Soziale Freiheit als neuer Leitstern

Rezension Ist die Energie sozialistischer Utopien erschöpft? Axel Honneth verneint. Er will die Idee des Sozialismus unter einem veränderten Blickwinkel betrachten. Genügt das?

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Von der einst berühmten «Frankfurter Schule» und ihrem radikal-kritischen Blick auf die kapitalistischen Verhältnisse ist nicht mehr viel übrig geblieben. Jürgen Habermas legte mit seinem Institut für Sozialforschung den Akzent auf soziale Reformen und in dieser Weise wirkt auch sein Nachfolger Axel Honneth weiter, der selbst schon ins Pensionsalter gekommen ist. Mit dem kürzlich erschienenen Buch «Die Idee des Sozialismus» reagiert Honneth auf Kritik an seinen theoretischen Arbeiten: Er lasse sich nicht mehr auf die Frage einer Transformation der herrschenden Gesellschaftsordnung ein, heisst es da. Honneth möchte diese Einwände entkräften.

Es gelte, die Vorstellungen von einer anderen Gesellschaft aus dem Denkgehäuse des Industrialismus zu befreien, lautet eines seiner stärksten Argumente. Honneth spricht sich gegen die Annahme aus, die wirtschaftliche Sphäre sei immer noch der zentrale «Ort der Austragung des Kampfes um die angemessene Form der Freiheit». Damit erübrigt sich auch die marxistische These von der führenden Rolle der Arbeiterklasse bei der Überwindung des Kapitalismus. Der vor bald 40 Jahren von André Gorz verkündete «Abschied vom Proletariat» als einer erhofften revolutionären Kraft scheint unumkehrbar zu sein. Dabei sollte allerdings nicht vergessen werden, dass die Arbeiterklasse immer noch existiert – nun eben auf globaler Ebene. Deren wichtigste Fraktionen finden sich heute in China oder als Arbeitsnomaden im Nahen Osten und anderswo.

Gesellschaftliche Experimente wagen

Honneth unterstellt Marx und denen, die sich auf ihn berufen, einen allzu grossen Glauben an geschichtliche Gesetzmässigkeiten. Dem ist zu widersprechen: Bereits im «Kommunistischen Manifest» halten Karl Marx und Friedrich Engels fest, der Kampf der widerstreitenden Klassen könne auch mit ihrem «gemeinsamen Untergang» enden. Da ist nichts von einem historischen Mechanismus zu finden, der als Hegelscher «Weltgeist» sein Wesen treibt. Dieser Glaube ist heute doch eher bei denen zu finden, die von stetigem Fortschritt und einem unendlichen Wachstum des Kapitals träumen. Honneth behauptet, für die Vertreter eines traditionellen Sozialismus sei schon immer festgestanden, «wie die neue Gesellschaftsformation realisierter Freiheit beschaffen sein müsste, ohne dass zu erproben war, welche Chancen der Veränderung die sich schnell wandelnden Umstände boten» (S. 78 f.). Dieser Behauptung könnte die Feststellung des 2012 verstorbenen marxistischen Historikers Eric Hobsbawm entgegengehalten werden, Marx und Engels hätten sich geweigert, Utopien auszumalen oder Patentformeln zur Verwirklichung des Sozialismus zu formulieren.

Doch es geht hier nicht in erster Linie um die Frage nach der richtigen Marx-Exegese. Viel spannender sind doch Überlegungen, wie der von Honneth geforderte «historische Experimentalismus» aussehen könnte, um der vom Sozialismus angestrebten «allgemeinen Emanzipation des Menschengeschlechts» zum Durchbruch zu verhelfen. Honneth argumentiert mit dem Philosophen John Dewey, einem Vertreter des US-amerikanischen Pragmatismus: Im Interesse einer «intelligenten Problemlösung» gehe es darum, Barrieren zu beseitigen, die der «ungezwungenen Kommunikation der Gesellschaftsmitglieder» entgegenstehen (S. 97). Die sozialen Experimente würden zu umso besseren Lösungen führen, «je umfassender die von dem jeweiligen Problem Betroffenen in deren Erkundung einbezogen sind» (S. 99).

Die Frage der Macht

Als Massstab für soziale Verbesserungen soll die «Befreiung von Kommunikationsbarrieren und interaktionshemmenden Abhängigkeiten fungieren». Mit diesem theoretischen Instrument könne die «Idee sozialer Freiheit», die für Axel Honneth von zentraler Bedeutung ist, «zugleich als geschichtliches Fundament wie als Richtschnur eines sich experimentell verstehenden Sozialismus greifbar» gemacht werden (S. 101). Diesen Sozialismus sieht Honneth als «Statthalter der Ansprüche des Sozialen» in einer Gesellschaft, die es möglich macht, «unter dem Deckmantel der individuellen Freiheit bloss private Interessen durchzusetzen und damit gegen das normative Versprechen der Solidarität zu verstossen» (S. 106). Der Prozess der Befreiung von Barrieren und Abhängigkeiten könnte auch in der Formel des kürzlich verstorbenen Zürcher Publizisten Willy Spieler gefasst werden: «Demokratisierung aller demokratisierbaren gesellschaftlichen Bereiche». Damit ist vor allem die demokratische Kontrolle der Wirtschaft gemeint. Diese Zielsetzung steht übrigens auch im Zentrum des Parteiprogramms der schweizerischen Sozialdemokratie, die sich damit weit links von den meisten anderen sozialdemokratischen Parteien in Europa positioniert.

Am Beispiel der Forderung nach einer Wirtschaftsdemokratie lässt sich allerdings auch zeigen, wie schwierig es ist, die «Ansprüche des Sozialen» zu Wort kommen zu lassen. Trotz der vorhandenen Instrumente direkter Demokratie ist es in der Schweiz nicht einmal gelungen, die Rechte der betrieblichen Vertretungen von Arbeitnehmenden auszubauen. Zu mächtig sind die Interessen des Kapitals, die sich – kaum widersprochen – als Interessen des Gemeinwohls aufspielen können. Den Fragen der herrschenden Mächte und wie sie zu überwinden wären, widmet Honneth nur wenige Gedanken. Und dabei geht es ihm doch um «institutionelle Errungenschaften» als «soziale Träger der normativen Ansprüche […], die der Sozialismus innerhalb der modernen Gesellschaften anzumelden versucht» (S. 117). Sind es nicht gerade kollektive Bewegungen, an denen es uns heute so sehr mangelt, die solche Errungenschaften auf unterschiedlichen Wegen zu erkämpfen, zu bewahren und zu überbieten versuchen?

Bedeutung der Öffentlichkeit

Im Schlusskapitel seines Buches entwickelt Axel Honneth spannende Überlegungen zur «Idee einer demokratischen Lebensform». Dort weist er darauf hin, dass nicht nur in der Sphäre der Produktion von Gütern und Dienstleistungen, sondern auch in den Sphären der persönlichen Beziehungen und der politischen Willensbildung Kommunikationsbarrieren und interaktionshemmende Abhängigkeiten überwunden werden müssen. Ohne erfolgreiche Befreiungsprozesse in diesen Bereichen könne die Gesellschaft nicht wirklich als «sozial» bezeichnet werden. Das ist, worauf Michael Jäger in seiner Rezension hinweist (https://www.freitag.de/autoren/michael-jaeger/endlich-frei-gleich-solidarisch), ein innovativer Gedanke: Er fordert von Sozialisten und Sozialistinnen, sich den Erfordernissen einer in Produktion, Politik und Liebe (Beziehungen / Familie) funktional ausdifferenzierten Gesellschaft zu öffnen.

Gegen den Soziologen Niklas Luhmann, der das Konzept der funktionalen Ausdifferenzierung wesentlich geprägt und behauptet hat, es gebe in einer solchen Gesellschaft kein organisierendes Zentrum mehr, hält Honneth fest, dass es ein solches durchaus gibt: die Öffentlichkeit. An dieser Einsicht gilt es weiterzuarbeiten. Ein Beispiel dafür: Die Interessen des Kapitals sollten immer wieder als solche benannt werden, damit möglichst vielen, die nicht zu den Kapital-Eignern gehören, klar wird: Das sind nicht unsere Interessen! Wir müssen unseren eigenen Weg gehen!

Axel Honneth: Die Idee des Sozialismus. Versuch einer Aktualisierung. Berlin: Suhrkamp Verlag 2015, 168 S., € 22.95.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden