Keine Revolution ohne Reformation

Essay Vor 20 Jahren starb Rudolf Bahro. Seine «Alternative» war weit mehr als Kritik am realexistierenden Sozialismus: bleibend aktueller Aufruf zu einer anderen Lebensweise

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Der Politiker Rudolf Bahro auf dem Sonderparteitag der SED 1989
Der Politiker Rudolf Bahro auf dem Sonderparteitag der SED 1989

Foto: Bundesarchiv, Bild 183-1989-1216-014/Senft, Gabriele/Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

Gregor Gysi erinnert sich in einer unlängst erschienenen Autobiografie an seinen ersten großen Fall als Rechtsanwalt in der DDR. Am 23. August 1977 war Rudolf Bahro, studierter Philosoph und zu jener Zeit noch Funktionär in einem Betrieb der Chemieindustrie, festgenommen und in Haft gesetzt worden. Der Grund dafür: Tags zuvor hatte das Nachrichtenmagazin Der Spiegel Bahros Kritik am DDR-Regime veröffentlicht und westliche Fernsehsender verbreiteten seine Thesen. Die bezogen sich auf ein Buch, das wenige Tage später auf den bundesdeutschen Markt kam: Die Alternative. Zur Kritik des realexistierenden Sozialismus.

«Das trifft den Parteiapparat ins Herz», titelte Der Spiegel. Tatsächlich: Die Führung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) beantwortete diesen Angriff auf ihr ideologisches Monopol mit einem manipulierten Strafprozess. Der damals noch weitgehend unbekannte Gregor Gysi konnte als Verteidiger gewonnen werden. Dieser schreibt heute rückblickend: «Das Verfahren gegen Bahro ging mir ans Gemüt.» Anlässlich einer Veranstaltung zum Gedenken an Rudolf Bahro hat Gysi vor einigen Jahren erklärt, die Alternative sei jenes Werk gewesen, «das mich am meisten aufgerüttelt hat». Dort habe er «Marx neu begriffen».

Hoffnung auf eine Wiedergeburt

Gysis anwaltliches Engagement konnte nicht verhindern, dass Bahro im Juni 1978 zu acht Jahren Freiheitsentzug wegen angeblicher nachrichtendienstlicher Tätigkeit verurteilt wurde. Gegen dieses Verdikt erhoben sich einhellige Proteste – vom damaligen Vorsitzenden der westdeutschen Jungsozialisten, dem späteren Bundeskanzler Gerhard Schröder, bis hin zum seinerzeitigen Führer der Kommunistischen Partei Spaniens, Santiago Carrillo. Nicht zuletzt dank einer internationalen Solidaritätskampagne wurde Rudolf Bahro von der DDR-Führung amnestiert und konnte im Oktober 1979, zusammen mit seiner Familie, in die Bundesrepublik ausreisen.

Mit der Alternative hatte ein überzeugter Marxist seine Stimme erhoben, der an eine «Reformation» des sogenannten Realsozialismus glaubte. Reformation – dieses Wort erinnert daran, dass die in der damaligen sozialistischen Welt herrschende Ordnung «quasi-kirchlichen» Charakter besaß. Was wollte Bahro damit sagen? «Reformation erreicht vielleicht nicht unbedingt, aber sie beabsichtigt immer Rekonstruktion, Wiederherstellung und Regeneration, Wiedergeburt, ist also wesentlich positiv». Die Hoffnung auf eine Wiedergeburt des Sozialismus im sowjetischen Machtbereich erwies sich zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits als trügerisch. Mit dem Ereignis des Prager Frühlings hatte sich die vielleicht letzte Chance zur Regeneration gezeigt, doch sie wurde von russischen Panzern am 21. August 1968 niedergewalzt. Der sowjetische KP-Chef Michail Gorbatschow, den Bahro als einen möglichen «Fürsten der ökologischen Wende» begrüßte, kam definitiv zu spät.

Warum zerstört der Mensch die Erde?

Rudolf Bahro arbeitete mit Begriffen, die uns heute seltsam erscheinen mögen. Was hat es beispielsweise mit diesem Fürsten auf sich? Bahro bezieht sich hier auf den Florentiner Renaissance-Intellektuellen Niccolò Machiavelli (1469–1527), dessen Schrift Il Principe (Der Fürst) und deren Interpretation durch den italienischen Kommunisten Antonio Gramsci. Diesem schwebte ein «moderner Prinicipe» in Form einer Partei der unterdrückten Volksmassen vor, welche in der Lage wäre, die gesellschaftliche und staatliche Hegemonie zu erobern. Bahro hat versucht, das Konzept in unsere Zeit hinein zu übersetzen, die seiner Auffassung nach durch die ökologische Krise und eine drohende Auslöschung des Lebens bestimmt ist. Diese Analyse gilt auch nach dem Ende der Systemkonkurrenz zwischen Kapitalismus und dem Sozialismus sowjetischer Machart. Nun herrscht der Weltmarkt – und unter dem Diktat beschleunigter Akkumulation von Kapital wird die Vernichtung der Existenzgrundlagen immer schneller vorangetrieben.

Umgetrieben hat Rudolf Bahro bis zu seinem Tod am 5. Dezember 1997 die Frage, die er in einem Spiegel-Gespräch so formulierte: «Warum zerstört der Mensch sich selbst und die Erde? Welche politische Wende ist nötig?» Ganz zentral ist für ihn der Gedanke einer notwendigen «Überwindung der Subalternität» – zu Deutsch: Überwindung eines Zustandes, der durch Unselbständigkeit und Unmündigkeit gekennzeichnet ist. Der Philosoph Guntolf Herzberg, Co-Autor der Biografie von Rudolf Bahro, hält dies sogar für Bahros «Leitbegriff». Die Grundlagen dafür entwickelt Bahro im zweiten und dritten Teil der "Alternative". Dabei greift er auf die Überlegungen von Karl Marx zur Überwindung der alten Arbeitsteilung zwischen Führenden und Ausführenden, zwischen Kopf und Hand, aber auch zwischen Männern und Frauen auf. Bahro geht es dabei nicht um eine Auflösung der «Leitungsstruktur der Produktion» (er denkt offenbar vor allem an industrielle Tätigkeit), sondern darum, «die Menschen aus ihrer Unterordnung unter die moderne Verbundmaschine herauszuführen und so die ‹Verwaltung von Sachen› […] von der Herrschaft über Menschen zu entlasten». Nicht vergessen werden sollte, dass gerade auch das, was wir heute «Sorgearbeit» nennen, dieser Arbeitsteilung unterworfen ist.

Umkehr in den Metropolen

Die Anpassung des Menschen an die Erfordernisse der «Megamaschine», wie Bahro dieses Herrschaftsverhältnis später nennen wird, führt zur Entwicklung subalterner Verhaltensweisen sowie, parallel dazu, zur Ausbildung von kompensatorischen Bedürfnissen, die mit Ersatzbefriedigungen abgespeist werden. «Man muss sich im Besitz und Verbrauch von möglichst vielen, möglichst (tausch-)wertvollen Dingen und Diensten dafür schadlos halten, dass man in den eigentlichen menschlichen Bedürfnissen zu kurz gekommen ist.» Die Bezugnahme des Autors auf Arbeiten aus marxistisch-psychoanalytischen Kreisen lässt sich nicht übersehen. Den kompensatorischen stehen die emanzipatorischen Interessen gegenüber. Sie sind gemäss Bahro «auf das Wachstum, die Differenzierung und die Selbstverwirklichung der Persönlichkeit in allen Dimensionen menschlicher Aktivität» gerichtet.»

Sein anspruchsvolles Programm suchte Bahro mit dem Begriff der «Kulturrevolution» zu fassen. Nicht zufällig erinnert er an die «Grosse Proletarische Kulturrevolution», die zur Zeit der Niederschrift der Alternative China bewegte. Bahro sympathisierte mit dem Maoismus, wie Guntolf Herzberg berichtet, der ihn im Oktober 1976 kennengelernt hatte und ihm half, das Manuskript der Alternative zu lektorieren. Er habe «alle pro-maoistischen Passagen aus dem Text herausgestrichen», teilte Herzberg bei einer kürzlich stattgefundenen Tagung in Berlin mit. «Kulturrevolution» – dieses Wort weist aber weit über den Kontext der Volksrepublik China und von Mao Zedong hinaus. Fasst man das, worum es Bahro ging, genauer, so bietet sich der christlich konnotierte Begriff der «Umkehr» an, der von ihm selbst auch verwendet worden ist. So nimmt er in einem Vortrag mit dem Titel «Über das Problem der Umkehr in den Metropolen», gehalten im Februar 1981 in Mexiko, direkt Bezug zur lateinamerikanischen Befreiungstheologie.

Selbstveränderung des Subjekts

Bereits in seiner Alternative sah Rudolf Bahro die «massenhafte Überwindung der Subalternität» als «einzig mögliche Alternative zu der grenzenlosen Expansion der materiellen Bedürfnisse». Nur so sei eine «Wiedereinordnung des Menschen in das Naturgleichgewicht» möglich. Der angesichts der ökologischen Katastrophe immer dringlichere «Sprung in der Gattungsgeschichte» könne allerdings nur dann gelingen, wenn das «Moment der aktiven inneren Bereitschaft zu einem Neubeginn» hinzutrete. Die Schaffung eines «Neuen Menschen» durch «selbsternannte Avantgarden» hingegen müsse «barbarisch» enden, wie die Geschichte immer wieder gezeigt habe. Eine «wahrhaft umwälzende Praxis» bedürfe deshalb «vorgängiger Selbstveränderung des Subjekts», um durch gemeinschaftliches anderes Leben «den Kommunismus oder – was dasselbe meint – das ‹Reich Gottes› tastend vorwegzunehmen». Diesen Prozess der Selbstveränderung hatte Bahro mit verschiedenen Kommune-Projekten anzustoßen versucht. Auch aus ihrem Scheitern können Lehren gezogen werden.

Angesichts der vielfachen Krisen unserer Zeit, die sich nach der Jahrtausendwende deutlicher als zuvor akzentuiert haben, erleben wir eine Renaissance radikaler Theorie. Sie wird von einem mehr oder weniger punktuellen Wiederaufleben emanzipatorischer Bewegungen begleitet. Dabei spielt Bahros Versuch einer Synthese von Denkweisen, welche die Notwendigkeit «revolutionärer» Umwälzung von Herrschaftsverhältnissen betonen, und jenen, die eine «reformatorische» Erneuerung der Gesellschaft befördern wollen, allerdings keine Rolle. Er scheint in Vergessenheit geraten zu sein.

Das eigene Denken öffnen

Es gibt jedoch seltene Ausnahmen: So hatte der Philosoph Peter Sloterdijk nach der AKW-Katastrophe in Fukushima und angesichts der Diskussionen über eine künftige Energiepolitik auf die «grosse zivilisationsgeschichtliche Frontdebatte» hingewiesen, die bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren geführt worden war und sich mit Namen wie Rudolf Bahro verband. Diese Auseinandersetzung sei 1989/90 durch einen «jähen ideologischen Tendenzwechsel» beendet worden, bedingt durch Kohabitationen zwischen linken Regierungen und rechtem Zeitgeist. Das ist die bemerkenswerte Äußerung eines Mannes, der doch gerne gerade mit diesem Zeitgeist surft.

Wenn jetzt wieder Debatten über die Zukunft des Kapitalismus dessen mögliches Ende und über Alternativen zum herrschenden System geführt werden, sollten Bahros Anstösse und Provokationen aufs Neue überprüft werden – ob sie sich für unsere Zeit als tauglich erweisen könnten.

Zum Schluss erhält Gregor Gysi noch einmal das Wort: «Rudolf Bahro war […] jemand, der einem half, das eigene Denken zu eröffnen.» So einen können wir auch heute brauchen, selbst wenn er nur noch in seinen Schriften präsent ist.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert

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