Sozialkapital in schwierigen Zeiten

Rezension In der der Schweiz spielt die Freiwilligenarbeit eine wichtige Rolle. Eine aktuelle Studie hält fest, dass das System ehrenamtlicher Tätigkeit in der Krise steckt.

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Wenn in der Schweiz von «Miliz» gesprochen wird, dann ist damit nicht nur ein Begriff aus der Sprache des Militärs gemeint. Es geht auch um eine Form der Organisation öffentlicher Aufgaben, die nicht ausschliesslich von Berufspolitikern und full time-Politikerinnen wahrgenommen werden sollen. Vielfach sind es, insbesondere auf den unteren Ebenen, ehrenamtlich Tätige, die sich neben ihrer beruflichen und/oder Familienarbeit für das Gemeinwesen einsetzen.

Allerdings lässt sich nicht erst seit heute feststellen, dass das Milizsystem an einer schleichenden Auszehrung leidet, die nicht zuletzt mit einer zunehmenden Professionalisierung und Spezialisierung des politischen Raums zu tun hat. Auf der anderen Seite sind für öffentliche Ämter geeignete Bürger und Bürgerinnen vermehrt durch berufliche und familiäre Aufgaben gefordert und können oder wollen weniger Zeit und Kraft für das Allgemeinwohl aufbringen.

Darunter leidet der republikanische Gedanke, der «auf die Freiheit zu aktiver Beteiligung an öffentlichen Angelegenheit» setzt, wie Andreas Müller in einer unlängst erschienenen Publikation von Avenir Suisse, dem von Schweizer Grossunternehmen finanzierten Think-tank,formuliert.

Solche Freiheit braucht Voraussetzungen, um sich entfalten zu können: Dazu gehören Bildung und Wissen, aber auch die Freiheit vor Angst um die eigene materielle Existenz. Weil selbst in einer wohlhabenden Gesellschaft wie der Schweiz viele Menschen nicht wirklich frei sein können von dieser Angst, bleibt die «aktive Beteiligung an öffentlichen Angelegenheit» zumeist ein Privileg der Bessergestellten.

Freiwilligenarbeit nimmt ab

Doch nun erodiert auch hier die Bereitschaft, sich für die res publica, die «öffentliche Sache», einzusetzen. Global tätige Firmen sehen nicht so recht ein, weshalb sie ihre hochbezahlten Kader für Milizämter freistellen sollten. Ihr Sozialkapital können sie in anderen, profitableren Netzwerken einsetzen und vermehren. Das Fazit lautet: «Die Eliten verabschieden sich», wie Patrick Schellenbauer im neuen Avenir Suisse-Buch feststellt.

Im Zeitraum von 1997 bis 2013 lässt sich gemäss den Befragungsdaten des Bundesamtes für Statistik (BFS) eine deutliche und zugleich beunruhigende Abnahme der Beteiligung an institutionalisierter wie an informeller Freiwilligenarbeit feststellen. Nahmen 1997 noch rund 30 Prozent aller 15-jährigen und älteren Personen in der Schweiz an informeller Freiwilligenarbeit teil, die insbesondere die Unterstützung und Betreuung von Verwandten, die nicht im eigenen Haushalt leben, sowie von Bekannten umfasst, so hat sich diese Rate bis 2013 auf knapp 19 Prozent reduziert.

Weniger massiv ist die institutionalisierte Freiwilligenarbeit in Vereinen, Kirchengemeinden, öffentlichen Diensten und politischen Parteien bzw. Ämtern zurückgegangen: von 26,5 Prozent 1997 auf 20 Prozent 2013. Schellenbauer meint, dieser Rückgang sei nicht in erster Linie mit einer schwindenden Beteiligung an Milizämtern zu erklären. Vielmehr konstatiert er ein «Schrumpfen der Vereinstätigkeit».

Allgemeine Dienstpflicht?

Der Milizgedanke gehört zum Kernbestand des politischen Systems Schweiz. Andreas Müller, Autor des Avenir Suisse-Buches, meint: «Wäre das Milizsystem wegen mangelnder Teilnahmefähigkeit bedroht […], müsste man auch die direkte Demokratie in Frage stellen». Eine Erneuerung des Systems scheint ihm unumgänglich zu sein. Wie könnte diese aussehen? Bereits in den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts wurde die Frage einer allgemeinen Dienstpflicht diskutiert. Der Bundesrat, die schweizerische Landesregierung, setzte eine entsprechende Studienkommission ein. Diese konnte der Idee allerdings «kaum Positives abgewinnen», wie Patrick Schellenbauer schreibt.

Avenir Suisse meint, der Zeitpunkt sei gekommen, diese Frage erneut zu debattieren. Dem «Schwinden der Milizkultur» sollte entgegengetreten werden, denn diese Kultur diene «dem Land zum Guten». Deshalb müsse sie erhalten bleiben, «notfalls sogar unter einer (vertretbaren und möglichst kleinen) Einschränkung der persönlichen Freiheit».

Die liberale Denkfabrik legt den Vorschlag eines «Bürgerdienstes» vor. Dieser sollte von allen Bürgerinnen und Bürgern sowie in der Schweiz niedergelassenen Ausländern und Ausländerinnen im Alter von 20 bis 70 Jahren geleistet werden, und zwar im Umfang von 200 Arbeitstagen. Die Dienstpflicht könnte wahlweise in der Armee (nur für Schweizer und Schweizerinnen!), in einem Schutzdienst (Zivilschutz und Rettungsdienst) oder in einem Gemeinschaftsdienst absolviert werden.

Der Gemeinschaftsdienst sollte gemäss den Vorstellungen von Avenir Suisse auf drei Pfeilern ruhen: «Soziale Dienste» (Pflege, Betreuung, unterstützende Tätigkeit in Schulen, Engagement in Vereinen), «Behörden» (die bisherige Miliztätigkeit) sowie «Umwelt & Logistik» (Umweltpflege, Artenschutz, u.a.).

Rechtliche Bedenken, die gegen einen verpflichtenden Gemeinschaftsdienst sprechen könnten (so das Verbot von Zwangs- und Pflichtarbeit, das in der Europäischen Menschenrechtskonvention niedergelegt ist), werden als nichtig erklärt, da es sich um «neue Alternativen zur geltenden Wehrpflicht» handeln würde. (Der Einwand lässt sich meines Erachtens relativ leicht entkräften. So ist beispielsweise die Ausdehnung eines solches Dienstes auf Ausländer und Ausländerinnen mit einer solchen Argumentation kaum zu begründen.)

Sinnsuche ernst nehmen

Ist der «Erosion der Milizkultur» tatsächlich mit einem «Bürgerdienst» zu begegnen? Zweifel dürften angebracht sein: Verpflichtende Dienste sind in vielen Fällen solche, welche die Dienstverpflichteten hinter sich bringen, ohne eine eigenständige Motivation dafür zu entwickeln. Damit wäre aber der Kultur der Freiwilligkeit ein Bärendienst geleistet. Für Freiwilligenarbeit im informellen Bereich, die unter der erwähnten Erosion noch viele stärker als die institutionalisierte Freiwilligenarbeit leidet, wäre der «Bürgerdienst» zudem keine praktikable Lösung.

Die Publikation von Avenir Suisse ist trotzdem nützlich: Sie weist nämlich darauf hin, dass das für selbstverständlich gehaltene Gut der Freiwilligkeit, das einen wesentlichen Faktor des schweizerischen Sozialkapitals darstellt, von unterschiedlichsten Entwicklungen bedroht wird. So hat die von der Wirtschaft erwünschte und für die Budgets vieler Familien notwendige Frauenerwerbstätigkeit, die in der jüngeren Vergangenheit deutlich angestiegen ist, nachvollziehbare Auswirkungen auf die Freiwilligenarbeit. Auch die sich ausweitende Konsumkultur bleibt nicht ohne Konsequenzen für ein Engagement zum Wohle des gemeinschaftlichen bzw. gesellschaftlichen Zusammenhalts.

Wer freiwillige Tätigkeit fördern möchte, muss sich notgedrungen mit solchen Entwicklungen auseinandersetzen und zeitgemässe Antworten darauf finden. Ein entscheidender Punkt wird es sein, die Suche vieler Menschen nach einem Sinn ihres nachberuflichen Lebens ernst zu nehmen und Perspektiven aufzuzeigen, wie gesellschaftliches Engagement mit wohlverstandenem Eigeninteresse zu verbinden wäre.

Andreas Müller: Bürgerstaat und Staatsbürger. Milizpolitik zwischen Mythos und Moderne. Mit Beiträgen von Sarah Bütikofer, Hans Geser, Martin Heller, Georg Kohler, Andreas Ladner, Patrik Schellenbauer und Hanna Ketterer, Stefan Tomas Güntert, Theo Wehner, Zürich (Avenir Suisse und Verlag Neue Zürcher Zeitung) 2015, 214 Seiten

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert

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