Kritisches Denken und Handeln

Rezension Zwei Jahrbücher tragen Wesentliches zur intellektuellen Debatte in der deutschen Schweiz bei. Sie könnten auch für den übrigen deutschsprachigen Raum von Interesse sein

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Kritisches Denken und Handeln

Bild: Michele Tantussi/Getty Images

Die aus christlich-sozialem Milieu stammende Caritas ist als ein Hilfswerk bekannt, das sich für die Belange der armen Menschen in unserem Land einsetzt. Doch Caritas tut viel mehr, als Spenden zu sammeln und Bedürftige zu unterstützen. Die Organisation ist auch politisch engagiert und mischt sich in gesellschaftliche Auseinandersetzungen ein, in denen es um soziale Gerechtigkeit und die Rechte der Schwachen geht.

Ein Beispiel für dieses Engagement ist der seit Ende der 1990er Jahre jährlich erscheinende «Sozialalmanach», der sich jener Themen annimmt, die im Medien-Mainstream oft untergehen. So ging es im ersten Jahrbuch um die Existenzsicherung, die für viele Menschen in diesem Land ein Problem ist. 2010 hiess der Titel «Armut verhindern». Zwei Jahre später ging es um «Arme Kinder». Diesmal hat Caritas ein Themenfeld aufgesucht, das nicht unter mangelnder Aufmerksamkeit leidet. Es geht um… Migration!

Kann dazu noch Neues gedacht und geschrieben werden, das nicht bereits andernorts hundertfach nachzulesen wäre? Sagen wir es so: Der neue «Sozialalmanach» ist eine Bekenntnisschrift! Sie will nicht Pro- und Kontra-Argumente gegeneinander abwägen, sondern jenen Autorinnen und Autoren eine Plattform bieten, welche die Zuwanderung als «Motor der Entwicklung unseres Landes» sehen und begrüssen.

«Sonderfall» Schweiz – neu positioniert

Jenseits von gängigen Kosten-Nutzen-Rechnungen machen sich der Migrationsforscher Rohit Jain sowie die Sozialanthropologin und Soziologin Shalini Randeria Gedanken zum schweizerischen «Migrationskomplex»: Sie diagnostizieren die «institutionalisierte Paradoxie von Wirtschaftsstreben und Angst vor ‹Überfremdung›» als «hegemoniale[n] Kern des Sonderfalls Schweiz, der Wohlfahrtsstaat, Wachstum und Fremdenabwehr subtil verbindet». Die widersprüchliche Einheit schweizerischen Selbstbewusstseins besteht darin, dem wirtschaftlichen Erfolg zu huldigen – der eben auch die Zuwanderung von Arbeitskräften bedingt –, zugleich aber dessen Folgen zu verdammen und sich eine idyllische kleine Welt zurechtzuzimmern, die unberührt bleibt von den Problemen und dem Elend da draussen.

Statt die Vielheit, die sich heute in der Schweiz präsentiert, als Quelle der Erneuerung des Denkens und Handeln zu nutzen, beharren die gesellschaftlich bestimmenden Kräfte auf der Anpassung der Migranten und Migrantinnen an die bestehenden Verhältnisse. Jain und Randeria kritisieren sowohl die Haltung der Wirtschaftsverbände als auch jene der Linken gegenüber der Masseneinwanderungsinitiative: Die Bürgerlichen würden versuchen, ein nationales Projekt zu renovieren, um «eine mittelständische Schweiz im weltweiten Kapitalismus zu positionieren». Auch zur Linken werde immer öfter mit neoliberalen Argumenten hantiert, um den Nutzen der Migration – beispielsweise für die Sozialwerke – hervorzuheben, kritisieren die beiden. Man blende zudem «die strukturelle Gewalt und Ungleichheit im globalen Kapitalismus» aus, «die die gegenwärtige Migration antreibt, die wiederum den nationalen Wohlfahrtsstaat mitfinanziert».

Geschlossene Gesellschaft?

Was könnte daraus für eine fortschrittliche Politik in der Schweiz folgen? Die Antworten in diesem Beitrag, und auch in anderen, bleiben eher mager. Marco Solari, bekannt geworden als Manager der eidgenössischen 700-Jahr-Feiern, glaubt, dass das Ja zur SVP-Initiative die Internationalisierung der Schweiz nicht aufhalten werde: «Wir sind komplett vernetzt in der Welt, wie wir es noch nie waren.» Sein Optimismus in Ehren – aber die Geschichte ist keine Einbahnstrasse, wie uns das 20. Jahrhundert, das «Jahrhundert der Extreme» (Eric Hobsbawm), gelehrt haben sollte. Die grüne alt Nationalrätin Cécile Bühlmann beklagt einen «eklatante[n] Mangel an Empathie». Der ist gewiss anzutreffen – doch warum soll das knappe Viertel von Fremdenfeinden, das es in der Schweiz gibt, die gesellschaftliche Debatte mehrheitlich bestimmen?

Das Problem besteht wohl darin, dass auch viele von denen, die nicht fremdenfeindlich eingestellt sind, immer noch dem Diskurs des «Sonderfalls» huldigen. Iwona Swietlik, die Redaktorin des «Sozialalmanach», bringt es auf den Punkt: «Es erstaunt mich immer wieder aufs Neue, wie sehr sich die Vorstellung von der Schweiz als einer Insel der Glückseligkeit verfestigt hat. Als hätten wir es mit einer geschlossenen Gesellschaft zu tun, zu der nur Privilegierte Zutritt haben.» Das ist die Position der SVP, die über deren eigene Kreise hinaus immer noch sehr viel Zustimmung findet.

Wider den theoretischen Fatalismus

Ein nicht unwesentlicher Bestandteil des «Sozialalmanachs» ist der jährliche «Bericht über die soziale und wirtschaftliche Entwicklung in der Schweiz», der die Lage des Landes jeweils kritisch beleuchtet – unter der Fragestellung, was diese Entwicklung für jene bedeutet, die auf ein verlässliches System der sozialen Sicherheit angewiesen sind. Bettina Fredrich geht auf die wachsende Ungleichheit ein, die zu einem neuen Feudalismus führen kann und damit die soziale Stabilität der Schweiz gefährdet.

Dem «Sozialalmananach» zur Seite gestellt werden sollte das «Jahrbuch» des gewerkschaftsnahen Denknetzes, das seit 2005 herausgegeben wird. Auch dieses Periodikum kennt thematische Schwerpunkte: Diesmal geht es um die «Kritik des kritischen Denkens». Was ist damit gemeint? Jedes Denken muss sich danach befragen lassen, welche Bedeutung es für das Handeln von Menschen hat. Der Theologe Rolf Bossart schreibt von einem «theoretischen Fatalismus», der das vorwegzunehmen versuche, «was sich durchsetzen wird». Auch ein solches Denken mag sich «kritisch» geben, doch es bleibt letztlich eine zynische Kritik. Kritische Theoriebildung hingegen darf nicht vergessen, «dass das, was ist, nicht alles ist».

Nach dem Ende des «real-existierenden» Sozialismus hatte die kritische Theoriebildung keine gute Presse mehr. Jetzt, wo die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus erneut ins Massenbewusstsein dringt, findet radikales, d.h., an die Wurzeln gehendes kritisches Denken doch da und dort wieder Resonanz. An den Universitäten hat dieses Denken allerdings einen schweren Stand, wie der Soziologe Peter Streckeisen beschreibt. Dies hängt mit grundlegenden Veränderungen des universitären Feldes zusammen, das einer umfassenden Ökonomisierung unterworfen wurde und eine Renaissance quasi-feudaler Verhältnisse erlebt.

Ein wichtiger Bezugspunkt zeitgenössischer kritischer Theorie ist das feministische Denken. Auch hier setzt das «Jahrbuch» – und mit ihm das Denknetz – deutliche Akzente, beispielsweise in der Care-Diskussion. Gegenwärtig findet ein Paradigmenwechsel in der ökonomischen Theorie statt, welche die reproduktiven Tätigkeiten bislang stark vernachlässigt hatte. Das Denknetz dokumentiert diesen Prozess und so unabdingbare Aufklärungsarbeit.

Caritas Schweiz (Hrsg.): Sozialalmanach 2015. Schwerpunkt: Herein. Alle(s) für die Zuwanderung. Luzern (Caritas-Verlag) 2015, 216 S., 34 Franken.

Denknetz (Hrsg.): Jahrbuch 2014. Kritik des kritischen Denkens.Zürich (edition 8) 2014, 232 S., 25 Franken.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert

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