Nicht das Ende der Geschichte

Rezension Die Beziehung zwischen Demokratie und Kapitalismus geht in die Brüche. Das Kapital will keine Zugeständnisse mehr machen. Die Demokratie erodiert. Wo ist der Ausweg?

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Über die Toten soll man nur Gutes sagen. Das fällt bei der unlängst verstorbenen Maggie Thatcher nicht leicht. Immerhin war sie es, die mit dem Satz «There is no alternative» der neoliberalen Revolution entscheidend zum Durchbruch verhalf. Das sogenannte TINA-Prinzip beherrscht seit den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts Denken und Handeln grosser Teile der Gesellschaft. Thatchers Politik – sowie jene ihrer Nachfolger – bestand und besteht darin, die vermeintlichen «Verkrustungen» eines Staates aufzubrechen, der einst den Klassenkompromiss zwischen Kapitaleignern und Arbeiterschaft ermöglichen sollte. Daran beteiligten sich bekanntlich nicht nur bürgerliche Politiker, sondern auch angeblich linke wie Tony Blair und Gerhard Schröder.

Mit der Aushöhlung jener Institutionen, die den sozialen Ausgleich gewährleisten, war das Versprechen von «Freiheit für alle» verbunden. Für die einen bedeutete dies die Freiheit sich zu bereichern – für die anderen, die die Mehrheit bilden, blieb wenigstens die Freiheit des Konsums. Hier lag auch einmal den Ansatzpunkt der Kritik der Achtundsechziger-Bewegung am «System», die später (ganz entgegen ihren Absichten) als Türöffner für den weltweiten Siegeszug des Konsumismus fungierte. Inzwischen erscheint auch diese Konsum-Kultur als irgendwie brüchig und die Auseinandersetzung mit den Kräften, welche die sogenannt entwickelten Gesellschaften in die Krise führen, gewinnt aufs Neue an Aktualität.

Angriff auf den Staat

Der deutsche Soziologe Wolfgang Streeck (Jahrgang 1946) wurde geprägt durch die Achtundsechziger, und in seinem neuen Buch «Gekaufte Zeit» greift er zurück auf die Theorie-Debatte jener Epoche. Damals war von der «Legitimationskrise des Spätkapitalismus» die Rede. Im Rückblick erscheine die Geschichte der Krisen seit den 1970er Jahren «als die allmähliche Entfaltung der sehr alten und sehr fundamentalen Spannung zwischen Kapitalismus und Demokratie – als schrittweise Auflösung der nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen beiden arrangierten Zwangsheirat». Für das Kapital war die damalige Politik der Vollbeschäftigung bedrohlich, denn sie liess die Arbeiterschaft in seinen Augen «übermütig» werden – und wirkte sich zudem nachteilig auf die Profitrate aus. Deshalb wurde die Strategie der Liberalisierung eingeschlagen, die den Staat zurückdrängen und die Rückkehr zum Markt als entscheidendem Mechanismus durchsetzen sollte.

Streeck stellt fest, dass die «lange Wende zum Neoliberalismus […] auf bemerkenswert schwachen Widerstand» gestossen sei, obwohl mit dieser Wende wichtige Errungenschaften der Arbeiterbewegung in Frage gestellt wurden. Der neoliberale Angriff auf den Staat war zugleich mit einem Umbau des Staates verbunden, der für die dem Kapital passenden Rahmenbedingungen zu sorgen hat. Mit der globalen Krise von 2008 ff. ist die veränderte Rolle der Staaten sichtbar geworden: Ohne deren massive Interventionen könnte das weltweite Finanzsystem nicht überleben. Mit diesen wird Zeit gekauft, um den Zusammenbruch des Systems hinauszuzögern.

Markt- contra Staatsvolk

Dabei erweisen sich demokratische Verfahrensweisen in wachsendem Masse als störend. Den Bürgern und Bürgerinnen wird erklärt, die Probleme seien viel zu komplex und sie sollten doch den Experten vertrauen. Die Folge ist, dass vor allem die Verlierer und Verliererinnen der neoliberalen Wende resignieren und nicht mehr an Wahlen teilnehmen. Seit den 1960er Jahren hat die Beteiligung an nationalen Parlamentswahlen deutlich abgenommen. Diese Abwendung der Unterschichten (bzw. deren Hinwendung zu rechtspopulistischen Parteien) ist auch Ausdruck einer fundamentalen Krise der Linken. Sie hat es versäumt, «die Konterrevolution gegen den Sozialkapitalismus der Nachkriegsära als solche zu erkennen und sich ihr zu widersetzen». Diese Konterrevolution führt zu einer zunehmend ungleichen Verteilung von Einkommen und insbesondere auch von Vermögen.

Sehr eindrücklich wirkt Wolfgang Streecks Analyse vom Entstehen eines «Marktvolkes» neben dem Staatsvolk. Das Marktvolk tritt als Investor auf, der entscheidet, ob ihm ein Staat genehm ist oder nicht. Als Gläubiger besteht es darauf, dass seine Ansprüche auf Bedienung der Schulden gegenüber den Ansprüchen des Staatsvolkes auf ein funktionierendes Gemeinwesen vorrangig bedient werden. Instrumente wie die «Schuldenbremse» oder der europäische «Fiskalpakt» sollen dazu führen, dass die Nationalstaaten keinerlei Möglichkeit mehr erhalten, den Grundsätzen der «Marktgerechtigkeit» im Namen sozialer Gerechtigkeit zu widersprechen.

Sand ins Getriebe

Streecks Buch befasst sich ausführlich mit der Entwicklung der Europäischen Union zu einer «Liberalisierungsmaschine des europäischen Kapitalismus», mit deren Hilfe marktkonforme «Reformen» gegen den Widerstand der Bürger und Bürgerinnen durchgesetzt werden. Diese haben das Gefühl, von ihren Regierungen nicht mehr ernst genommen zu werden. Aufgabe kritischer Intellektueller, so Streeck, sei es, «dieses Gefühl so gut es geht zu verstärken» – indem sie beispielsweise die Legitimität der Forderungen der Schuldner in Frage stellen.

Der Opposition bleibe gegenwärtig nicht viel mehr, «als Sand ins Getriebe des kapitalistischen Austeritätskurses und -diskurses zu streuen», meint der Autor. Die Unterwerfung der Demokratie muss nicht das Ende der Geschichte sein. Wie wir aus dieser Geschichte herauskommen: dafür gibt’s keine Patentrezepte. Wir selbst haben uns einzumischen – durch eigenes Denken und gemeinsames Handeln im Rahmen unserer Möglichkeiten. Die Lektüre des Buches von Wolfgang Streeck regt dazu an.

Wolfgang Streeck: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Berlin: Suhrkamp Verlag 2013, 271 S., 24.95 €

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert

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