Die Sache mit den «christlichen Werten»

Rezension Heute erleben wir wieder Formen eines «Kulturkampfs» – diesmal im Zeichen der Abwehr gegen einen bedrohlich wirkenden Islam. Lässt sich aus der Geschichte etwas lernen?

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Im Herbst des vergangenen Jahres lancierte der Präsident der schweizerischen Christlich-Demokratischen Volkspartei (CVP), Gerhard Pfister, eine Debatte über «christliche Werte». Es müsse wieder darüber gesprochen werden, «was bei uns gilt», liess er verlauten (Neue Zürcher Zeitung, 8. Oktober 2016). Wer beispielsweise den Handschlag verweigere, breche die Regeln des Zusammenlebens, die für den CVP-Mann eindeutig aus der christlich-abendländischen Tradition abzuleiten sind. Aufmerken lässt seine Erklärung, das Judentum gehöre «indirekt» zur «historischen Prägung» der Schweiz, weil wir doch «jüdisch-christliche Wurzeln» hätten. Pfister verwendet dieses Bild, vermeidet es aber, auf die leidvolle Geschichte des Verhältnisses zwischen Christen und Juden einzugehen.

Die «christlichen Werte» kommen heute vor allem dann ins Spiel, wenn es um die Auseinandersetzung mit dem Islam bzw. dem Islamismus geht. Für Pfister und viele konservative Kreise gehört der Islam eindeutig nicht zur Schweiz. Der Christdemokrat bezweifelt, «dass gewisse Ausprägungen des Islams mit dem Rechtsstaat kompatibel sind», ohne genauer zu formulieren, was er eigentlich damit meint.

Eine Frage der Zugehörigkeit

Kulturelle Konflikte der Gegenwart wie der Vergangenheit entzünden sich an religiösen Fragen und konfessionellen Kontroversen, doch im Kern dieser oft sehr erbittert geführten Kämpfe geht es um die Frage, wer zum Gemeinwesen dazugehören soll und wer nicht. Das lässt sich am Beispiel der Schweiz des 19. Jahrhunderts sehr gut verdeutlichen. Ein Buch mit Essays des Historikers und politischen Aktivisten Josef Lang sowie des Schriftstellers Pirmin Meier beleuchtet die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen Reformierten und Katholiken vor und nach der Gründung des Bundesstaates. Diese waren zugleich Konflikte zwischen liberal-progressiven Katholiken und Reformierten einerseits und konservativen Reformierten und Katholiken auf der anderen Seite.

An dieser Stelle gehe ich hauptsächlich auf den Essay von Josef Lang ein, weil er das Thema systematisch behandelt, während der Text von Pirmin Meier eher bruchstückhaft wirkt. Lang hält fest, die «schwierigste Erbschaft aus der Alten Eidgenossenschaft» und das grösste Hindernis auf dem Weg zu einer Nation sei «die konfessionelle Zweiteilung» des Landes gewesen. Der letzte Konfessionskrieg auf europäischem Boden hatte Anfang des 18. Jahrhunderts in der Schweiz stattgefunden – mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden von 1648, der den bewaffneten Kämpfen im Namen einer Konfession ein Ende hätte bereiten sollen. Die Vorkämpfer für ein geeintes «Vaterland» Schweiz im frühen 19. Jahrhundert wussten, dass «die Religion als Grundlage eines gemeinsamen Staates nicht infrage kam»: Die staatsbürgerliche Zugehörigkeit musste von der konfessionellen getrennt werden.

Kampf um den säkularen Staat

Kenntnisreich beschreibt der Historiker die Kontroversen zwischen den liberalen und konservativen Parteiungen, die von den konfessionellen Lagern gekreuzt wurden. So waren unter jenen, die für den Bundesstaat eintraten, sowohl Reformierte wie Katholiken, und Sonderbünde wurden nicht nur von Katholisch-Konservativen geschmiedet. Den Kampf für die Aufhebung der Klöster und gegen die Jesuiten führten sowohl liberal-progressive Protestanten wie Katholiken. Lang weist darauf hin, die katholischen Radikalen seien dabei viel «entschlossener» gewesen als ihre protestantischen Partner. Das hat mit ihrer antiklerikalen Haltung zu tun, die sich insbesondere gegen die Jesuiten als Propagandisten eines «ultramontanen», die Vormacht der römischen Kirche stützenden Fundamentalismus richtete.

Gegen den Widerstand der konservativen Kräfte wurde mit der Bundesverfassung von 1848 ein Staat auf nicht-konfessioneller, dafür aber «christlicher» Grundlage geschaffen. Nicht-Christen, also insbesondere Juden, hatten dort keinen Anspruch auf die Grundrechte der Religions- und Niederlassungsfreiheit. Josef Lang nennt dies eine «schwerwiegende und verhängnisvolle Fehlentscheidung». Diese wurde erst mit der Bundesverfassung von 1874 korrigiert. Auch hier hatten katholisch-konservative Kreise heftig opponiert – insbesondere gegen die Emanzipation der Juden. Die katholischen Radikalen trugen jedoch entscheidend dazu bei, dass die Schweiz mit dieser Verfassung ein säkularer Staat werden konnte.

Integration des «Fremden»

Der «radikalen Progression» der frühen 1870er-Jahre folgte «eine konservative Regression, in der es erstmals zu einem nachhaltigen Bündnis der beiden konfessionellen Konservativismen kam», schreibt Lang. Der Freisinn geriet nach dem Ende des Kulturkampfs in eine Orientierungskrise und hat sich bis heute zu einem Wirtschaftsliberalismus gewandelt. Dieser übt zusammen mit den ursprünglich reformierten Nationalkonservativen, die inzwischen aber auch in die katholischen Stammlande eingedrungen sind, die politische Hegemonie in der Schweiz aus – wenn auch nicht immer ganz unbestritten.

Eine erfolgreiche Form der Sicherung von Herrschaft besteht darin, Fragen der Zugehörigkeit zum Gemeinwesen vor allem unter ethnisch-religiösem Aspekt abzuhandeln. Dies geschieht nun auch in der Debatte um die Stellung der Muslime in unserer Gesellschaft. Ihrer rechtlichen Gleichstellung scheint die fehlende Kompatibilität ihrer Religion mit unserer Kultur entgegenzustehen. Dieser Form der Herrschaft durch Aufteilung in solche, die «passen» und jene, die «nicht dazugehören», muss und kann entgegengetreten werden. So nennt Josef Lang im Gespräch mit Pirmin Meier, das den Mittelteil des Bandes bildet, die Gleichstellung von Islam und Judentum mit dem Christentum als eine der grössten Herausforderungen heute.

Das Buch über den Kulturkampf des 19. Jahrhunderts macht auf wichtige Erfahrungen, Erfolge und Niederlagen, im Kampf um die Integration des «Fremden» aufmerksam und sollte noch breitere Beachtung finden.

Josef Lang, Pirmin Meier: Kulturkampf. Die Schweiz des 19. Jahrhunderts im Spiegel von heute. Baden: Verlag Hier und Jetzt 2016, 144 S.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert

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