Radikal pragmatisch

Rezension Programmatisch ist die Sozialdemokratie in der Schweiz auf Anti-Kapitalismus ausgerichtet. Im Alltag stellt sich die Systemfrage kaum. Mit dem Widerspruch kann sie leben.

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Im vergangenen Jahr feierte die Sozialdemokratische Partei der Schweiz ihr 125-jähriges Bestehen. Aus diesem Anlass entstand ein 500 Seiten dickes, zweisprachiges Werk, das Vergangenheit und Gegenwart der schweizerischen Sozialdemokratie beleuchten und einen Ausblick auf ihre Zukunft ermöglichen soll.

In acht Hauptkapiteln, die einen roten Faden bilden sollen, sowie unzähligen Themen-Beiträgen wird die Geschichte der Partei entrollt, die zum einen eine Geschichte der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ist, zum anderen auch eine Geschichte der Erfolge und Niederlagen auf dem Weg zu einem schweizerischen Sozialstaat. Dass die Sozialdemokratie die sozialen Errungenschaften in der Schweiz auf ihre Fahnen heftet, bleibt auf bürgerlicher Seite nicht unbestritten. Beispielhaft dafür steht wohl der Kommentar von Michael Schoenenberger in der Neuen Zürcher Zeitung vom 21. Juni 2014: Unter dem Titel «Die SP stürmt vorwärts in die Vergangenheit» hält er fest, dass es deren Präsidenten Christian Levrat darum gehe, «das Verdienst am ‹Erfolgsmodell Schweiz› den Liberalen zu entreissen und der Sozialdemokratie zuzuführen».

Machtwechsel ausgeschlossen?

Das Jubiläumsbuch kann ein Beleg für die These des NZZ-Kommentators sein. Tatsächlich wird ein Kampf um die Deutungshoheit geführt: Welche politischen Kräfte haben für den sozialen Ausgleich und mehr Gerechtigkeit gesorgt – und besitzen klare Vorstellungen darüber, welchen Weg dieses Land künftig verfolgen soll? Dieses Ringen vollzieht sich zwischen Liberalen und Nationalkonservativen innerhalb des bürgerlichen Lagers, aber auch zwischen diesem und Rot-Grün. Das Problem beschreibt SP-Präsident Christian Levrat, mit Verweis auf eine Analyse des früheren Präsidenten Peter Bodenmann, folgendermassen: Die Schweiz wird seit Jahrzehnten von relativ stabilen Machtblöcken bestimmt, die sich jeweils auf rund ein Drittel der Stimmbürger und -bürgerinnen stützen können – ein konservativer Block aus Schweizerischer Volkspartei (SVP) und einem Teil der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP), ein liberaler Block aus der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP) und Teilen der CVP, inzwischen ergänzt um die Grünliberalen, sowie ein rot-grüner Block.

Machtwechsel, wie sie in anderen Demokratien regelmässig vorkommen, scheinen in der Schweiz ausgeschlossen zu sein, solange es Rot-Grün nicht gelingt, die beiden anderen Formationen zu schwächen. Dazu bedarf es einer konkreten Analyse der gesellschaftlichen Widersprüche und eines Programms, um diese Widersprüche produktiv nutzen zu können. Was die Analyse betrifft, so liefert das Jubiläumsbuch eine Menge von Hinweisen, doch es fehlt vielfach an einer Systematisierung. Dies soll exemplarisch anhand der Ausführungen von Nationalrätin Jacqueline Fehr gezeigt werden, die sie im Rahmen eines im Buch abgedruckten Gesprächs dargelegt hat. Fehr bekennt sich dort zu einer «nordischen Form der Sozialdemokratie», die durch eine «starke Verbindung von persönlicher Freiheit und Autonomie mit der Solidarität» gekennzeichnet sei.

Partei des «service public»

Was ist das Geheimnis der nordischen Sozialdemokratie? Ihr war es zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelungen, auch die Belange der Bauern zu vertreten und sie auf diese Weise zu integrieren. In der Schweiz hingegen kam es nicht zum Brückenschlag zwischen Arbeiterklasse und Bauernschaft, die vielmehr ein Reservoir des Bürgertums blieb. Soziologisch spielen die Bauern kaum noch eine Rolle, dafür um so mehr ideologisch, wie sich am Beispiel der SVP zeigen lässt. Deren geistige Vorherrschaft im ländlichen Raum hat auch etwas mit politischen Versäumnissen der Linken zu tun, doch dies wird nicht weiter thematisiert. So ist es wohl auch kein Zufall, dass sich keiner der zahlreichen Beiträge im Buch mit der Landwirtschaftspolitik befasst.

Die schweizerische Sozialdemokratie war, wie andere vergleichbare Parteien, in den vergangenen vier bis fünf Jahrzehnten einem starken strukturellen Wandel unterworfen. Die Politikwissenschaftlerin Line Rennwald und der Historiker Adrian Zimmermann weisen in ihrem Text darauf hin, dass die SP-Wählerbasis bis in die 1970er Jahre hinein stark von Arbeitern geprägt gewesen sei. Diese fühlen sich, ebenso wie die einfachen Angestellten, heute eher durch die SVP vertreten. Bei sozialpolitischen Fragen halten sie sich weiterhin an klassisch sozialdemokratische Positionen, doch Themen wie «Ausländer» oder «Europa» sorgen dafür, dass sie ihr Heil bei den Nationalkonservativen suchen. Die SP spricht inzwischen vor allem die höher qualifizierten Lohnabhängigen im sozialen und kulturellen Bereich an. Sie ist zur Partei jener geworden, die das Personal des Sozialstaats stellen. Dessen «Schicksal» ist also zu jenem der Sozialdemokratie geworden. Dies hat Konsequenzen für die Partei. Sie stellt sich als Verteidigerin des «service public» dar, sollte allerdings auch überzeugend darlegen, wie dieser nachhaltig finanziert werden soll. In dem hauptsächlich vom WOZ-Redakteur Stefan Howald bearbeiteten Lexikon wird die Frage in den Raum gestellt, «inwiefern soziale Errungenschaften nur mit fortschreitendem Wirtschaftswachstum garantiert beziehungsweise im Weltmassstab verallgemeinert werden können».

Kehrseiten des Wachstums

Mit der Wachstums- stellt sich auch die Systemfrage. Die Kapitalismuskritik beschäftigt die Sozialdemokratische Partei bereits seit ihrer Gründungszeit. Diese Kritik machte sich insbesondere an der sozialen Ungleichheit fest, die durch die vordringende Industrie verschärft wurde. Dank gewerkschaftlichen Kampfes war es möglich, die gröbsten Systemmängel zu beseitigen. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten immer mehr Arbeiter und Arbeiterinnen am wachsenden Wohlstand teilhaben. Antikapitalistische Positionen hatten es da zunehmend schwer. Dies spiegelte sich auch im Winterthurer Parteiprogramm von 1959 wider, das der bereits erwähnte NZZ-Kommentator Schoenenberger der heutigen SP so dringlich ans Herz legt.

Die Kehrseiten des Wachstums wurden zuerst von jenen wahrgenommen, die der Sozialdemokratie ziemlich fernstanden: bürgerlichen Naturschützern, die beispielsweise in den frühen 1950er Jahren versuchten, ein Kraftwerk in Rheinau zu verhindern, um die einmalige Stromlandschaft am Rheinfall zu schützen. Erst viel später, bei den Auseinandersetzungen um die Nutzung der Atomkraft, wurde die SP zur «ersten Umweltpartei», wie der frühere Nationalrat Rudolf Rechsteiner mit deutlichem Seitenhieb gegen die Grünen formuliert. Bei Umweltschutz-Fragen sei die SP in Volksabstimmungen regelmässig untergegangen, «vermochte aber die Politik trotzdem mitzugestalten, wenn auch indirekt», schreibt Rechsteiner. Dies betrifft vor allem den öffentlichen Verkehr, der zumindest für die städtische Bevölkerung zu einer «valablen Alternative zum Privatauto» geworden sei. Eine Thematisierung der Folgen des Mobilitätswachstums ist allerdings noch nicht gelungen.

Revolutionär bis reformerisch

Eine Vermittlung zwischen der sozialen und der ökologischen Frage versucht das neue Parteiprogramm, das 2010 in Lausanne verabschiedet worden ist. Es trägt den Titel «Für eine sozial-ökologische Wirtschaftsdemokratie». Einer der wesentlichen Initiatoren dieses Programms ist der frühere Redakteur der religiös-sozialistischen Zeitschrift Neue Wege, Willy Spieler. In mehreren Beiträgen zeichnet er die programmatische Entwicklung der Partei nach. Eine dem Buch beigelegte Synopse der bislang sieben Parteiprogramme erleichtert den Überblick. Sie zeigt, dass die Kritik am Kapitalismus und der Kampf für die Demokratisierung der Wirtschaft sich mehr oder weniger deutlich durch alle Programme hindurchziehen.

Den jeweiligen Zeitumständen entsprechend ist ihr Ton ehe revolutionär: 1920 wird gar die «Diktatur des Proletariats» gefordert, falls sich die Bourgeoisie einer demokratischen Eroberung der Macht durch die Kräfte des Volkes widersetzen sollte. Diese Formel war nicht zuletzt dem vergeblichen Versuch geschuldet, eine Spaltung der Partei zu verhindern. 1959 sah die Sozialdemokratische Partei die Schweiz bereits im Übergangsstadium zum Kapitalismus zum Sozialismus. Das Programm von 1982 stand im Zeichen der Achtundsechziger- und Achtzigerbewegung und forderte Selbstverwaltung in allen Lebensbereichen, insbesondere in der Wirtschaft. Das neue Programm stellt explizit fest, dass die Demokratisierung der Wirtschaft ein politischer Prozess sei, «der im Hier und Heute ansetzt».

Neue Denkräume öffnen

Mit diesem «Hier und Heute» tut sich die Partei noch schwer. Zwar gibt es eine Kurzfassung des Parteiprogramms, in dem wesentliche Akzente für eine sozialdemokratische Politik gesetzt werden, doch ein eigentliches Aktionsprogramm, das konkrete Schritte hin zu einer Wirtschaftsdemokratie beschreibt, liegt nicht vor. So bleibt das Parteiprogramm ein «visionärer Fluchtpunkt», wie Jacqueline Fehr erklärt: «… als linke Volkspartei wissen wir, dass es allen besser geht, wenn es auch den Schwachen gut geht». So weit, so gut. Manche müssten allerdings einiges mehr abgeben, damit es anderen besser geht. In der Vergangenheit konnten soziale Verteilungskämpfe durch das Wachstum des zu Verteilenden abgemildert werden. Es ist fraglich, ob dieses Modell auch in Zukunft noch funktionieren wird.

Ein notwendiges Korrektiv für eine Partei, die vor allem mit dem Laufen des politischen Betriebes beschäftigt ist, stellen die JUSO dar. Während die heute um 40-jährigen Parteimitglieder eher «realpolitisch» ausgerichtet sind, ist inzwischen eine Generation herangewachsen, die ein radikaleres Politikverständnis entwickelt hat. In seinem Beitrag spricht der frühere JUSO-Präsident und heutige Co-Präsident der SP Aargau, Cédric Wermuth, von einem «radikalen Pragmatismus», den die Jugendorganisation zu verwirklichen suche. Es gehe darum, «die Grenzen des Denkbaren zu ritzen». Auf diesem Boden ist die 1:12-Initiative entstanden, die vom Schweizer Stimmvolk leider allzu deutlich abgelehnt wurde, die aber dennoch neue Denkräume eröffnet hat.

Noch ein kritisches Wort zur Präsentation des Buches: Es hätte ein besseres und sehr viel gründlicheres Lektorat verdient. Bei der Bebilderung wäre weniger bestimmt mehr gewesen. Streckenweise wirkt das Buch wie ein Sammelband mit Pflichtbeiträgen. Diese Schwächen sollten an der schweizerischen Sozialgeschichte Interessierte trotzdem nicht von der Lektüre abhalten.

Jacqueline Fehr u.a. (Hrsg.): Einig – aber nicht einheitlich. 125 Jahre Sozialdemokratische Partei der Schweiz. Une pensée unie – mais pas unique. 125 ans Parti socialiste suisse. Zürich: redboox edition / Limmat Verlag 2013, 500 S., 68 Franken.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert

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