Die Ausgeschlossenen des "Fortschritts"

Rezension Anlässlich einer Indienreise macht sich der Autor Gedanken über ein Land, das von extremen Gegensätzen gekennzeichnet ist. Braucht Indien eine Revolution?

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Das Gandhi-Museum in Madurai, dem kulturellen Zentrum von Tamil Nadu, ist in einem prächtigen Palast aus dem 17. Jahrhundert untergebracht, der den Königen der südindischen Nayak-Dynastie einst als Sommerresidenz diente. Es stellt nicht das einzige seiner Art auf dem indischen Subkontinent dar: Zum Gedenken an den Vorkämpfer der Unabhängigkeit gibt es ähnliche Museen in allen Regionen des Landes. Dort wird eine Tradition aufbewahrt, die in der Gegenwart einer Gesellschaft auf dem Sprung zur überregionalen Grossmacht kaum noch eine Rolle zu spielen scheint. Dabei wären die Erinnerungen, die dieses Museum bereithält, brisant genug, um die indische Wirklichkeit in Frage stellen zu können. Seine wichtigste Abteilung ist nämlich dem Kampf um Freiheit gewidmet, der von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ein wagemutiger und vielfach verlustreicher Streit gegen die britische Kolonialherrschaft war. Auf 30 Wandtafeln und mit mehr als 250 Fotografien werden die unterschiedlichen Stationen und wechselnden Koalitionen der antikolonialistischen Bewegungen dargestellt.

Beim Betrachten der Bilder und Lesen der Texte kann der Besucher so etwas wie einen Aha-Effekt erleben: Das Vorurteil vom "Fatalismus", der Schicksalsgläubigkeit der "indischen Volksseele", ist ein Konstrukt westlichen Denkens, das sich so gerne seiner Überlegenheit rühmt. Die Auseinandersetzung mit den Materialien des Museums löst aber auch Fragen aus: Ist mit der nationalen Unabhängigkeit, die vor 65 Jahren erreicht wurde, das Ziel der sich über zwei Jahrhunderte erstreckenden Befreiungsbewegungen tatsächlich erreicht, wie hier suggeriert wird? Die Wirklichkeit, die ein interessierter Tourist in Indien erlebt, vermittelt eine ganz andere Botschaft: Sie wird durch eine Klassengesellschaft geprägt, in der die überkommenen Kastenstrukturen mit dem ständischen Dünkel des britischen Kolonialismus verschmolzen sind und die Spaltung in Reich und Arm unüberwindlich erscheint.

Wachsende Widersprüche

Daran änderte auch die zu Beginn der 1990er Jahre eingeleitete "Liberalisierung" wenig. Sie hat wohl dafür gesorgt, dass in einigen Sektoren der Hightech-Kapitalismus Einzug hielt und eine indische Mittelklasse entstehen konnte. Dadurch erscheinen die gesellschaftlichen Widersprüche aber nur noch deutlicher, weil grosse Teile des indischen Volkes von dieser Entwicklung ausgeschlossen bleiben. Einblick in die Verschärfung der Gegensätze erhält der Reisende kaum – vor allem dann nicht, wenn er sich hauptsächlich in den touristisch reizvollen Gegenden des südindischen Staates Kerala bewegt. Dort sind die sozialen und kulturellen Unterschiede dank starker linker Bewegungen nicht ganz so ausgeprägt wie in anderen Teilen des Landes. Fast überall wehen die roten Fahnen und Marx, Engels sowie Lenin grüssen von den Plakaten. Die in ihrer praktischen Politik eher als sozialdemokratisch zu bezeichnende CPI(M) – Kommunistische Partei Indiens (Marxisten) – wechselt sich seit Jahrzehnten mit der Kongress-Partei in der Regierung des Bundesstaates ab.

Schon bald nach der Unabhängigkeit wurden in Kerala reale Reformen, beispielsweise bei der Verteilung des Bodens, durchgesetzt. Doch auch hier gibt es Bäuerinnen und Bauern, die Suizid begehen, weil sie ihre Schulden nicht mehr bezahlen können – das ist seit einigen Jahren so etwas wie eine Epidemie in den ländlichen Regionen Indiens, in denen rund drei Viertel aller Bewohner und Bewohnerinnen dieses Landes leben. Gut ausgebildete junge Leute finden keine Stelle und müssen sich mit Aushilfsjobs über Wasser halten oder wandern aus, vor allem in den Nahen Osten.

Widerstand gegen Ausbeutung

Der indische Kapitalismus grenzt jene aus, die nicht gebraucht werden oder "stören" – weil sie beispielsweise Land bewirtschaften, dessen Rohstoffe ausgebeutet werden könnten. Immense Vorkommen von Bauxit, Eisenerz und anderen wertvollen Mineralien lagern vor allem dort, wo die Adivasi-Völker, die Ureinwohner Indiens, leben. Gemäss der indischen Verfassung stehen diese Völker unter dem besonderen Schutz des Staates und weder die Enteignung ihres Landes noch ihre Vertreibung ist erlaubt. Doch was tun, wenn der Einfluss der Rohstoffkonzerne auf den Staat und dessen Repräsentanten weitaus mächtiger ist als das geschriebene Recht dieser Völker?

Genau in diesen rohstoffreichen Zonen mit einer extrem armen Adivasi-Bevölkerung ist seit geraumer Zeit eine maoistisch inspirierte Widerstandsbewegung aktiv, die von der indischen Regierung unter dem Vorzeichen des "Krieges gegen den Terrorismus" bekämpft wird. Zwei unlängst erschienene Bücher aus dem Frankfurter Zambon-Verlag, der sich auf "revolutionäre" Literatur spezialisiert hat, befassen sich mit diesem Widerstand. Das eine wurde vom 1927 geborenen schwedischen Schriftsteller Jan Myrdal verfasst, der in den 1960er Jahren auch im deutschsprachigen Raum durch seine China-Bücher Bekanntheit erlangte. Das berühmteste unter ihnen war der Bericht aus einem chinesischen Dorf, den er zusammen mit seiner Ehefrau Gun Kessle verfasste und der 1966 – gerade zum Auftakt der Kulturrevolution – auf Deutsch erschien. Myrdal war als Reporter, Essayist und Romancier tätig, doch in den vergangenen Jahren wurde es ziemlich still um ihn.

"Frühlingsgewitter über Indien"

Myrdal lebte lange Jahre in Indien und schrieb India waits, dessen 1986 erschienene Übersetzung das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel als eines der bestinformierten Bücher über dieses Land bezeichnete. Für seine Recherchen besuchte er auch die "befreiten Gebiete" der maoistischen Guerilla. Diese in Indien als "Naxaliten" bekannte Bewegung entstand Mitte der 1960er Jahre, angeregt durch die Aufrufe Mao Zedongs an die "unterdrückten Völker der ganzen Welt", sich zu erheben. Im März 1967 hatten Plantagenarbeiter und Kleinbauern im westbengalischen Dorf Naxalbari unter Anleitung kommunistischer Kader eine Landnahmeaktion durchgeführt, deren Beispiel auch in anderen Dörfern des Distrikts aufgegriffen wurde. Am 5. Juli 1967 schrieb People’s Daily in Beijing, diese Erhebung sei der Donnerschlag eines "Frühlingsgewitters über Indien".

Im April 1969 entstand die Kommunistische Partei Indiens (Marxisten-Leninisten), die nach Maos Vorbild einen "Volkskrieg" organisieren wollte. Die bäuerliche Wut richtete sich gegen Landbesitzer und Regierungsbeamte, von denen viele ermordet wurden. Die Partei erhob die physische Vernichtung von "Klassenfeinden" zur politischen Linie, die in schrecklichen Niederlagen endete. Myrdal zeichnet die Geschichte des bewaffneten Widerstandes in Indien nach, wenn auch etwas sprunghaft und allzu impressionistisch – denn er verwebt seine eigene Geschichte als Antiimperialist und Kommunist (allerdings ohne Partei, wie er betont) mit jener der revolutionären Bewegungen seit der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen.

Terror gegen das Volk

Myrdals Buch Roter Stern über Indien ist auch der Bericht eines Besuches in den Wäldern von Dandakaranya, einer Region des zentralindischen Bundesstaates Chhattisgarh, wo die maoistische "Volksbefreiungsarmee" aktiv ist. Diese Region gehört zu einem "roten Gürtel", der sich im östlichen Teil der indischen Republik von der Grenze Nepals bis weit in den Süden entlang zieht. Die Regierung in Neu-Dehli hatte im Sommer 2009 die Operation "Grüne Jagd" ausgerufen und behauptet, den maoistischen Aufstand innerhalb von zwei bis drei Jahren niederschlagen zu können. Die Einladung an Jan Myrdal Ende 2009 war Teil einer Gegenstrategie der maoistischen Führung, sich an eine internationale Öffentlichkeit zu wenden und die eigene Sicht zu Gehör zu bringen.

Jan Myrdal versucht mit seinem Buch, die von der "Volksbefreiungsarmee" ausgeübte Gewalt als Teil des Überlebenskampfes der Ureinwohner zu erklären und zu rechtfertigen. Ja, es herrsche Terror, doch dieser gehe von jenen aus, die im Interesse von mächtigen Bergbau- und Stahl-Konzernen die Adivasis von ihrem Land vertreiben und ihre Dörfer niederbrennen würden: Terror gegen das Volk, der von diesem mit bewaffnetem Widerstand beantwortet werde. Für Myrdal stehen die maoistischen Rebellen dem von Regierung und Konzernen definierten "Fortschritt" Indiens im Wege. Die Guerilleros entwickeln Gedanken, die Myrdal an Diskussionen in China während der Zeit der Kulturrevolution erinnern: Es gibt nicht nur einen Weg zur Industrialisierung – und damit zum Fortschritt, der sowohl im Westen als auch früher in der Sowjetunion (sowie heute wieder in China) als Entwicklung zur Megamaschine verstanden wurde bzw. wird.

Gandhis Traum von Befreiung

Kurz nach Myrdal ging auch die 1961 in Kerala geborene Schriftstellerin Arundhati Roy, die durch ihren 1997 erschienenen Roman Der Gott der kleinen Dinge weltweit berühmt geworden ist, in den Dschungel von Dandakaranya und berichtete zuerst in die indischen Zeitschrift Outlook (21. März 2010) darüber. Die Reportage wurde unter anderem auf Deutsch übersetzt und ins Netz gestellt. Jetzt liegt sie, zusammen mit weiteren Texten von Roy, auch in Buchform vor. Ihre Herangehensweise ist eine andere als die von Myrdal: Sie beobachtet sehr genau, schildert höchst anschaulich, reflektiert das Erlebte, ist aber nicht so stark auf ihre eigene Geschichte bezogen, wie dies bei Myrdal der Fall ist.

In indischen wie westlichen Medien wird vielfach die These vertreten, die Maoisten würden sich lediglich der Stammesvölker bedienen, um ihre eigenen Ziele zu verfolgen, und diese Völker seien gefangen im Kreuzfeuer zwischen dem Staat und den Maoisten. Arundhati Roy stellt die These in Frage und will genauer wissen, wie beide Seiten – Stammesvölker und kommunistische Kader – einander beeinflussen. Auf ihrer Wanderung durch die Wälder hört sie die Berichte von Angriffen der Polizei und bewaffneter Banden von Grossgrundbesitzern auf Adivasi-Dörfern, diskutiert mit Genossinnen über deren Kampf gegen traditionelle Formen der Diskriminierung in den Stammesgesellschaften, gegen Zwangsehen, Bigamie und häusliche Gewalt. Roy fragt: Wo wäre das Volk in Dandakaranya jetzt, wenn es in den vergangenen 30 Jahren nicht den lange andauernden Krieg geführt hätte?

Man dürfe nicht zu hart über die Maoisten urteilen, meint die Schriftstellerin. Die Rede von der Überlegenheit des gewaltfreien Weges sei angesichts der Erfahrungen der Adivasi-Völker ein "frommer Humbug" der Gandhianer – ebenso Gandhis Glaube, dass die Reichen ihren Besitz als "Treuhänder" zum Wohl der Allgemeinheit einsetzen würden. Doch so paradox dies klingen mag: Die "Naxaliten" tragen etwas von Gandhis Traum eines wahrhaft befreiten Indiens weiter.

Jan Myrdal: Roter Stern über Indien. Wenn die Verdammten dieser Erde sich erheben. Impressionen, Reflexionen und vorläufige Folgerungen. Übersetzt aus dem Englischen von Einar Schlereth. Frankfurt/M.: Zambon Verlag 2011, 156 Seiten.

Arundhati Roy: Wanderung mit den Genossen. Mit den Guerilleros im Dschungel Zentralindiens. Texte herausgegeben und übersetzt von Einar Schlereth. Frankfurt/M.: Zambon Verlag 2011, 153 Seiten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert

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