Ein chinesischer Blick auf die Welt

Rezension Die Angst vor der Systemkonkurrenz geht wieder um: Angst vor China. Dieses Land besinnt sich auf seine geistigen Ressourcen. Eine Auseinandersetzung damit ist gefragt

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China scheint auf der Suche nach einer neuen «großen Erzählung» zu sein
China scheint auf der Suche nach einer neuen «großen Erzählung» zu sein

Foto: Lintao Zhang/Getty Images

Das Verhältnis zwischen dem Westen und China war auch schon besser als heute. Die von Deng Xiaoping Ende der 1970er Jahre angestoßene Reformpolitik hatte einst die Herzen hierzulande höherschlagen lassen: Da öffnete sich ein riesiger Markt von Arbeitskräften und potenziellen Konsumenten. Das Kapital investierte, anfänglich zurückhaltend, dann immer mutiger, im nominell noch «kommunistischen» China. Den Machthabern in Beijing war es recht, denn sie glaubten, dass ihr gewaltiges Reich nur auf diese Weise der Armut entkommen könne.

Zwar gab es Rückschläge, doch die Verlockungen durch Extraprofite waren stärker als die Bedenken, ein autoritäres Regime zu stützen. Zudem glaubten die Verantwortlichen im Westen an die These von Francis Fukuyama vom «Ende der Geschichte», die den liberalen Kapitalismus als Zielpunkt jeglicher Entwicklung verstand. Die wirtschaftlichen Reformen Chinas würden über kurz oder lang politische Umwälzungen nach sich ziehen, lautete das Credo des Westens.

Suche nach einer neuen Erzählung

Mit Xi Jinping hat sich nun allerdings einiges geändert. Jetzt zeigt sich, dass die Führung dieses Landes keineswegs die Absicht hat, dem westlich-kapitalistischen Weg zu folgen, sondern – wie schon unter Mao Zedong – seinen eigenen Weg gehen will. Mao strebte den Sozialismus oder gar Kommunismus an. Was die heutigen Machthaber wollen, ist weniger klar. Sie praktizieren eine Form von Staatskapitalismus, der mit kommunistischen Parolen garniert ist.

Dieses Land scheint auf der Suche nach einer neuen «großen Erzählung» zu sein, denn das Wirtschaftswachstum allein reicht nicht aus, um die Notwendigkeit einer bestimmten politischen Ordnung zu begründen. Hier kommt die Geschichte ins Spiel, die für China eine entscheidende Rolle spielt. Wir sprechen von einer annähernd 5000jährigen Kultur, deren vielschichtige Einflüsse heute noch nachweisbar sind. Der anhaltende Kampf um die Einheit dieses «Reiches der Mitte» und das Wirken widerstrebender Kräfte – das ist der historische Fundus, auch dem sich sogar die Kulturrevolutionäre Mao Zedongs reichlich bedient haben.

Chinesische Renaissance

Das neue China, das vor unseren Augen entsteht, begründet sich nicht nur machtpolitisch, sondern es sucht sein Fundament in einer Vergangenheit, die ganz gegenwärtig ist. Die heutige Führung bezieht sich wieder verstärkt auf ein traditionelles chinesisches Denken, das sich beispielsweise in der Gestalt des Konfuzius (ca. 551 – 479 vor unserer Zeitrechnung) kristallisiert hat. Noch in der Kulturrevolution war es darum gegangen, Konfuzius als Vertreter einer feudalistischen Philosophie zu kritisieren, denn man wollte mit den Hinterlassenschaften des alten Chinas – Feudalismus, Kolonialismus und Imperialismus – endgültig brechen.

Doch dann brach die Führung unter Deng und seinen Nachfolgern mit dem revolutionären Denken der Mao-Ära. Dadurch entstand ein geistig-moralisches Vakuum, das mit dem Streben nach Geld und Einfluss nicht gefüllt werden konnte. Inzwischen zeichnet sich immer deutlicher die Renaissance genuin chinesischer Konzepte ab. Ein Beispiel dafür ist der in Beijing tätige Philosoph Zhao Tingyang, dessen 2016 erschienenes Buch Alles unter dem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung inzwischen auch in einer deutschen Übersetzung vorliegt.

Kooperation zum Wohle aller

Das Konzept der «Tianxia», zu Deutsch: «Alles unter dem Himmel», gehört ins Zentrum der klassischen chinesischen Philosophie. Zhao (das ist sein Familien-, nicht sein Vorname!) führt uns zurück zum geschichtlichen Ort des Entstehens dieses Begriffs. Das war vor etwa 3000 Jahren. Aus der Konkurrenz verschiedener Kleinstaaten in der nordwestlichen Zentralebene Chinas heraus entstand eine Koalition verschiedener Stammesführer, die in wichtigen gemeinsamen Fragen – beispielsweise der Wasserregulierung und der Festlegung von Massen und Gewichten, aber auch der Riten und Auszeichnungen – eine Kooperation ermöglichte. Keiner unter ihnen konnte die Rolle eines Hegemons ergreifen. Dieses System wurde durch die Attraktivität gemeinsamen Nutzens zusammengehalten. Zhao sieht in diesem geschichtlichen Experiment den Kern einer möglichen Weltpolitik.

«Tianxia» bedeutet den Einschluss der ganzen Welt, die kein Aussen mehr kennt. Eine auf diesem Konzept beruhende Weltpolitik würde umfassende Kooperation zum Wohle aller daran Beteiligten ermöglichen, ist Zhao überzeugt. Er sieht die Kernfrage globaler Politik darin, ob es möglich sein wird, die «‹Inklusion der Welt›» zu schaffen – «und genau das meint die Umwandlung der Welt gemäß dem ‹Alles unter dem Himmel›».

Kritik der alten Weltordnung

Die Gedanken des chinesischen Philosophen erregen Widerspruch, weil sie allzu gut in das politische Programm von Xi Jinping zu passen scheinen. So spricht Xi zum Beispiel von einer «Schicksalsgemeinschaft der Menschheit». Trifft er damit nicht den Nerv unserer Zeit, die vor scheinbar unlösbaren globalen Problemen wie dem Klimawandel steht? Westliche Kritik befürchtet aber, dahinter stehe der Versuch, eine alternative globale Ordnung chinesischer Prägung zu schaffen, die nichts von einer Allgemeingültigkeit der Menschenrechte wissen wolle.

Die immer noch von der Hegemonie des Westens, insbesondere der USA, geprägte internationale Ordnung unterzieht Zhao einer radikalen Prüfung. Er versucht nachzuweisen, dass die herrschende politische Logik nicht in der Lage sei, «eine Weltordnung allgemeiner Teilhabe zu entwickeln und Probleme im Weltmaßstab zu lösen». Eine «neue Tianxia» hingegen könne dafür eine Basis schaffen, ist er überzeugt.

Ich empfehle die Lektüre dieses Buches, weil es hilft, mit einem Blick von aussen an grundlegende Fragen unserer Zeit heranzugehen.

Zhao Tingyang: Alles unter dem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung. Aus dem Chinesischen von Michael Kahn-Ackermann. Suhrkamp Verlag, 2020, 266 S.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert

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