Keine einfachen Antworten

Rezension Rosa Luxemburg wurde vor 100 Jahren ermordet. Sie stand und steht für einen Sozialismus, der die Freiheit nicht vergisst. Was macht ihre bleibende Aktualität aus?

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Der wohl berühmteste und auch am meisten missverstandene Satz der in Polen geborenen und dann vor allem in Deutschland wirkenden Sozialistin Rosa Luxemburg lautet: «Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.» Er ist in ihrer im Herbst 1918 verfassten Schrift «Zur russischen Revolution» zu finden. Darin würdigt sie die Bolschewiki um W.I. Lenin, die es im Jahr zuvor gewagt hatten, den Sozialismus auf die Agenda zu setzen, um damit ein Leuchtfeuer für die Revolution in ganz Europa zu entzünden. Luxemburg wollte die trägen deutschen Massen aufrütteln, die sich nicht trauten, das zu tun, was ihre russischen Klassenbrüder und -schwestern versuchten: die politische Macht an sich zu reissen. Und sie kritisiert die Bolschewiki zugleich in aller Schärfe, weil die Partei diese Macht hauptsächlich durch Terror statt mit Überzeugungskraft verteidigt hat.

«Freiheit in Rosa Luxemburgs Verständnis ist unendlich weit vom marktliberalen Egoismus oder dem Selbstverwirklichungs-Kult entfernt», schreibt der Berliner Philosoph Michael Brie in seinem kürzlich erschienenen Buch Rosa Luxemburg neu entdecken. Ein weiterer Satz von Brie erläutert, was Freiheit im Sinne Luxemburgs bedeutet könnte: «Nur jene Menschen sind wirklich frei, die sich gegen die Unterdrückung anderer auch dann wehren, wenn sie selbst von dieser Unterdrückung profitieren.» Denken wir dabei zum Beispiel an die Ausbeutung der Arbeiterinnen und Arbeiter im globalen Süden, die unsere kostengünstigen Kleider und elektronischen Geräte produzieren.

«Sozialismus oder Barbarei»

Die von Rosa Luxemburg gemeinte «Freiheit der Andersdenkenden» bewegt sich nicht in einem gesellschaftlich neutralen Kontext. Sie steht unter der Voraussetzung, dass ein revolutionärer Umsturz der alten Ausbeutungsordnung möglich sein muss – sich sogar als notwendig erweist, weil das herrschende System in den Abgrund führt. Das war mit dem ersten globalen Krieg, den die grossen Reiche mit- und gegeneinander führten, der Fall. «Sozialismus oder Barbarei» lautete Luxemburgs Parole. Sie hatte ja nicht Unrecht, denn auf die weitgehend ausgebliebene Revolution in Deutschland folgten der Faschismus und ein weiterer Weltkrieg.

Der Ermordung der beiden führenden Köpfe der soeben erst gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, im Januar 1919 erfolgte im Einverständnis des sozialdemokratischen Reichswehrministers Gustav Noske und legte den Grundstein für den Terror der sogenannten Freikorps und später der Nazis. Sie vergiftete auch das Klima zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten und sorgte letztlich dafür, dass der Widerstand gegen die zur politischen Herrschaft aufsteigende NSDAP scheiterte. Wie wäre die Entwicklung in Deutschland und anderswo verlaufen, wenn es nicht zu diesen Morden gekommen wäre? Wir wissen es nicht.

Befreiung durch Selbstorganisation

Auf jeden Fall wurde mit diesen Morden der Versuch vereitelt, die «in der weiteren Geschichte des 20. Jahrhunderts völlig unvereinbar scheinende[n] Gegensätze», nämlich «Sozialismus und Demokratie», miteinander zu vereinen. Dies ist die These des schmalen, aber sehr gehaltvollen Bandes von Michael Brie. Er ist für die Rosa-Luxemburg-Stiftung tätig, die politische Stiftung der Partei Die Linke. Schon die Bezugnahme auf diesen Namen zeigt, dass Die Linke Luxemburgs Denken und Handeln für ihre eigene politische Theorie und Praxis fruchtbar machen möchte. Wenn dies – über die Partei hinaus – für die Linke in Deutschland und an anderen Orten der Welt gelten soll, dann bedarf es einer erneuten Aneignung des Werkes von Rosa Luxemburg.

Das Buch von Brie ist dafür ausgesprochen nützlich. Es beschreibt den Weg der Auseinandersetzung Luxemburgs mit dem traditionellen Marxismus der deutschen Sozialdemokratie. Diese glaubte, dank zunehmender Organisierung der Arbeiter- und Arbeiterinnenklasse werde ihr eines nicht allzu fernen Tages die Macht wie von selbst zufallen. Dazu bedürfe es keiner gewaltsamen Revolution. Dieser Glaube an die Zwangsläufigkeit der Geschichte behinderte allerdings die Selbstorganisation der arbeitenden Klasse und ihre Selbstveränderung im politischen Kampf. Er stärkte hingegen die Eigenmacht der Parteien, Gewerkschaften und ihrer Führer. Die erste russische Revolution von 1905 mit ihren Massen von streikenden Arbeitern und Arbeiterinnen zeigten Luxemburg, dass auch anderes möglich ist: die Entwicklung einer sozialen Emanzipationsbewegung von unten her.

Neue Herausforderungen

Die Mehrheitssozialdemokratie wollte davon nichts wissen und auch die Bolschewiki setzten bei der Revolution von 1917 eher auf eine zentralistische Führung als auf das Potenzial der Massen, sich selbst zu befreien. In der konkreten Umbruchssituation am Ende des Ersten Weltkriegs erwies sich Luxemburgs absolutes Vertrauen auf die massenhafte Selbstorganisation allerdings als fatal: Weil es an einer schlagkräftigen Organisation fehlte, konnte sich die gut organisierte Gegenrevolution durchsetzen. Dies deutet Brie als Beleg dafür, dass die Selbstorganisation der Massen ohne die Organisation von Minderheiten viel zu unbeständig ist. Er unterstreicht die Kritik von Peter Nettl, der in den 1960er Jahren ein Luxemburg-Biografie veröffentlicht hat und betont, die «Verachtung, mit der sie Probleme und Methoden der Organisation behandelt», sei in hochorganisierten Gesellschaften fehl am Platz.

Die Organisationsfrage stellt sich auch heute, 100 Jahre später, unter stark veränderten Bedingungen. Neue Herausforderungen sind aufgetaucht wie die ökologische Krise, welche eine Überwindung des Kapitalismus immer dringlicher erscheinen lassen. Bei Rosa Luxemburg finden wir keine einfachen Antworten, aber den Geist einer Kämpferin, die sich mit dem scheinbar Gegebenen nicht abfinden will.

Michael Brie: Rosa Luxemburg neu entdecken. Ein hellblaues Bändchen zu «Freiheit für den Feind! Demokratie und Sozialismus». Hamburg: VSA Verlag 2019, 160 Seiten

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert

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