Die Krankheit unserer Welt

Rezension Der globalisierte Kapitalismus hat den Siegeszug angetreten, mit dramatischen Folgen: Unsicherheit und Gewalt nehmen zu. Alain Badiou sucht nach Erklärungen und Auswegen

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Ist man Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung, fällt es einem nicht schwer, die Welt zu erklären. So brachte es Eric Gujer kürzlich auf die Formel: Rechter Nationalismus und linke Globalisierungskritik wollten eigentlich das gleiche – «die Zumutungen der Moderne abwehren» (NZZ, 18./19. Juni 2016). Ersetzen wir das Wort «Moderne» durch «Kapitalismus», so kommen wir der Sache schon etwas näher. Die Nationalisten glauben (oder wollen zumindest glauben machen), dass nur durch ein Zurück zum Nationalstaat einstigen Glanzes ein ausreichendes Mass an notwendiger Sicherheit möglich bleibe. Dieses Versprechen soll zuvorderst den «Eigenen» gelten, die gegen die «Fremden» in Stellung gebracht werden. Was die Nationalisten verbreiten, ist allerdings pure Ideologie: Der globale gewordene Kapitalismus kümmert sich doch immer weniger um vermeintliche nationale Interessen.

Von den Nationalisten kommt keine Fundamentalkritik am kapitalistischen System. Sie wollen lediglich dafür sorgen, dass dessen knapper werdenden Früchte bei den «Richtigen» landen. Hingegen versucht linke Globalisierungskritik, Zusammenhänge zu ergründen zwischen den Reichtum der einen und dem Elend der anderen – und wie sich die schreienden Ungerechtigkeit korrigieren liesse. Insofern erweist sich die Gujer’sche Gleichung als ein Versuch, wesentliche Fragen unserer Zeit zu verdrängen und keine Zweifel am Geist der «Moderne» aufkommen zu lassen.

Entfesselung destruktiver Kräfte

Eine davon grundlegend verschiedene Sichtweise verfolgt der französische Philosoph Alain Badiou. Seiner jüngsten Publikation liegt eine Rede zugrunde, die Badiou zehn Tage nach den terroristischen Morden in Paris gehalten hatte. Diese Fragestellung unterscheidet sich von jener, die Eric Gujer im erwähnten Leitartikel behandelt. Doch es wird sich weisen, was das eine mit dem anderen zu tun hat.

Alain Badiou erklärt, die emotionalen Reaktionen auf die Morde vom 13. November 2015 seien unvermeidlich, doch er halte es für gefährlich, wenn der Affekt die Oberhand gewinne: Dann verwandle sich die Suche nach Recht und Gerechtigkeit in Rache – und diese setze einen «Teufelskreis von Gräueltaten in Gang». Um dieser und anderen Gefahren zu widerstehen, sei es notwendig, das Geschehene zu denken. Badious Vorschlag lautet: Die Massenmorde von Paris sollten als «eines von vielen Symptomen der schweren Krankheit der heutigen Welt» behandelt und «mögliche Wege für eine langfristige Genesung von dieser Krankheit» aufgezeigt werden. Die «Krankheit» unserer Welt hat mit dem «Triumphzug des globalisierten Kapitalismus» zu tun, den wir seit den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts erleben. Hier zeige sich, so erklärt Badiou, die «Ur-Energie des Kapitalismus», seine destruktive Kraft, die sich inzwischen auch gegen die Staatenwelt wendet. Das nennt der Autor ein «pathologisches Phänomen», denn zu seiner Durchsetzung war der Kapitalismus auf die Entwicklung von Nationalstaaten angewiesen gewesen.

Eine höchst ungleiche Verteilung

Doch inzwischen ist der Kapitalismus in seiner transnationalen Phase angelangt und setzt sich über diese Staaten hinweg. Damit wird zugleich der nach 1945 zeitweise erfolgreiche Versuch untergraben, ihn durch Kompromisse zu mässigen. Mit seinem «objektiven Sieg» gehe auch ein subjektiver einher: «Der blossen Idee, es gäbe einen anderen möglichen Weg, wurde der Boden vollständig entzogen», hält Badiou fest. Es ist wohl nicht ganz zufällig, dass diese Alternative, die unter dem Namen «Kommunismus» gefasst wurde, gerade in den 1970er Jahren ihre Attraktivität endgültig (oder bloss bis auf weiteres?) verloren hat.

Der globalisierte Kapitalismus kennt, grob gesagt, drei Klassen: eine Oligarchie aus rund zehn Prozent der Weltbevölkerung, vergleichbar mit dem einstigen Adel, die über 86 Prozent aller Ressourcen verfügt. Ein Teil davon ist das oberste eine Prozent, das alleine über 46 Prozent der verfügbaren Ressourcen gebieten kann. Die Hälfte der Menschheit gehört zu den Mittellosen, die nichts besitzen. Bleiben noch 40 Prozent der Weltbevölkerung, die Badiou die «Mittelschicht» nennt. Sie teilt sich in die restlichen 14 Prozent der verfügbaren Ressourcen. Über die Begriffe lässt sich streiten, doch entscheidend sind die Proportionen: Das berühmte «eine Prozent» der Menschheit verfügt über fast die Hälfte aller Reichtümer dieser Erde, und am anderen Ende der Leiter leben Milliarden, die nichts haben und «überflüssig» sind. Das Kapital braucht sie ganz einfach nicht!

Formen der Subjektivität

Den drei Klassen stellt Badiou drei Subjektivitätstypen zur Seite. Das sind «psychische Verfassungen», die die Welt, «wie sie jetzt ist», hervorbringt: «die westliche Subjektivität, die Subjektivität der Sehnsucht nach dem Westen, was nicht dasselbe ist, und das, was ich die nihilistische Subjektivität nennen möchte». Die westliche Subjektivität zeichnet sich durch eine «dialektische Beziehung zwischen arroganter Selbstgefälligkeit und ständiger Angst» aus: selbstgefällig, weil man an den Segnungen des modernen Lebensstils teilhat, aber zugleich immer voller Angst, dass es nicht reichen könnte und man verarmen müsste. Diese Verängstigten sind das Futter für die rechten Populisten.

Unter denen, die keinen ausreichenden Zugang zu Ressourcen finden, haben sich zwei unterschiedliche Typen von Subjektivität entwickelt: Die einen versuchen, sich das Verhalten und den Konsum der globalen Mittelschicht zu eigen zu machen und begeben sich beispielsweise auf den gefahrvollen Weg der Migration. Der nihilistische Typ hingegen verdrängt seine Sehnsucht nach dem Westen und gibt sich den Wünschen nach Rache und Zerstörung hin. Diese Subjektivität gedeiht insbesondere in den von der staatlichen Macht verlassenen Zonen und folgt der «Logik der Bande». Die entstaatlichten Zonen sind durchaus an den Weltmarkt angebunden, wie sich dies etwa beim «Islamischen Staat» zeigt, der ja auch ein Wirtschaftsunternehmen ist.

Alternativen entwickeln

Der Faschismus eines IS sei also «in Wirklichkeit ein inhärenter Bestandteil der Struktur des globalisierten Kapitalismus» und nicht einfach nur Ausdruck einer gegen die «Zivilisation» gerichteten «Barbarei». Der Westen selbst habe durch den globalisierten Kapitalismus, imperiale Akte und die Gefährdung der Staatenwelt dazu beigetragen, dass dieser Faschismus sich breitmachen kann, erklärt Badiou. Was ist zu tun? Der Autor hält nichts von einem «Krieg» gegen die «Barbaren». Entscheidend sei, zu einer emanzipatorischen Politik zurückzukehren, die eine neue Subjektivität schafft, «die die Herrschaft des globalisierten Kapitalismus hinter sich lassen will, ohne sich im Nihilismus einzurichten».

Die heutige Welt und ihre Exzesse von Frustration und Gewalt lassen sich nicht begreifen, wenn man das Ganze nicht in den Blick bekommt. Der nächste Schritt ist dann, über Alternativen nachzudenken und sie im Rahmen der eigenen Möglichkeiten Wirklichkeit werden zu lassen. Auch wenn Alain Badiou dazu wenig sagt, sind seine Denkanstösse gewiss gehaltvoller als die Kommentare eines NZZ-Chefredakteurs.

Alain Badiou: Wider den globalen Kapitalismus. Für ein neues Denken in der Politik nach den Morden von Paris. Aus dem Französischen von Caroline Gutberlet. Berlin: Ullstein Buchverlage 2016, 64 Seiten, 7.00 €

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Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert

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