Kritik der sozialen Scham

Rezension Was sorgt dafür, dass die Verhältnisse so bleiben, wie sie sind? Und wie könnten sie verändert werden? Der Soziologe Didier Eribon untersucht die Klassengesellschaft

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Didier Eribon auf der Frankfurter Buchmesse
Didier Eribon auf der Frankfurter Buchmesse

Foto: Sven Simon/Imago

«Rückkehr nach Reims» hat sich im vergangenen Jahr als ein soziologischer Bestseller erwiesen, der ein grosses Echo in den deutschen Medien fand. Das französische Original war bereits 2009 erschienen. Erst der unaufhaltsam erscheinende Aufstieg des Front National in Frankreich machte dieses Buch offenbar auch für ein deutschsprachiges Publikum interessant. Sein Autor, Didier Eribon, entstammt der französischen Arbeiterklasse, in der die Rechtspopulisten heute so viel Resonanz finden. Er wollte die Geschichte seiner Familie ergründen, die diesen Weg nach rechts mitgegangen ist – auch um seinen eigenen Weg als schwuler, linker Intellektueller besser zu begreifen.

Angesichts des bedrohlichen Wachstums rechtspopulistischer Kräfte in Europa und den USA schien Eribon der Mann der Stunde zu sein: Er sollte erklären, wie die «einfachen Leute», die sich von den Rechten angezogen fühlen, wieder für eine emanzipatorische Politik gewonnen werden könnten. Eribon ist aber kein charismatischer Stratege, sondern ein höchst sensibler Beobachter der Gesellschaft. Deshalb sollte man von ihm keine politischen Programme erwarten, sondern konkrete soziologische Untersuchungen. Einen weiteren Versuch hat er mit «Gesellschaft als Urteil» jetzt vorgelegt. Dort geht es noch einmal um seinen intellektuellen Werdegang, aber auch um die Welt seiner Herkunftsfamilie. Seine Arbeit dreht sich vor allem um die Frage, was die herrschende Macht mit denen macht, die «unten» sind – und bleiben.

Klassengesellschaft – gibt’s das noch?

Sozialer Aufstieg ist möglich, wie der Autor an seiner eigenen Person aufzeigen kann. Doch dieser Aufstieg hat einen Preis, der «Klassenverrat» heisst. Dieses Wort mag anachronistisch erscheinen, weil es die Existenz von unterschiedlichen, sich gegenüberstehenden Klassen voraussetzt. Leben wir denn überhaupt noch in einer Klassengesellschaft? Selbst in linken Kreisen wird vom «Mittelstand» gesprochen, der die Mehrheit ausmache. Daneben gebe es dann noch eine kleine «Unterschicht» und eine noch viel kleinere «Oberschicht». Das mag oberflächlich so stimmen, doch hinter diesem Bild zeigen sich gesellschaftliche Gegensätze, die es angezeigt erscheinen lassen, auch heute von «Klassen» zu sprechen.

Einer der Inspiratoren von Didier Eribon war der bekannte französische Soziologe Pierre Bourdieu. Dieser entwickelte ein Modell, welches die Positionierung der Menschen im gesellschaftlichen Raum wesentlich durch ihren Zugang zu unterschiedlichen Formen des «Kapitals» bestimmt – wobei neben der Verfügbarkeit materieller Ressourcen auch die kulturellen Fähigkeiten sowie die sozialen Beziehungen eine entscheidende Rolle spielen. Eribon wirft seinen kritischen Blick vor allem auf das System der Weitergabe von Wissen, durch das sich die gesellschaftlichen Klassen reproduzieren. In seinen Augen sind es insbesondere die Schulen, welche zur Aufrechterhaltung des Status quo beitragen: Sie sorgen dafür, dass die Kinder der «kleinen Leute» ausgesiebt werden. Das ist nicht nur ein aktiver, sondern vor allem ein passiver Vorgang: Das kollektive Wertesystem der «populären Klassen», wie es im Französischen heisst, hält ihre Kinder geradezu an, die Kultur des Lernens zurückzuweisen. Ihr «Klassenhabitus» bekräftigt sie darin, die bestehende kulturelle Ordnung nicht anzugreifen und festigt damit «die strikte Separierung der sozialen Klassen».

Kein einfacher Weg zurück

Wer da aussteigen will, bleibt dem oder der nicht nur der «Klassenverrat»? Die einzig legitime Kultur scheint die bürgerliche zu sein – alles andere ist «Trash». Wer zu ihr aufsteigen will, muss seine Herkunft leugnen, weil sich diese, «so heisst es, gerade dadurch auszeichnet, dass Kunst, Literatur, Musik in ihr abwesend, ja das Vorrecht der anderen Klasse sind». Sich diesen Zugang zur Kultur zu verschaffen, die scheinbar unauflöslich mit der bürgerlichen Welt verknüpft ist: das hält Eribon für eine «Triebfeder des ‹Klassenverrats›». Doch es gibt keinen einfachen Weg zurück – oder nur um den Preis eines Populismus, der darin besteht, «dass man die Werte der traditionellen oder populären Kultur blind zelebriert».

Im vorliegenden Buch treibt Eribon einiges von dem weiter, was bereits in «Rückkehr nach Reims» angelegt war. Standen dort die Eltern im Zentrum, so schildert er jetzt sehr eindrücklich das Leben seiner Grossmütter, deren Wege ganz unterschiedlich verliefen, die aber zu dem verdammt waren, «was der enge Rahmen ihrer Arbeiterinnenexistenz ihnen vorgab». Ihr Enkel vergleicht deren Leben mit dem der etwa zur gleichen Zeit geborenen, aber aus gutem Hause stammenden Simone de Beauvoir und schreibt: Sie, die Grossmütter, kämpften mit ihren Mitteln gegen die «Gewalt der sozialen Welt» an, doch sie waren «zum Verlieren bestimmt, denn der Gegner war zu stark für sie. Und es fehlten ihnen die richtigen Waffen.»

Ein anspruchsvolles Programm

Wer sich den kulturellen Vorschriften entziehen will, «die uns alle umfangen und bestimmen», muss sich «einer langen und geduldigen Arbeit am Selbst und an den sozialen und politischen Strukturen» unterwerfen, «aber auch einer persönlichen Askese, durch die man sich selbst verwandelt». Beide Seiten sollten dabei im Blick bleiben: das Selbst wie die Strukturen. Befreiung muss umfassend sein.

Alles in allem ist das ein höchst anspruchsvoll formuliertes Programm, bei dem sich die Frage stellt, wer sich dies – ausser ein paar privilegierten Intellektuellen – eigentlich leisten kann. Vielleicht wäre es Aufgabe dieser Intellektuellen (gerade dann, wenn sie von «unten» kommen), aufzuzeigen, wie sich die soziale Scham der «kleinen Leute», die das herrschende System stützt, auflösen lässt. Dazu leistet das Buch von Didier Eribon einen wertvollen Beitrag.

Didier Eribon: Gesellschaft als Urteil. Klassen, Identitäten, Wege. Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn. Berlin: Suhrkamp Verlag 2017, 265 Seiten

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Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert

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