Einander gehorsam sein

Rezension Der Innerschweizer Einsiedler und Mystiker Niklaus von Flüe steht im Mittelpunkt eines Jubiläumsjahrs. Ein Buch beschreibt seine Bedeutung bis in unsere Zeit hinein

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Einander gehorsam sein

Foto: Sean Gallup/AFP/Getty Images

Der Streit um den Schweizer Landesheiligen, dessen sechshundertster Geburtstag dieses Jahr gefeiert wird, ist bereits voll entbrannt. Kürzlich titelte Die Weltwoche des auch in Deutschland bekannten Roger Köppel: «Der erste Schweizer. Bruder Klaus und die Politik der Bescheidenheit» (Nr. 10, 9. März 2017). Der Chef griff nicht selbst in die Tasten, sondern schickte seinen Spezialisten für Schweizergeschichte vor, Peter Keller, Vertreter der Schweizerischen Volkspartei (SVP) und Mitglied des schweizerischen Parlaments.

Um der Ausgewogenheit willen durfte dann auch noch der Präsident der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP), Gerhard Pfister, seine Gedanken zum «Kreuz- und Querdenker» Niklaus von Flüe beisteuern. Dreh- und Angelpunkt der Argumentation der beiden Innerschweizer ist ein Satz, der Bruder Klaus zugeschrieben wurde: «Macht den Zaun nicht zu weit!» Diese Sentenz wurde bekanntlich auch von Christoph Blocher verwendet, um seine Ablehnung des Beitritts der Schweiz zur UNO zu untermauern. Die erste schriftliche Quelle für eine solche Aussage entstand allerdings erst 50 Jahre nach dem Tod des Mannes im Ranft. Der Luzerner Chronist Hans Salat bezog sich auf Bruder Klaus, um ihn als Kronzeugen gegen die Ausweitung der Eidgenossenschaft auf Genf und die Waadt ins Feld zu führen.

Bruder Klaus – ein Patriot?

Niklaus von Flüe wurde so als Kampfmittel in den konfessionellen Auseinandersetzungen genutzt. Darauf verweist die Historiker Josef Lang in einem Beitrag, der im Sammelband zum Jubiläum des Heiligen erschienen ist. Bei Niklaus war durchaus von Zäunen die Rede, doch gemeint hatte er damit etwas ganz anderes: In einer erst in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts wieder aufgetauchten Vision beschreibt der Heilige ein «Gatter», das die armen Leute davon abhalten soll, aus einem überfliessenden Brunnen zu schöpfen. Lang erinnert an den Zürcher Schriftsteller Hans-Rudolf Hilty, der den «Zaun» als «Zollschranke» auf dem Weg zum «Brunnen der Gnade» interpretiert hat. Wenn Gerhard Pfister mit Hinweis auf Bruder Klaus von «Bescheidenheit» spricht, darf man getrost fragen, wer sich denn bescheiden soll: die Armen, Gebeutelten und Machtlosen oder vielleicht doch eher die Mächtigen und Reichen?

Eine sozialkritische Interpretation und darauf basierende Verehrung des Heiligen zieht sich schon lange durch die Geschichte der Schweiz. Josef Lang verweist in diesem Zusammenhang auf den Grossen Bauernkrieg von 1653, in dem sich die rebellierenden Untertanen nicht nur auf Wilhelm Tell, sondern auch auf Bruder Klaus beriefen. Diese Position blieb aber meistens in der Minderheit. Der Freiburger Historiker Urs Altermatt macht in seinem Beitrag auf die im Laufe der Jahrhunderte gewandelte Wahrnehmung des Eremiten aufmerksam, der für ganz unterschiedliche Anliegen in Anspruch genommen worden ist. Das «patriotische» Bild von Bruder Klaus, das uns heute bei der SVP und bei manchen Kreisen der CVP begegnet, wurde vor allem im Ersten Weltkrieg geprägt. Im Zweiten Weltkrieg war der Heilige selbstverständlicher Bestandteil einer «geistigen Landesverteidigung».

Andere Sichtweisen

Erst mit der rasanten Säkularisierung der schweizerischen Gesellschaft im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ist der Raum für andere Sichtweisen auf Niklaus von Flüe freigeworden. Hier soll insbesondere der feministische Blick auf die Beziehung zwischen Bruder Klaus und seiner Frau Dorothee Wyss genannt werden. Wesentliches dazu hat die Publizistin Klara Obermüller mit ihrem 1982 erstmals erschienenen Buch Ganz nah und weit weg beigetragen. Im Sammelband ist sie ebenfalls vertreten und schreibt dort von ihrer ersten Begegnung mit dem Ort, wo Niklaus als Einsiedler lebte – nicht weit weg vom Bauernhof, den seine Frau und Kinder bewirtschafteten: «Nach dem Besuch im Ranft wusste ich, es gibt nur eine Kraft, die solche Nähe und Ferne zugleich aushält: die Liebe.»

Bereits zu seinen Lebzeiten wurde Niklaus von Flüe weit über seine Klause hinaus als Mann des Friedens wahrgenommen. Seine vermittelnde Tätigkeit bei der Stanser Tagsatzung im Dezember 1481, die einen tiefgreifenden Konflikt zwischen Stadt- und Länderorten zu klären hatte, ist bekannt. Allerdings wissen wir nichts darüber, welchen Rat Bruder Klaus den Vertretern der Kantone gab. Er kann aber wohl kaum dafür verantwortlich gemacht werden, dass das «Stanser Verkommnis» zu einem Polizei-Edikt verkam: Dieser für die Eidgenossenschaft grundlegende Vertrag sicherte nicht nur den inneren Frieden, sondern verpflichtete die Obrigkeiten zugleich, sich gegen «Aufmüpfige und Aufständische» (Josef Lang) beizustehen.

Recht der Machtlosen

Das Verständnis des Einsiedlers von einer guten Ordnung des Zusammenlebens geht vielmehr aus Briefen hervor, die er nach dem «Verkommnis» schreiben liess. So arbeitet der Theologe Guido Estermann anhand eines Briefes an den Rat der Stadt Konstanz vom Februar 1482 heraus, dass es Bruder Klaus um den Rechtsverzicht und damit um das gütliche Beilegen von Konflikten ging. Es sei vielleicht «eine gewagte These», so Estermann, dass nicht die gängigen Lösungsstrategien wie der Rechtsweg oder der Krieg eine gemeinsame Zukunft ermöglichen, «sondern der Gedanke, dass für die gemeinsame Sache je auf gültiges Recht verzichtet wird». Im Dezember des gleichen Jahres teilte Bruder Klaus den Ratsherren von Bern seine Sicht des Gehorsams mit. Sie besteht darin, «einander gehorsam zu sein». Der reformierte Pfarrer Bernhard Rothen liest aus diesem Brief «die ‹demokratische› Mahnung, gegenseitig aufeinander zu hören» und das Recht der Machtlosen zu schützen.

Das Buch zum sechshundertsten Geburtstag von Bruder Klaus ist vom Trägerverein herausgegeben worden, der die Jubiläumsaktivitäten koordiniert. Viele der darin enthaltenen Beiträge sind ausgesprochen hilfreich, um der versuchten Vereinnahmung des Landesheiligen durch nationalkonservative Kreise mit guten Argumenten und Entschiedenheit entgegentreten zu können.

Roland Gröbli, Heidi Kronenberg, Markus Ries, Thomas Wallimann-Sasaki (Hrsg.): Mystiker. Mittler. Mensch. 600 Jahre Niklaus von Flüe 1417 – 2017. Zürich: Theologischer Verlag 2016, 388 S.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert

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