt sich nicht mit dem Wirtschaftsuntertan.»

Genossenschaften als Ausweg?

Dieser Widerspruch wird kaum thematisiert und deshalb erscheint auch die Forderung der Sozialdemokratischen Partei nach einer «Wirtschaftsdemokratie» als illusionär, gar utopisch. Die Partei selbst ist nicht so recht davon überzeugt – andernfalls müsste sie doch dafür besorgt sein, diese Forderung in die Tagespolitik einfliessen zu lassen. Gewisse Ansätze sind zumindest im Genossenschaftswesen zu finden, und die Schweiz kann sogar als Weltmeister in Sachen Genossenschaften bezeichnet werden: Coop, Migros, Mobiliar, Raiffeisenbank und Mobility sind nur einige der Namen von Unternehmen, die auf einer genossenschaftlichen Basis beruhen. In einem weiteren Aufsatz von Willy Spieler mit dem Titel «Genossenschaftlicher ‹Member Value› statt kapitalistischer ‹Shareholder Value›» heisst es allerdings einschränkend: «Die Genossenschaftsform allein verbürgt noch keine Unternehmensdemokratie.»

Ein Beispiel für eine Genossenschaft, die innerbetriebliche Demokratie mit wirtschaftlichem Erfolg verbindet, ist die «Mondragón Corporación Cooperativa» (MCC) im Baskenland, Spaniens siebtgrösster Konzern. Spieler hatte MCC vor einigen Jahren besucht und in der Zeitschrift «Neue Wege» darüber geschrieben. Doch zurück zur Schweiz und zu einem Thema, das rund um die Volksabstimmung über die «Masseneinwanderung» viel zu reden gab und gibt: Führt die Personenfreizügigkeit zu einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen in der Schweiz, beispielsweise in der Form von Lohndumping? Die Gewerkschaften hatten mit dem Konzept der «flankierenden Massnahmen» dafür gesorgt, dass auch eine Mehrheit der abhängig Beschäftigten die Politik der Personenfreizügigkeit akzeptieren konnte.

Arbeit, die nicht gesehen wird

Rita Schiavi, Mitglied der Geschäftsleitung der Gewerkschaft Unia, weist in ihrem Beitrag darauf hin, dass ein offener Arbeitsmarkt nicht zwangsläufig in Lohndumping münden muss. Es sei jedoch festzustellen, «dass in den meisten Kantonen der Wille nicht sehr gross ist, griffige Massnahmen (…) zu ergreifen». Wirksam könnte beispielsweise die Ausdehnung eines Gesamtarbeitsvertrages auf alle Betriebe einer Branche sein. Das widerstrebt allerdings vielen Unternehmern – und aus solchen Ungereimtheiten kann die Schweizerische Volkspartei ihre fremdenfeindlichen Konzepte formen. Hier zeigt sich auch, dass die Solidarität zwischen «inländischen» und «ausländischen» Lohnabhängigen wenig entwickelt ist. Die einen wittern in den anderen eine mögliche Konkurrenz, obwohl viele Migrantinnen und Migranten vor allem jene Jobs übernehmen, die den Einheimischen als zu wenig lukrativ erscheinen.

Dies betrifft insbesondere die «Schattenarbeit» in privaten Haushalten, die von «Sans-Papiers» (Papierlosen) erledigt wird. Bea Schwager von der «Sans-Papiers Anlaufstelle Zürich» (SPAZ) geht auf die unverzichtbare, aber unbewilligte Arbeit dieser Menschen ein. Die in Privathaushalten tätigen Sans-Papiers sind fast ausnahmslos weiblichen Geschlechts und kommen hauptsächlich aus Lateinamerika, dann aber auch aus Südosteuropa sowie zu einem kleinen Teil aus asiatischen und afrikanischen Ländern. Die meisten von ihnen sind gut bis sehr gut ausgebildet: Mehr als ein Viertel von ihnen verfügt über einen Universitätsabschluss! Ihre Lage als Care-Arbeiterinnen ist sehr schwierig: ohne Aufenthaltspapiere, zumeist auch ohne schriftlichen Arbeitsvertrag, häufig Arbeit auf Abruf und bei verschiedenen Arbeitgeberinnen.

Ein verdrängtes Thema

Bea Schwager schreibt: «Die eigentliche Knechtschaft – oder hier besser Magdschaft – liegt in der extremen Prekarität das Daseins und der weitgehenden Rechtlosigkeit und Abhängigkeit aufgrund des irregulären Aufenthalts.» Das ist eine besonders zugespitzte Form der Care-Arbeit. Doch auch in einem breiteren Rahmen bewegt sich die Sorge um andere in einem Schattenbereich. Die feministische Ökonomin Mascha Madörin hat in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten dafür gesorgt, dass wir inzwischen doch etwas mehr darüber wissen können. Die Verdrängung des Themas aus dem öffentlichen Diskurs hat damit zu tun, dass die Care-Arbeit, ob bezahlt oder nicht, mehrheitlich von Frauen verrichtet wird.

Care-Arbeit ist personenbezogene Dienstleistung und setzt – hier ist der Begriff wohl richtig gesetzt – «Beziehungsarbeit» voraus. Je näher diese Arbeit an den anderen herauskommt, je «physischer, berührungsintensiver» die Tätigkeit ist, desto schlechter ist sie in der Regel bezahlt, «je mehr die Arbeit mit den tagtäglichen körperlichen Bedürfnissen eines Menschen zu tun hat, desto mehr wird sie verachtet und als unqualifiziert betrachtet», hält Mascha Madörin fest. Trotz vielfach schlechter Bezahlung gilt Care-Arbeit als zu teuer und zu wenig «produktiv». In der Folge werden Modelle aus der industriellen Produktion auf die «Produktion» von Pflegeleistungen übertragen. Es kommt zu Rationalisierungen und damit zu einer Verschlechterung der Qualität dieser Arbeit. Mascha Madörin verweist darauf, dass Care-Arbeit immer noch ein «dunkler Kontinent» sei, für den uns die richtige Sprache fehle.

Aktivierung und Zwang

Vor noch nicht allzu langer Zeit war die Vermutung weit verbreitet, der Arbeitsgesellschaft werde angesichts des Fortschreitens der Automatisierung und Computerisierung die Arbeit ausgehen. Für die einen galt dies als hoffnungsfrohes Zeichen des Anbruchs eines Reiches der Freiheit, für die anderen als eine Drohung. Die Befreiung von überflüssiger Arbeit – durch Senkung von Arbeitszeiten, zusätzliche Ferien oder Sabbaticals – hat nicht stattgefunden. Stattdessen sorgt der aktivierende Sozialstaat dafür, dass auch die wenig Arbeitsfähigen und die Arbeitsunwilligen «gefördert und gefordert» werden, wie der sinnfällige Spruch heisst. Was als Hilfe daherkommt, erweist sich vielfach als Zwang zur Arbeit. Vorbild für die Aktivierung ist der moderne «Arbeitskraftunternehmer»: gut ausgebildet, flexibel und bereit zu unbeschränkter Mobilität. Auch jene Menschen sollen sich nach diesem Bild ausrichten, die über wesentlich weniger ökonomisches, soziales und symbolisches Kapital verfügen als die Privilegierten. Es kommt zu einer «problematische(n) Verknüpfung von Zwang und Steigerung von Eigenaktivität», die ein «systemisches Paradox innerhalb der Aktivierungspolitik» darstelle, schreiben Silvia Domeniconi, Ueli Tecklenburg und Bettina Wyer in ihrem Beitrag «Der aktivierende Sozialstaat: zwischen Arbeitszwang und Hilfe».

Dies sind bloss einige Aspekte, die das «Denknetz»-Buch unter die Lupe nimmt. Dessen Lektüre ist unbedingt zu empfehlen!

Ruth Gurny, Ueli Tecklenburg (Hrsg.): Arbeit ohne Knechtschaft. Bestandesaufnahmen und Forderungen rund ums Thema Arbeit. edition 8: Zürich 2013, 368 S., € 22.-

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert

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