Die Aufgabe des Historikers bestehe nicht darin, eine Erkenntnis darüber zu gewinnen, «wie es denn eigentlich gewesen ist». Vielmehr müsse er versuchen, «sich einer Erinnerung zu bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt», schrieb der Philosoph Walter Benjamin 1940 in seinen posthum erschienenen und berühmt gewordenen Thesen «Über den Begriff der Geschichte». Diese Thesen entstanden angesichts des Siegeszuges des Faschismus, der alle Erwartungen einer humanen Welt zu zerstören schien. Benjamin ging es darum, «im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen», ohne den wir in unserem Heute nicht überleben könnten – es sei denn, wir würden uns den Siegern der Geschichte unterwerfen, die uns erklären, so sei die Welt eben eingerichtet, dass es Reiche und Arme, Mächtige und Machtlose geben müsse.
Ein Blick zurück auf die Lebensgeschichte von Walter Benjamin, der 1892 geboren wurde und 1940, auf der Flucht vor den faschistischen Schergen, Suizid beging, kann noch einmal bewusst machen, wie viele Hoffnungen auf eine Welt ohne Ausbeutung und Krieg im «Zeitalter der Extreme» (eine Formulierung des britischen Historikers Eric Hobsbawm) zunichte gemacht worden sind und wie die Last dieser Geschichte noch heute auf unseren Schultern drückt, selbst wenn viele nichts mehr davon wissen wollen.
Im Sog des Nationalismus
Ein Element dieser Lebensgeschichte hat der Sozialwissenschaftler und Publizist Momme Brodersen in seinem neuesten Buch herausgearbeitet. Es geht um den Abiturjahrgang 1912 der Berliner Kaiser-Friedrich-Schule, zu der auch Walter Benjamin gehörte. Anhand der fast vollständig erhalten gebliebenen Akten der Schule konnte Brodersen die Sozialbiografie einer deutschen Abiturientenklasse im Vorfeld des Ersten Weltkrieges rekonstruieren.
Dass die 22 Abiturienten dieses Jahrgangs alles Söhne der preussischen Mittel- und Oberschicht waren, verwundert kaum. Bemerkenswert ist jedoch, dass 13 von ihnen aus jüdischen Familien stammten. Zwei Jahre später begann der Krieg – und fast alle Mitglieder der Abschlussklasse meldeten sich unaufgefordert zum Militärdienst. Sie waren im Geist vaterländischer Begeisterung erzogen worden und konnten sich dem nationalistischen Sog kaum entziehen. Brodersen weist zugleich darauf hin, dass es im Sommer 1914 durchaus antimilitaristisch gesinnte Kreise gab, vor allem unter der sozialdemokratischen Arbeiterschaft. Ein grosser Teil von ihr «wartete auf ein deutliches Nein der Parteiführung gegen den drohenden Krieg, doch die stimmte, nach langen parteiinternen Kontroversen, der Bewilligung der dazu nötigen Kredite zu».
Gegner der Republik?
Während des Weltkrieges starben fünf der 22 Abiturienten – einer an Suizid, die anderen den «Heldentod». Die übrig Gebliebenen waren von den Schrecken des Schützengrabens gezeichnet, «viele von ihnen körperlich versehrt und von den Erfahrungen traumatisiert». Sie mussten den Weg in die Normalität zurückfinden und so finden sich kaum Zeugnisse darüber, wie die überlebenden Abiturienten mit diesen Traumata umgingen. Bei seiner «Spurensuche» richtet Momme Brodersen den Blick nur kurz auf die Zeit der Weimarer Republik, zu der er festhält, dass die meisten Überlebenden des Abitur-Jahrgangs 1912 «Distanz zur Welt der Politik» gehalten bzw. eine deutliche Parteinahme zugunsten dieser Republik gescheut hätten – wie der junge Intellektuelle Walter Benjamin.
An dieser Stelle geht der Autor mit Benjamin hart ins Gericht, wenn er ihn zu den «Republikgegnern» zählt. Hier täte mehr Differenzierung und vor allem eine Entmystifizierung der Weimarer Verfassung not. Das Ausbleiben einer wirklichen Revolution nach der Niederlage des Kaiserreiches sorgte eben dafür, dass die alten Strukturen im neuen Gewand bestehen bleiben konnten. Dazu in Gegnerschaft zu stehen, darf nicht mit einer Ablehnung des Gedankens der Volkssouveränität gleichgesetzt werden.
Den Funken retten
Nach der Machtübernahme durch die Nazis war Benjamin der erste von insgesamt neun ehemaligen jüdischen Abiturienten, die Deutschland den Rücken kehrten. Drei weitere starben als Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft – unter ihnen Richard Salomon (1894 – 1942?), der als jüdischer Anwalt alle Repressalien des Nazi-Regimes erlebte, sich aber doch nicht zur Flucht durchringen konnte. Wegen Depressionen wurde er in einer Nervenheilanstalt untergebracht, aus der ihn Freunde herausholten, um ihn dem staatlichen Zugriff zu entziehen, denn die Nazis hatten seit 1939 begonnen, Psychiatrie-Patienten systematisch zu ermorden. Doch dies war nur «eine Rettung auf Zeit», denn im Dezember 1942 wurde Salomon nach Auschwitz deportiert, wo sich seine Spuren verlieren.
Es sind zumeist traurige, teilweise auch verstörende Lebensgeschichten, die Brodersen in seinem Buch erzählt. Sie zeigen aber auch, wie sich Menschen in schier ausweglosen Situationen wehren, um einen Funken des Humanen retten und weitertragen zu können. Dieser Aufgabe hatte sich auch Walter Benjamin als tiefsinniger Analytiker seiner Zeit verschrieben. Für uns Nachgeborene kann das Buch ein Aufruf sein, der Opfer des Inhumanen zu gedenken und in unserer Zeit dafür zu sorgen, dass die Mächte der Zerstörung nicht überhand nehmen – soweit es in unseren Kräften steht.
Momme Brodersen: Klassenbild mit Walter Benjamin. Eine Spurensuche. München: Siedler Verlag 2012, 237 S., € 19.99.
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