Ein erneuerter Humanismus

Rezension Der französische Philosoph Alain Badiou ist zumindest im deutschsprachigen Raum immer noch so etwas wie ein Geheimtipp. Er gehört zu den radikalen Denkern unserer Zeit.

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Um gleich mit einem «Bekenntnis» zu beginnen: Meine besondere Affinität zum Werk von Alain Badiou hat damit zu tun, dass sein Denken ganz entscheidend von den Ereignissen des Jahres 1968 geprägt wurde und er – anders als viele andere führende Köpfe jener Zeit – den grundlegenden Impulsen von damals treu geblieben ist. In diesem Sinne bleibe auch ich mit 1968 verbunden (ohne mich sonst mit Badiou vergleichen zu können). Die Geschichte der Achtundsechziger-Generation scheint sich mit deren Älterwerden allmählich zu erledigen. Das zeigt sich beispielhaft in den aktuellen Kämpfen um die Führung der deutschen Grünen: Die aus dem Kreis der Gründer und Gründerinnen der Partei noch Verbliebenen schiebt man nun endgültig in den Ruhestand ab.

Die Sache der Achtundsechziger und Achtundsechzigerinnen soll damit auf gleichsam biologische Weise geklärt werden. Die Behauptung Badious, so wie ich sie verstehe, lautet allerdings ganz anders: Der entscheidende Antrieb, der sich in der damaligen Bewegung gezeigt hat, ist noch längst nicht erledigt, denn die Emanzipation, die Befreiung der Mehrheit aus der Knechtschaft der Wenigen, steht immer noch aus!

Werdegang eines Streitbaren

Alain Badiou wurde 1937 in Marokko geboren und studierte in Frankreich Philosophie sowie Mathematik. Seine Lehrer waren Louis Althusser sowie Jacques Lacan. Nach den Ereignissen des Mai 1968 kritisierte er diese vehement. Beide hatten nämlich nichts von der Bedeutung des Aufbruchs begriffen. Insbesondere Lacan verurteilte die Revolte explizit und erklärte, die Bewegung sei nichts als eine hysterische Krisenerscheinung. Dagegen Badiou in seinem 1975 erschienenen Büchlein Théorie de la contradiction (Theorie des Widerspruchs): «Ich gebe ohne Zögern zu, dass der Mai 68 für mich, in philosophischer wie in jeder anderen Hinsicht, ein wahrer Weg nach Damaskus war.» Damit verweist er auf das Erlebnis des späteren Apostels Paulus, der auf jenem Weg nach Damaskus eine Erfahrung – die Begegnung mit Gott – machte, die sein Leben entscheidend verwandeln sollte. Badiou ist Atheist, trotzdem spielt die Begegnung mit der christlichen Theologie in seinem Werk keine unwesentliche Rolle.

Badiou wurde Mitglied der Union der jungen marxistisch-leninistischen Kommunisten (UJCML), einer an der chinesischen Kulturrevolution orientierten Gruppierung. Seine ersten Publikationen standen noch ganz unter dem Einfluss des Maoismus und wurden vor allem von Mao Zedongs Schrift Über den Widerspruch inspiriert. Während sich die ebenfalls aus der Achtundsechziger-Revolte herkommenden «neuen Philosophen» wie Bernard-Henri Lévy bald einmal wieder mit dem Kapitalismus versöhnten, arbeitete Badiou weiter an einer grundlegenden Kritik des Systems.

Die Krise des Politischen

Das im Jahr 1982 erschienene Buch Théorie du sujet (Theorie des Subjekts) war immer noch vom linken Radikalismus bestimmt – doch die gegen Ende der 1970er Jahre offenkundig gewordene Krise des Marxismus und das Scheitern der Kulturrevolution in China forderten zu einer vertieften Auseinandersetzung mit den Fragen einer revolutionären Politik heraus. Ist Politik denkbar? (1985 erschienen, deutsche Übersetzung 2010) setzt sich damit auseinander. Badiou treibt die bittere Erkenntnis an, dass der Versuch, über die Macht des Staates und der Partei emanzipatorische Politik in die Wirklichkeit umzusetzen, in eine historische Sackgasse geführt hat. Diese Einsicht wird zum Ausgangspunkt seiner weiteren philosophischen Anstrengungen.

Ist Politik denkbar? markiert in Badious Arbeiten einen Übergang. Mit der Krise des Marxismus tritt für ihn eine weit umfassendere Krise ans Licht, nämlich jene des Politischen überhaupt. Hat die Idee einer emanzipatorischen Politik noch eine Zukunft, oder geht es bloss darum, das Bestehende bestmöglich zu verwalten? Das Entstehen der polnischen Solidarność, einer unabhängigen Gewerkschaftsbewegung von Arbeitern und Arbeiterinnen unter den Bedingungen des «real-existierenden Sozialismus», im Jahr 1980 war ein Hinweis darauf, dass ein neuer Begriff von Politik erarbeitet werden muss, der sich nicht auf die vermeintliche Alternative «Kapitalismus oder Staatssozialismus» reduzieren lässt.

Sein und Mengenlehre

Ein neues Denken der Politik erfordert eine ganz neue philosophische Konstruktion, die ein solches Denken überhaupt erst ermöglicht. Die Grundzüge seiner Philosophie entwickelt Alain Badiou dann im Hauptwerk Das Sein und das Ereignis, das 1988 erscheint (deutsch 2005). Hier kommt ihm das Studium der Mathematik zugute, indem er der Ontologie, der Wissenschaft vom Sein, durch den Beitrag der Mengenlehre ein neues Fundament vermittelt. Für den Leser, der wenig Ahnung davon hat, wird es jetzt ziemlich schwierig. Versuchen wir’s trotzdem: Badiou möchte den philosophischen Idealismus vermeiden, der für die bisherige Philosophie in Fragen der Ontologie eine «Standardposition» dargestellt hat (so der US-amerikanische Philosoph Ed Pluth, auf dessen Arbeit zu Badiou ich mich stütze). Der Idealismus denkt das Sein aus der Perspektive des Subjekts. Hingegen kann die Mengenlehre ein Sein untersuchen, «in dem das, was menschliche Subjekte erfahren und wahrnehmen, nicht von Bedeutung ist» (Pluth). Das Sein setzt sich aus einer Vielheit von Vielheiten zusammen – und die besondere Stärke der Mengenlehre besteht darin, dass sie keine Definition von Vielheiten verlangt. Sie beschränkt uns zudem nicht auf Überlegungen über natürliche Objekte und Objekte der Erfahrung. Sie ermöglicht vielmehr eine «nichtmenschliche Herangehensweise an die Vielheit».

In diesem Zusammenhang kann auf die Arbeit eines Schülers von Alain Badiou, Quentin Meillassoux (Nach der Endlichkeit, 2006 veröffentlicht, deutsch 2008), verwiesen werden, der über die Frage nachdenkt, ob es eine Erscheinung jenseits des Bewusstseins gebe. Meillassoux greift zum «anzestralen» Argument: Anzestral ist jede Wirklichkeit, die dem Aufkommen der menschlichen Gattung vorausgeht. Kurz gesagt: Dieser durch die Mengenlehre bereicherte Materialismus reduziert das Sein nicht auf ein Wahrgenommen-werden. Darüber hinaus hält er fest, dass das Sein als Vielheit der Vielheiten letztlich «Leere» ist. Jede konkrete Situation beruht gemäss Badiou auf dem Ausschluss der Leere – und ein Hauptmerkmal der Mengenlehre besteht darin, diesen Ausschluss zu berücksichtigen.

Dialektisches Denken

Viele Thesen, die sich hier nur zitieren, aber nicht weiter begründen lassen. Wozu soll der «theoretische Antihumanismus», wie Ed Pluth das Konzept von Alain Badiou nennt, gut sein? Pluth meint, dass ähnliche Thesen über die Mannigfaltigkeit, die Leere und das Sein auch auf anderem Weg als über die Mengenlehre entwickelt werden könnten. Insofern besitzt Badious Zugang etwas Zufälliges. Trotzdem erweist sich dieser Weg als besonders produktiv, weil er auch zu anderen Fragen, mit denen die Philosophie befasst ist, neue Antworten entwickelt. Aus der These vom Sein als Vielheit der Vielheiten folgt die Einsicht, dass das Sein eine vielfache Unendlichkeit darstellt. Badiou weist die Behauptung, die Unendlichkeit sei eine Totalität, zurück und schlussfolgert daraus, dass es die «Eins» – verstanden als das Absolute, Allmacht, «Gott», oder was auch immer – nicht gibt.

Die «Zwei» hat gemäss Badious Verständnis von Dialektik (und hier folgt er noch immer Mao Zedong) den Vorrang vor jeder «Eins». Diese These erläutert er bemerkenswerter Weise an einem Beispiel aus der christlichen Theologie, das Wesen von Christus betreffend. In der Frühzeit der Kirche stritten sich die Gelehrten nämlich darüber, ob Christus letztlich menschlicher oder göttlicher Natur sei. Die «Linksabweichler» sahen in Christus den blossen Menschen, die «Rechtsabweichler» den reinen Geist. Korrekt war aber die dialektische Sichtweise, nach der sich Gott durch seinen Eintritt in die Welt verändert hat, so wie sich auch die Welt durch diesen Eintritt verändert – Christus also beides in sich vereint: wahrer Gott und wahrer Mensch.

Suche nach Wahrheit

Ed Pluth weist darauf hin, dass bei Badiou viele Begriffe eine Rolle spielen, die sonst in einem religiösen Kontext verwendet werden. Zu ihnen gehört insbesondere der Begriff der Wahrheit. Alain Badiou kritisiert die herrschende Ideologie, die keine anderen Wahrheiten ausser dem Tod kennt, und deshalb die Flucht in den Genuss empfiehlt. Für das gängige Bewusstsein gilt die Frage nach der Wahrheit als eine «fundamentalistische» Gefahr, der man möglichst aus dem Weg gehen sollte. Für Badiou hingegen gibt es Prozeduren zum Erkennen von Wahrheiten – und er beruft sich dabei wieder auf Paulus. Entscheidend ist der Glaube, dass es eine Wahrheit gibt (im Fall von Paulus die Auferstehung). Dieser Glaube vermittelt ein Wissen, aus dem Vertrauen entsteht.

Der Apostel hatte die Gewissheit, dass mit der Auferstehung die zentralen Unterscheidungen in der römischen Welt – beispielsweise zwischen Freien und Sklaven – für die christliche Gemeinschaft keine Bedeutung mehr besitzen. Er betonte den Vorrang des Universellen gegenüber den bisherigen Identitäten. In dieser Weise sollte auch heute ein auf Emanzipation orientiertes politisches Handeln begründet werden. Dass sich dieses Handeln jenseits des bürgerlichen Staates vollziehen soll, ist eine These, die ich an dieser Stelle nicht weiter ausführen kann. Pluth kommt auf jeden Fall zum Schluss, dass sich Badiou in diesem Punkt vom marxistisch-leninistisch-maoistischen Konzept der Eroberung der Staatsmacht entfernt hat. Er nennt dies das «Modell der Subtraktion», welches es möglich macht, jene Aspekte einer politischen Bewegung zu betonen, die aus eigener Kraft das schaffen will, worum es ihr geht.

Fazit: Badious theoretischer Antihumanismus ist mit der Erneuerung eines praktischen Humanismus verbunden, der den Menschen nicht auf die Rolle eines passiv Geniessenden reduziert, sondern ihm einiges zutraut.

Noch etwas zu den beiden Büchern, die mich zum vorliegenden Text angeregt haben. Bruno Bosteels, der Badious Bücher ins Englische übersetzt, lehrt Romanistik in Ithaca / New York. Er beleuchtet das Werk von Badiou vor allem auf dem Hintergrund biografischer Entwicklungen, ohne eine eigentliche Biografie zu präsentieren. Ed Pluth hingegen, der Philosophie an der California State University lehrt, geht eher systematisch vor. Beide Bücher geben einen guten Einblick in das Denken von Alain Badiou.

Bruno Bosteels: Alain Badiou – Werdegang eines Streitbaren. Aus dem Französischen von Roland Holst. Hamburg: LAIKA Verlag 2012, 189 S., € 19.90.

Ed Pluth: Badiou – eine Philosophie des Neuen. Übersetzt aus dem US-amerikanischen Englisch von Harald Etzbach. Hamburg: LAIKA Verlag 2012, 225 S., € 21.00.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert

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