Geburtshelfer oder Brandbeschleuniger?

Rezension Corona-Tagebücher gibt es inzwischen einige. Dieses hier ist lesenswert: Der Schweizer Journalist Samuel Geiser hat das Zeugnis eines Umbruchs verfasst, der weiter geht.

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Viele sind der Krise überdrüssig und träumen von normalisierten Verhältnissen. Das Virus kümmert’s nicht: Es mutiert vor sich hin. Konsequente Maßnahmen könnten helfen – viele Länder rund um den Globus haben gezeigt, wie das geht. Doch wir halten uns leider noch immer für einen Sonderfall! Wie schreibt die Sozialdemokratische Partei der Schweiz in ihrem Positionspapier so richtig: «Die schweizerische Arroganz, angeblich immer alles besser zu wissen und zu machen als der Rest der Welt, hat sich in der Pandemie-Bekämpfung als gefährliches Hindernis erwiesen.»

Vielleicht tut es in einer solchen Situation gut, noch einmal auf den Frühling und Sommer 2020 zurückzublicken und sich zu fragen, wie das alles kam und was es mit uns macht. Der pensionierte Berner Journalist Samuel Geiser, ehemals Redakteur der kirchlichen Zeitschrift reformiert., hat Beobachtungen aus dieser Zeit gesammelt und sie mit Betrachtungen zur Weltlage verbunden. Gewiss: Es ist der Blick eines Privilegierten in materiell gesicherter Existenz. Das bedeutet aber nicht, dass ihn die aufkommenden Nöte anderer kalt lassen würden. Doch es ist nicht nur Angst, sondern auch Aufbruch spürbar: «Es rutschen, es purzeln Verhältnisse, die eben noch unverrückbar schienen.»

Viele Fragen und rare Antworten

Erweist sich das Virus als «Geburtshelfer» von etwas Neuem, wie Samuel Geiser hofft? Oder ist es bloss ein «Brandbeschleuniger», der die innergesellschaftlichen wie die globalen Konflikte anheizt und die Gegensätze vertieft? Der Autor bemerkt zugleich, dass Menschen im Lockdown «aufblühen», die Stille und die leeren Straßen genießen, von «Entschleunigung» sprechen. Geisers Blick geht nach innen wie nach außen. So schaut er auf China und notiert am 12. Mai: «Während Bern lockert, testet Wuhan wieder.» Elf Millionen Menschen müssen dort zum Abstrich antreten – wegen fünf Neuansteckungen in einer Wohnsiedlung. «Bleibt die Frage: Wie schaffen die das bloß?» Und: Warum schaffen wir es nicht?

Die Pandemie wirft viele Fragen auf. Die Antworten sind noch rar. «Wie werden wir als Menschen nach der Krise sein? Mutiger, solidarischer, wissender? Oder ängstlicher, egoistischer, komplexitätsscheuer?» Statt kritischer Gesellschaftsanalyse scheinen so genannte Verschwörungstheorien Anklang zu finden. Die «wollen aufdecken, decken aber eigentlich zu», wird dem Autor bewusst. Manchmal landet er auch in der Tristesse: «Die Krise hat uns demobilisiert. Getrost überlassen wir sie dem Fieber. Es soll es richten, Richtung Genesung oder Tod des Patienten.» Doch wir wissen jetzt, dass es Monate gibt, «die die Welt erschüttern» und aus den gewohnten Bahnen werfen können. Der Wunsch nach einem «bitter nötigen Systemwechsel» bleibt. Davon zeugt dieses Journal. Ergänzt werden die aufschlussreichen Notizen durch eindrückliche Aufnahmen des Fotografen Alexander Egger.

Samuel Geiser: Fieber. Ein Journal in Zeiten von Corona. Fotos von Alexander Egger, Bern (Stämpfli Verlag), 160 Seiten

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Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert

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