Ein System gerät an seine Grenzen

Rezension Kapitalismuskritische Literatur hat Konjunktur. Das Werk des englischen Journalisten Paul Mason gehört zu jenen, die dem Denken tatsächlich auf die Sprünge helfen

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Kritik am gegenwärtigen Kapitalismus ist inzwischen auch schon in bürgerlichen Medien angekommen. Das scheint darauf hinzudeuten, dass die Ideologie des Neoliberalismus, die in den vergangenen bald 40 Jahren herrschte, ihren Höhepunkt erreicht hat und sich nun im Niedergang befindet. Aus dieser erfreulichen Entwicklung lässt sich allerdings kaum schliessen, dass bereits klar wäre, wie es nach dem Ende des Neoliberalismus weitergehen soll. Kommt dann ein verbesserter Kapitalismus oder endet unsere Geschichte im Chaos, wie der französische Schriftsteller Michel Houellebecq neulich in Berlin, anlässlich der Verleihung des Frank-Schirrmacher-Preises, verkündet hat?

Das Alte will nicht vergehen und das Neue ist noch nicht sichtbar: So lässt sich unsere heutige Lage in wenigen Worten umschreiben. Der englische Journalist Paul Mason widerspricht heftig, was den zweiten Teil dieser Gegenwartsanalyse betrifft. Er hat kürzlich ein recht umfangreiches Buch veröffentlicht, das belegen soll: Für den Neoliberalismus gibt es keine Zukunft – und eine neue Ökonomie ist im Entstehen begriffen, welche die Grundlagen für eine neue Gesellschaft entwickeln kann.

Grenzen der Anpassungsfähigkeit

Paul Mason entfaltet in seinem Werk ein höchst anspruchsvolles Programm: Zuerst muss der Neoliberalismus beseitigt werden. Wie kann das bewerkstelligt werden? «Wir müssen die Hochfinanz unterdrücken, die Sparpolitik rückgängig machen, in grüne Energien investieren und gut bezahlte Arbeit fördern.» Bereits dies ist kein leichtes Unterfangen, doch es wird nicht genügen, um der ökologischen Krise und dem sozialen Kollaps zu entkommen. Wir müssen auch noch den Kapitalismus überwinden.

Der Autor argumentiert, das sei «kein utopischer Traum», denn das gegenwärtige System enthalte bereits die Grundformen einer «postkapitalistischen Wirtschaft». Es gehe nun darum, diese Alternative herauszuarbeiten und zu zeigen, dass der Kapitalismus als ein komplexes, anpassungsfähiges System tatsächlich an die Grenzen seiner Anpassungsfähigkeit gestossen sei. Mason setzt auf Möglichkeiten einer Veränderung, die in den «Nischen und Hohlräumen» der Gesellschaft beginnt, sich allmählich ausbreitet und dann «neue Werte, Verhaltensweisen und Normen» hervorbringen wird.

Entwicklung in Wellen

Dialektik handelt von Widersprüchen, und insofern ist Masons Schrift auch ein Beispiel dialektischer Analyse, indem sie das herrschende Wirtschaftssystem nach dessen Widersprüchen und seiner Fähigkeit, mit solchen Widersprüchen umzugehen, befragt. Die Kraft des kapitalistischen Systems, sich veränderten Umweltbedingungen anzupassen und seine Umwelt entsprechend seinen Notwendigkeiten zu gestalten, ist von marxistischen Ökonomen und Ökonominnen immer wieder unterschätzt worden. Allzu oft glaubte man, jetzt gerate dieses System an seine Grenzen – und immer wieder fand es einen Ausweg.

Nikolai Kondratjew, jener Marxist, der als erster auf die enorme Fähigkeit des Kapitalismus zur Selbstveränderung stiess und diese genauer untersuchte, musste seinen Mut zur Dissidenz mit dem Tod in einer Gefängniszelle der stalinistischen Geheimpolizei bezahlen. Er hatte entdeckt, dass sich der Industriekapitalismus in Fünfzig-Jahres-Wellen entwickelt. In der Abwärtsphase eines Zyklus entstehen neue Technologien, die einen weiteren Zyklus antreiben. Nach vier langen Zyklen folgt jetzt ein fünfter, der allerdings nicht in Schwung kommen kann. Mason meint, dies habe etwas mit dem Neoliberalismus und mit den neuen Technologien der Vernetzung und Kommunikation zu tun.

Die längste Wirtschaftsblüte

Kondratjew geriet in Vergessenheit und die Marxisten setzten weiterhin auf die Krise und den Zusammenbruch des Kapitalismus. Wenn es nicht gelang, die kapitalistische Krise zu nutzen, wie dies beispielsweise in den Jahren zwischen 1917 und 1921 der Fall war, konnte dies nur auf den subjektiven Faktor zurückzuführen sein: Das Proletariat war noch zu unreif und die Arbeiterklasse nicht zur Machtübernahme entschlossen. Mason meint, der Marxismus habe sich hinsichtlich der Arbeiterklasse Täuschungen hingegeben. Dem Proletariat sei es nicht darum gegangen, den Kapitalismus zu stürzen – es wollte ihn erträglich machen. Dies ist in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg auch gelungen. Die Furcht von der Wiederholung einer Revolution, die am Ende des Ersten Weltkriegs ihre Flammenschrift an alle Wände geschrieben hatte, zwang den Kapitalismus, «den Lebensstandard der Arbeiter zu heben und die Verteilung des Wohlstands zu ihren Gunsten zu ändern».

Der 1945 beginnende vierte Zyklus, in dem «Transistoren, Kunststoffe, Massenkonsumgüter, Fertigungsautomation, Atomkraft und automatische Kalkulation das neue Paradigma» darstellten, ermöglichte «die längste Wirtschaftsblüte in der Geschichte der Menschheit». Gegen Ende der Sechziger- und zu Beginn der Siebzigerjahre sanken allerdings die Profitraten sehr deutlich und das Kapital sah sich gezwungen, gegen die organisierte Arbeiterschaft vorzugehen. Die «Zerstörung der Verhandlungsmacht der Arbeiter» sei das «zentrale Vorhaben» des Neoliberalismus gewesen, erklärt Mason und resümiert: «Weil die Arbeiterklasse nicht imstande war, sich zur Wehr zu setzen, konnte die gesamte Weltwirtschaft zum Vorteil des Kapitals neu ausgerichtet werden.»

Der Motor stockt

Dieser Sieg erweist sich nun aber als Pyrrhussieg, denn – so Mason – es ist gerade der Widerstand der Arbeiterklasse, der den technologischen Fortschritt antreibt, «da er die Einführung des neuen Paradigmas auf einem höheren Produktivitäts- und Konsumniveau erzwingt». So war es zumindest bei den ersten drei Zyklen des Industriekapitalismus. Jetzt, beim Übergang zum Informationskapitalismus, stockt der Motor. Das hat damit zu tun, dass die Gesetze der kapitalistischen Ökonomie nur unter der Bedingung der Knappheit von Waren und Dienstleistungen funktionieren können. Gibt es aber Überfluss, wie bei der Information, zu der potenziell alle Zugang haben könnten, so fallen bestimmte Mechanismen aus – oder können nur unter der Bedingung der Herrschaft von Monopolen, die den Zugang limitieren, aufrechterhalten werden.

In marxistischer Terminologie gesprochen heisst das: Die Produktivkräfte einer vor allem auf Information beruhenden Wirtschaft geraten in Widerspruch zu den Produktionsverhältnissen, die durch das Kapital bestimmt werden. Unter den Bedingungen des freien Marktes und der unantastbaren geistigen Eigentumsrechte könne eine Wirtschaft, in der Informationen optimal genutzt werden, nicht gedeihen. Masons Fazit lautet deshalb: «Der Informationskapitalismus untergräbt die Funktionsweise des Kapitalismus».

Sein Konzept für den Übergang zum Postkapitalismus lässt sich hier nicht im Detail ausbreiten. Es stellen sich bei der Lektüre viele Fragen hinsichtlich der Durchsetzbarkeit der Massnahmen, die Paul Mason vorschlägt. Im Ganzen überwiegt aber der Erkenntnisgewinn und die Freude am Mut des Autors, nicht bei der Kritik stehen zu bleiben, sondern mögliche Wege aus der Krise des Systems aufzuzeigen.

Paul Mason: Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Berlin: Suhrkamp Verlag 2016, 429 S., 26.95 €.

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Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert

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