Sollten wir von Lenin lernen?

Rezension In Zeiten einer «neuen Wut auf den Kapitalismus», wie eine Wochenzeitung neulich titelte, ist vielleicht auch Lenin kein alter Hut mehr. Davon ist Slavoj Žižek überzeugt

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Žižek geht es darum, die von Lenin versäumten Gelegenheiten wieder aufzugreifen
Žižek geht es darum, die von Lenin versäumten Gelegenheiten wieder aufzugreifen

Foto: Balint Porneczi/AFP/Getty Images

Das große Drama des Kommunismus des 20. Jahrhunderts besteht darin, dass er seine hohen Ideale der Emanzipation des Menschengeschlechts mit Gewalt und Terror durchzusetzen versuchte – und letztlich daran scheiterte. Für viele, auch fortschrittlich denkende Menschen bedeutet dies heute, der Hoffnung auf eine andere Gesellschaft Lebewohl zu sagen und sich irgendwie in den herrschenden Verhältnissen einzurichten. Dies mag für eine gewisse Zeit noch möglich zu sein, doch die Zeichen stehen auf Sturm: Die sich abzeichnende Klima-Katastrophe macht deutlich, dass das weltweit herrschende System des Kapitalismus unverträglich ist mit den Bedingungen des Lebens auf diesem Planeten. So wird sich über kurz oder lang die Frage eines Systemwechsels stellen. Dieser Gedanke ist auch der protestierenden Klima-Jugend inzwischen durchaus vertraut.

Unser Blick auf grundlegende Alternativen zum Kapitalismus wird nicht zuletzt durch die Geschichte der stalinistischen und maoistischen Gräuel verstellt. Deshalb plädiert der slowenische Philosoph Slavoj Žižek gemäß dem psychoanalytischen Dreischritt «Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten» dafür, diese Geschichte nicht einfach zu verwerfen, sondern sie einer Aufklärung näherzubringen. Dabei dient ihm das Beispiel Chinas als Negativfolie: Aus dem Scheitern Gorbatschows, der zur Aufarbeitung der Verbrechen der sowjetischen Vergangenheit beitragen wollte, zog die chinesische Führung den Schluss, dass die Anerkennung der eigenen «Gründungsverbrechen» ihr System zu Fall bringen werde: Folglich mussten sie geleugnet werden.

«Gespenst einer gescheiterten Utopie»

Der Kommunistischen Partei Chinas ist so die Paradoxie gelungen, die eigene Herrschaft zu erhalten und zugleich den Kapitalismus zu restaurieren. Es liege «eine gewisse poetisch zu nennende Gerechtigkeit darin», dass Maos Kulturrevolution letztlich in einer Explosion kapitalistischer Dynamik resultierte, schreibt Žižek leicht diabolisch. Die Tragödie von Maos «Großem Sprung nach vorn» wiederhole sich heute «als Komödie des turbokapitalistischen Großen Sprungs nach vorn in die Modernisierung», meint der Autor. Allerdings glaubt er, dass die «ewige Idee der Kulturrevolution» das Scheitern ihrer Umsetzung überdauern werde. Sie führe gegenwärtig «ein geisterhaftes Dasein als Gespenst einer gescheiterten Utopie, das auch unter künftigen Generationen umgehen wird und geduldig seiner nächsten Auferstehung harrt».

Doch welcher Bedingungen bedarf eine solche «Auferstehung»? Nach dem Erinnern kommt das Wiederholen. Žižek verweist auf den Moment, in dem Lenins politische Konzeption entstand – nach der Katastrophe von 1914, in der die bisherige sozialistische Bewegung untergegangen war. Die daraus entstehende Verzweiflung stellte auch ein Moment der Wahrheit dar, die Lenin erfasste: Der Krieg zwischen den Nationen müsse in einen Krieg gegen den Kapitalismus verwandelt werden. Žižek meint, die Linke befinde sich heute «in einer Situation, die unheimliche Ähnlichkeit mit jener Situation hat, aus der heraus der Leninismus entstanden ist, und ihr Auftrag ist es, Lenin zu wiederholen.»

Eine Chance ergreifen

Starke Worte! Slavoj Žižek ist allerdings Dialektiker genug, um kein Zurück zu Lenin zu fordern. Ihm geht es vielmehr darum, die von Lenin versäumten Gelegenheiten wieder aufzugreifen. Um dies möglichst anschaulich werden zu lassen, setzt er sich mit Texten auseinander, die Lenin in seinen beiden letzten aktiven Lebensjahren verfasst hatte. Am Ende des verlustreichen Bürgerkrieges ging es darum, einen Staat ganz neu zu organisieren. Die Voraussetzungen dafür waren nicht günstig. Lenin beschreibt in drastischen Worten das weit verbreitete Unwissen der Kommunisten, wie die Wirtschaft aufzubauen wäre. Nach traditionell-marxistischem Verständnis hätte die Revolution nämlich nicht zuerst im rückständigen Russland zum Durchbruch kommen sollen, sondern eher im viel weiter entwickelten Deutschland.

Trotzdem könne gerade hier die «Möglichkeit eines anderen Übergangs» eröffnet werden, «um die grundlegenden Voraussetzungen der Zivilisation zu schaffen», wie Lenin Anfang 1923 in «Über unsere Revolution» schreibt. Er hatte 1917 eine Chance ergriffen, die «objektiv» kaum gegeben war, sondern durch die Subjektivität der Revolutionäre gesetzt wurde – auch auf die Gefahr hin, daran zu scheitern. Die Aufgabe der Verankerung dieses umwälzenden Prozesses überliessen die Bolschewiki dann aber weitgehend den Kadern des Staatsapparats. Der Einbezug der Massen in das politische und wirtschaftliche Leben mit dem Ziel ihrer Selbstbestimmung, wie dies Rosa Luxemburg gefordert hatte, blieb ein frommer Wunsch.

Linke Politik heute

Das traumatische Vergangene durchzuarbeiten kann im besten Falle bedeuten, eine neue Sicht auf Gegenwart und Zukunft zu gewinnen, die nicht unter dem Wiederholungszwang dessen stehen muss, was einmal war. Welches Spielfeld eröffnet sich heute einer linken Politik? Sie kann entweder versuchen, den einst durchaus erfolgreichen sozialdemokratischen Reformismus wieder aufzugreifen, oder sie propagiert die radikale Revolution. Slavoj Žižek kommt zum Schluss, in den Gesellschaften des Westens hätten Aufrufe zur Revolution «keine mobilisierende Wirkung» mehr.

Die «subjektiven Bedingungen für eine wirkliche kommunistische Perspektive», um die es ihm geht, könnten nicht mit den richtigen Forderungen – zum Beispiel nach dem Ende des Kapitalismus – geschaffen werden: «Die Notwendigkeit eines radikalen allgemeinen Wandels muss sich durch Vermittlung mit spezifischen Forderungen ergeben», beispielsweise nach einer gerechteren Steuerpolitik. Das wäre eine «revolutionäre Realpolitik», wie sie Rosa Luxemburg gemeint hat. Der Name dieser Kritikerin Leninscher Politik taucht bei Žižek allerdings nicht auf. Schade!

Slavoj Žižek: Lenin heute. Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten. Aus dem Englischen übersetzt von Axel Walter. Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2018, 267 Seiten

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Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert

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