«Revolution» denkbar machen

Rezension Das Interesse an Marx wächst, aber Lenin galt bislang als toter Hund. Doch nun beschäftigen sich wichtige DenkerInnen mit die Frage, wie Lenin wiederholt werden könnte

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Eine prägende Szene aus "Good Bye, Lenin!"
Eine prägende Szene aus "Good Bye, Lenin!"

Bild: Still

«Good Bye, Lenin!» hiess der Film, der kurz nach dem Millennium in die Kinos kam und zum erfolgreichsten deutschen Film des Jahres 2003 wurde. Die Hauptrolle in dieser Tragikomödie spielt eine Frau, die nach dem Ende der DDR aus dem Koma erwacht. Weil jede Aufregung lebensgefährlich wäre, soll sie auf keinen Fall erfahren, was mit ihrem Land geschehen ist. Die erwachsenen Kinder spielen ihr eine «Realität» vor, die es gar nicht (mehr) gibt. Im Film kommt die Inszenierung allerdings zu einem anderen Schluss der Geschichte: Sie handelt nicht von der Schwäche der DDR, sondern von einem Akt der Grosszügigkeit, in dem die Grenzen von den DDR-Behörden geöffnet werden und die Menschen aus der Bundesrepublik jubelnd in den Osten stürmen.

Gegenstand der Nostalgie?

Es ist nun bald ein Vierteljahrhundert her, dass der «real-existierende Sozialismus» abgewickelt wurde und viele Marx-, Lenin- sowie andere Denkmäler entsorgt worden sind. Einen letzten Nachklang dieses Bildersturms kann man gegenwärtig in der Ukraine vernehmen. Um endlich Europa-kompatibel zu werden, müssen die alten Statuen verschwinden. Zugleich ist auf der Seite der ostukrainischen Sezessionisten ein Revival von Lenin-Bildern und -Sprüchen zu beobachten. Die Figur dient als Symbol für einen Streit, in dem es um Spielarten des Kapitalismus geht. Die auf den Westen Hoffenden möchten alle Spuren des einstigen Systems tilgen und glauben, so die Ankunft des westlichen Wohlstands beschleunigen zu können. Jene, die immer noch an Russland hängen, wünschen sich die Sicherheiten zurück, welche die frühere Sowjetunion zu bieten hatte. Zu ihnen gehört eben auch der sozialistische Säulenheilige.

Der Begriff «Lenin» scheint heute nur noch für Nostalgie zu stehen: Die einen verbinden mit ihm eine Sehnsucht nach angeblich besseren Zeiten, die anderen hegen bittere Erinnerungen an eine Schreckensherrschaft, die glücklicherweise überwunden wurde. Wer wollte angesichts dieses heruntergekommenen Namens noch ein ernsthaftes politisches Projekt damit verbinden? So ist es doch ziemlich überraschend, dass sich in der intellektuellen Szene Europas und Nordamerikas, aber auch in Asien, seit ein paar Jahren eine «Wiedergeburt» Lenins beobachten lässt. 2001 fand eine Konferenz am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen statt, die den Titel trug: «Gibt es eine Politik der Wahrheit – nach Lenin?» Seit 2009 werden Kommunismus-Konferenzen mit illustren Theoretikern wie Alain Badiou oder Slavoj Žižek durchgeführt. Deren Diskussionen drehen sich um die Frage, unter welchen Bedingungen die «Leninsche Geste» wiederholt und das revolutionäre Projekt neu erfunden werden könnte.

Der Schock des Ersten Weltkriegs

Was mit dieser Geste gemeint ist, soll ein Blick zurück ins Jahr 1914 verdeutlichen. Das Scheitern der Arbeiter-Internationale und ihre gänzliche Unfähigkeit, nennenswerten Widerstand gegen den Krieg zu organisieren, waren für die Männer und Frauen vom linken Flügel der europäischen Sozialdemokratie ein Schock, der sie zutiefst erschütterte. Zu ihnen gehörte auch der russische Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin, der damals im Schweizer Exil lebte. Er prangerte den «Sozialpatriotismus» der sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften an, befand sich damit allerdings in weitgehender Isolation.

Diese Situation des Ausschlusses wurde zum Wendepunkt in seinem Denken. Die orthodoxe Vorstellung, dass der Sozialismus allmählich, aber mit Sicherheit kommen werde, weil er auf der Agenda der Geschichte stehe, hatte sich gründlich blamiert. Deshalb war es für Lenin unumgänglich, die theoretischen Fundamente der sozialistischen Bewegung zu überprüfen und der Dialektik jenen zentralen Stellenwert zurückzugeben, den Marx in seiner Auseinandersetzung mit dem Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel benannt hatte. Die Doktrin der Internationale war dagegen von positivistischem Denken und dem Glauben an den Fortschritt, die Mission der Wissenschaften sowie an die Überlegenheit der westlichen Zivilisation bestimmt. Angesichts des offenkundigen Scheiterns solcher Überzeugungen musste die sozialistische Konzeption grundlegend neu entworfen werden.

Wiederentdeckung der Dialektik

Verschiedene Texte im vorliegenden Band «Lenin Reloaded. Für eine Politik der Wahrheit» gehen der Frage nach, auf welche Weise Lenin die Dialektik wieder entdeckte und was dies für sein politisches Handeln bedeutete. Dialektisches Denken ist durchzogen von der «Einheit der Gegensätze, der Widersprüche, die den Dingen selbst innewohnen, und der Entfaltung dieser Widersprüche», so der Mitherausgeber Stathis Kouvelakis in seinem Beitrag «Lenin als Leser Hegels». Dialektisches Denken will dem eingreifenden Handeln des Subjekts bzw. der Subjekte in die Wirklichkeit einen Raum schaffen, in dem dieses Handeln reflektiert werden kann. Als Ergebnis eines Prozesses, in dem die Auseinandersetzung mit der materiell wie geistig gegebenen Wirklichkeit in all ihrer Widersprüchlichkeit geführt wird, soll die Erkenntnis der Wahrheit entstehen.

Im Denken unserer Zeit hat der Begriff der «Wahrheit» seine Bedeutung verloren. An seine Stelle tritt eine Vielfalt von «Optionen», d.h., Wahlmöglichkeiten. Oft reduziert sich diese Wahl dann aber auf eine blosse Auswahl unter verschiedenen «Produkten», zu denen beispielsweise auch politische Parteien gehören können. Grundlegende Alternativen bleiben aus dem Denken ausgeschlossen. Sie erscheinen einzig in der Form von Fundamentalismen aller Art an den Rändern der aufgeklärten Welt und erzeugen so unseren Abscheu. Die Devise lautet: «Anything goes» – doch wehe, wenn das ganz Andere in den Blick gerät.

Krieg dem Krieg

Die Herausgeber des Bandes «Lenin Reloaded» plädieren dafür, die Frage der Wahrheit wieder in die Politik einzuführen – und beziehen sich dabei auf Lenin, für den «Wahrheit» hiess, sich aufgrund der konkreten Analyse einer konkreten Situation für eine Seite des Widerspruchs zu entscheiden und auf dieser Grundlage eine radikale, d.h., an die Wurzeln der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse gehende Politik zu betreiben. Das bedeutete unter den Bedingungen des Ersten Weltkriegs, den Staatenkrieg in einen Krieg der Völker zu verwandeln, die sich ihrer Handlungsfähigkeit bewusst werden – auch jener, den Krieg gegen die eigenen Unterdrücker zu richten. Das war die Geste, die 1917 in Russland gelang, nicht aber in den anderen am Krieg beteiligten Ländern.

Die ausbleibende Internationalisierung der Revolution führte dazu, dass der «Sozialismus in einem Land» aufgebaut werden musste und die bisherige Revolutions- zur Staatspartei wurde – mit all jenen Folgen, die im Stalinismus und später in abgeschwächter Form im «real-existierenden Sozialismus» zu erleben waren. Es blieb nichts von dem von Marx prophezeiten «Absterben des Staates» und von der Selbstorganisation der Massen nach dem Vorbild der Pariser Commune von 1871 – ganz im Gegenteil! Zu Lenin zurückzukehren kann deshalb nicht bedeuten, seine Politik in historischen Gewändern nachzuspielen, wie dies beispielsweise manche «neurussische» Rebellen heute versuchen. Auch der «Marxismus-Leninismus» chinesischer oder nordkoreanischer Prägung ist inzwischen an sein Ende gelangt.

Neues verwirklichen

Doch wie kommen wir über dieses Ende hinaus? Der französische Philosoph Alain Badiou fragt in seinem Beitrag: «Was ist deine Kritik an der existierenden Welt? Was kannst du Neues vorschlagen? Was kannst du dir vorstellen und was verwirklichen?» Gerade mit dem Verwirklichen scheint es zu hapern. Der Kapitalismus bewegt sich von einer Krise zur nächsten, stürzt sozusagen nach vorne – um eine Metapher von Friedrich Nietzsche aufzunehmen, an die Peter Sloterdijk in seinem neuen Buch «Die schrecklichen Kinder der Neuzeit» erinnert. Dieses System produziert Gewinner, aber auch viele Verlierer. Slavoj Žižek hält fest, dass seine Stärke in seiner Schwäche liege: «Er wird zu einer ständigen Dynamik gedrängt, in eine Art permanenten Ausnahmezustand […] es ist, als stehe er in der Schuld seiner eigenen Zukunft, als borge er von ihr und als schiebe er den Tag der Abrechnung auf immer hinaus.»

Die tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Verlierer dieser krisenhaften Entwicklung suchen ihr Heil zumeist bei denen, die partikulare Interessen verteidigen – seien es jene, welche die Grenzen gegenüber den «Fremden» in Gestalt von Flüchtlingen vor Armut und Hoffnungslosigkeit dicht machen wollen, oder solche, die den Anhängern der eigenen Religion oder Weltanschauung den Vorzug gegenüber den «Anderen» versprechen, die nicht dazugehören. Diese «populistische» Versuchung scheint weltweit auf dem Vormarsch zu sein, und im eigenen Land kennen wir sie nur allzu gut. Eine universalistisch orientierte Haltung, die menschenwürdiges Leben für alle und nicht nur für wenige (beispielsweise Schweizer und Schweizerinnen) will, wird als «Gutmenschentum» abqualifiziert und lächerlich gemacht.

Politik des Universalismus

Der französische Philosoph Georges Labica postuliert in seinem Beitrag «Vom Imperialismus zur Globalisierung», der Kapitalismus sei nicht in der Lage, eine tatsächliche Globalisierung zu realisieren, «denn seine inneren Widersprüche werden ihn verschlingen, bevor es dazu kommt. Nur dem Sozialismus wird dies gelingen können.» Die Frage bleibt, welcher Sozialismus das sein soll. Ist er nicht bloss eine Utopie? Die Autoren (leider einzig Männer) des vorliegenden Bandes widersprechen da heftig: Das, was notwendig ist, muss auch wirklich werden. Dazu bedarf es einer strategischen Analyse und einer Politik, die in der Lage ist, «das System dort anzugreifen, wo es am verwundbarsten ist». Dies gehe nicht ohne eine politische Organisation, «die generalisiert und auf die unzähligen Missstände fokussiert ist, die das kapitalistische System hervorbringt», schreibt der britische Marxist Alex Callinicos («Lenin im 21. Jahrhundert?»).

«Lenin» steht in der öffentlichen Wahrnehmung als Chiffre für totalitäre Lösungen und damit im Widerspruch zum demokratischen Weg. Diese Behauptung muss nach beiden Seiten hin untersucht werden: Stimmt das Bild des Diktatorischen und welche Demokratie ist denn gemeint? Der vorliegende Band bietet gute Gründe für den Verdacht, dass es sich dabei um eine «Herrenvolk-Demokratie» (Domenico Losurdo) handelt, die wesentlich auf dem Ausschluss der verarmten und enttäuschten Massen in den von der «Entwicklung» vernachlässigten und vergessenen Regionen der Welt handelt. Eine universalistische Politik, wie sie vom russischen Revolutionär Lenin zumindest intendiert war, muss anders aussehen.

Sebastian Budgen, Stathis Kouvelakis, Slavoj Žižek (Hrsg.): Lenin Reloaded. Für eine Politik der Wahrheit. Übersetzung aus dem Englischen von Jürgen Schneider und Hans-Christian Oeser. Übersetzung aus dem Italienischen von Thomas Atzert. Hamburg: Laika-Verlag 2014, 367 S., € 28.-

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert

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