In einer aufgewühlten, revolutionsschwangeren Zeit, kurz nach dem Ersten Weltkrieg und den Umwälzungen in Sowjet-Russland, begrüsste der Marxist Ernst Bloch den Prediger Thomas Müntzer über die Jahrhunderte hinweg als einen «Theologen der Revolution». Bloch war gewiss: «die Toten kommen wieder, ihr Tun will mit uns nochmals werden», denn «er und das Seine und alles Vergangene, das sich lohnt, aufgeschrieben zu werden, ist dazu da, uns zu verpflichten, zu begeistern, das uns stetig Gemeinte immer breiter zu stützen».[1]
Ernst Bloch wähnte, Müntzer verwandte Tage seien nun wieder gekommen, «und sie werden nicht mehr ruhen, bis ihre Tat getan ist».[2] Heute leben wir in vergleichbar erregten Zeiten, doch die Zeichen stehen nicht auf fundamentalen Wandel, wie ihn Bloch seinerzeit erhoffen konnte. Sie deuten eher auf Stillstand, gar Rückfall in Verhältnisse, die wir für überwunden hielten. Wo ist da noch Platz für eine wahrhaft revolutionäre Begeisterung? Was soll uns in dieser Lage ein Thomas Müntzer bedeuten?
Die Erneuerung der Christenheit
Das Schicksal des Theologen verband sich aufs engste mit der Revolution des «gemeinen Mannes», dem grossen deutschen Bauernkrieg von 1524/25. In der Schlacht von Frankenhausen metzelten die Söldnerheere der Fürsten die schlecht bewaffneten Bauernhaufen nieder und nahmen auch Thomas Müntzer gefangen. Er starb als Aufrührer unter dem Schwert. Begonnen hatte seine Geschichte im Dunkel: Weder Geburtsort noch Geburtsjahr Müntzers sind amtlich verbürgt. Es besteht allerdings kein Zweifel daran, dass er in Stolberg am Harz geboren wurde – vermutlich 1489. Der Biograph Hans-Jürgen Goertz, dessen Buch Thomas Müntzer. Revolutionär am Ende der Zeichen die vorliegende Besprechung gewidmet ist, hält fest: Nicht nur die Spuren seiner sozialen Herkunft seien «verweht», sondern auch jene der akademischen Ausbildung sowie der Vorbereitung auf die Priesterweihe.
Das öffentliche Wirken Müntzers umfasste nur wenige Jahre, doch diese Zeit war von allergrösster Intensität geprägt. Seine drängende Frage lautete, auf welchem Weg die Christenheit erneuert werden könnte; und diese Frage teilte er mit vielen wach Gewordenen seiner Zeit. Die Missstände in der Kirche, von der päpstlichen Spitze bin hinunter zu den Pfarreien, wurden allenthalben kritisiert. Thomas Müntzer schloss sich der reformatorischen Bewegung an und machte im sächsischen Zwickau wichtige Erfahrungen für seinen weiteren Lebensweg: Der dort betriebene Bergbau und das daraus gewonnene Kapital hatten für grossen Reichtum gesorgt, aber auch wachsende Armut erzeugt. Unter den Tuchknappen – Handwerkern, die sich von neuen Produktionsweisen in der Tuchherstellung überrollt fühlten – verbreitete sich Unruhe. Der Wunsch nach einer Reformation des christlichen Lebens ging hier weit über die Frage hinaus, welche Form die Kirche künftig annehmen sollte.
Das Wirken des Heiligen Geistes
In früheren Darstellungen wurde die Zwickauer Zeit, seine Begegnung mit dem «gemeinen Mann», dessen Wünschen und Forderungen, zum Wendepunkt in Müntzers Werdegang erklärt.[3] Diese Sichtweise, sei «mittlerweile überwunden», schreibt Goertz (S. 71). Hingegen zeigte sich bereits in Zwickau, dass Müntzer auf einem anderen geistigen Boden stand als Luther. Die Heilige Schrift bezeugt das göttliche Heil, es wird aber nicht allein in ihr offenbar, wie dies die lutherische Lehre behauptet. Entscheidend für Müntzer war das Wirken des Heiligen Geistes im «Abgrund der Seele» jedes einzelnen Menschen. Wichtige Impulse nahm er von der mystischen Frömmigkeit eines Johannes Tauler und anderer Meister der inneren Erfahrung auf. Die Mystik verband sich bei Müntzer mit einem apokalyptischen Verständnis der Gegenwart: Die Zeit der Ernte sei gekommen, hiess es in seinem Prager Sendbrief von 1521, jetzt müssten Weizen und Spreu voneinander getrennt werden. Im Fegefeuer der innerlichen Reinigung solle bereits zu Lebzeiten die Seele für den Empfang des göttlichen Geistes vorbereitet werden.
Aus allen seinen Wirkungsstätten wurde Thomas Müntzer vertrieben. «Doch er gab nicht auf und hegte keinen Zweifel an seiner Sendung.» Anfeindungen, Rückschläge und äussere Not, die Müntzer erlebte, empfand dieser vielmehr als «Bestätigung […], auf dem gottgewollten Weg zu sein». Was Müntzer als Unbelehrbarkeit vorgeworfen wurde, sei vielmehr «das Ergebnis eines Lernprozesses, in dem sich psychische und gesellschaftliche Erfahrungen mit theologischer Einsicht verbanden», hält Hans-Jürgen Goertz fest (S. 109).
«Alles gehört allen»
Durch Thomas Müntzers Reden und Schriften wurden die Unterschiede zu Luthers Verständnis der Reformation immer deutlicher. Der Wittenberger lebte im Einklang mit einer Welt, in der die Fürsten unbeschränkte Gewalt ausüben konnten. Müntzer hingegen forderte von der Obrigkeit, sie solle die Frommen schützen und die Gottlosen bestrafen – ansonsten werde ihr das Schwert genommen. Er wollte die Verhältnisse, also die Beziehungen der Menschen untereinander, so verändern, dass nicht mehr die Angst vor dem von Menschen Geschaffenen herrscht, sondern nur noch die Gottesfurcht. Luther hatte im Streit mit Müntzer eine Position eingenommen, die «letztlich die Autorität der weltlichen Obrigkeit stärkt», während dieser aus der Perspektive derjenigen dachte, «die gerade unter dieser Autorität leiden, sich aufbäumen und eine Besserung ihrer Lage von der Herrschaft Gottes auf Erden erwarten», schreibt Goertz (S. 179).
Nach dem offen zutage getretenen Bruch zwischen Luther und Müntzer spitzten sich die Geschehnisse weiter zu. Die Unruhe im Reich wuchs. Auf einer Reise, die ihn zuerst nach Basel führte, lernte Müntzer die aufrührerischen Bauern am Oberrhein kennen. Er kehrte nach Thüringen im Bewusstsein zurück, «an einer grossen Veränderung der Welt mitzuwirken», vermutet Goertz (S. 193). Beim Aufstand des «gemeinen Mannes» im Frühjahr 1525 hatte Thomas Müntzer in Thüringen ein gewichtiges Wort mitzureden. Wenn die Herrschaft auf das Volk übergehe, müsse auch das Recht neu geregelt werden. Omnia sunt communia, alles gehört allen: Nach dieser Maxime sei vorzugehen, bekannte Müntzer im Verhör, nachdem die Bauernhaufen von den Fürstenheeren vernichtet worden waren.
Hoffnung auf das kommende Reich
«Geschlagen ziehen wir nach Haus, unsere Enkel fechtens besser aus.» Diese Parole aus dem Bauernkrieg hatte es Ernst Bloch ganz besonders angetan. An ihr wollte er die Kraft des Utopischen verdeutlichen: Der Geist der Hoffnung auf eine andere, bessere Welt verschwindet nicht einfach, er taucht vielmehr an unerwarteter Stelle wieder auf. Mehr als 300 Jahre später, im deutschen Vormärz, dem Vorfeld der Revolution von 1848, die abermals scheitert, wird Müntzer als Protagonist des Kampfes um die Freiheit des Volkes erinnert. Im 20. Jahrhundert ist es dann die kommunistische Bewegung, die Müntzer wieder entdeckt. Schliesslich nimmt sich die Deutsche Demokratische Republik seines Erbes an, kann aber letztlich nicht viel mit dessen Radikalität anfangen.
Der ideologische Krieg, der um Thomas Müntzer entfacht wurde, scheint mit dem Ende der DDR und des «real-existierenden Sozialismus» gegenstandslos geworden zu sein. Das wäre eine Chance, diesen Mystiker neu zu entdecken, der den Blick nicht nur nach innen richtete, sondern dazu beitragen wollte, all das in der äusseren Welt zu ändern, was die Menschen davon abhält, nach der Gerechtigkeit des Reiches Gottes zu trachten. Das Buch von Hans-Jürgen Goertz, das zuerst 1989 erschien, nun aber in einer völlig überarbeiteten Neuauflage vorliegt, kann dazu Wesentliches beitragen und die Hoffnung stärken, dass dieses Reich kommen wird.
[1] Ernst Bloch: Thomas Münzer als Theologe der Revolution. Gesamtausgabe in 16 Bänden. Band 2, Frankfurt/M. (Suhrkamp Verlag) 1977, S. 9. Die Erstausgabe erschien 1921. Eine ergänzte Ausgabe kam wohl nicht ganz zufällig 1969 heraus – als eine Antwort Blochs auf die Bewegung der radikalen Jugend Ende der 1960er-Jahre.
[2] Ebd., S. 109.
[3] Zum Beispiel beim sowjetischen Historiker M.M. Smirin: Die Volksreformation des Thomas Münzer und der grosse Bauernkrieg. Übersetzt aus dem Russischen von Hans Nichtweiss, Berlin/DDR (Dietz Verlag) 1952.
Hans-Jürgen Goertz: Thomas Müntzer. Revolutionär am Ende der Zeiten. Eine Biographie. München (C.H. Beck) 2015, 352 Seiten, € 24.95
Kommentare 8
Erst mal vielen Dank für diesen Beitrag! Aber das ist doch gewollt, - wer fragt in diesem neuen Deutschland noch nach Namen wie Stefan Heym, Kurt Tucholsky oder Gerhard Zwerenz.
" Die Grundsuppe der Dieberei sind unsere Fürsten und Herrren, nehmen alle Creaturen zu ihrem Eigenthum, die Fisch im Wasser, die Vögel in der Luft, das Gewächs auf Erden muß alles ihre seyn. Aber den Armen sagen sie: Gott hat geboten, du sollst nicht stehlen. Sie selber schinden und schaben alles, was da lebt; so aber ein Armer sich vergreift am Allergeringsten, muß er henken. Dazu sagt denn der Doctor Lügner Amen.“
Thomas Münzer
…das hat er 15 und paar zerquetschte gesagt und ist doch so aktuell im Kapitalismus!
Sehr geehrter Herr Seifert,
auch meinerseits herzlichen Dank für Ihre an Thomas Müntzer erinnernde Rezension.
Die Geschichte seiner Person und seines Wirkens sowie dessen historiographische und künstlerische Rezeption stellen einen nicht weg zu denkenden Teil meiner eigenen Sozialisation dar, da ich 1973 in Bad Frankenhausen am Kyffhäuser geboren wurde, in einer Thomas-Müntzer-Straße wohnte, 10 Jahre lang eine POS "Thomas Müntzer" besuchte und meine Wege mich in Kindheit und Jugend ungezählte Male über den Schlachtberg führten, den Ort, an dem der "Thüringer Haufen" in der letzten, entscheidenden Schlacht des Deutschen Bauernkrieges am 15. Mai 1525 vernichtend geschlagen wurde.
Gestatten Sie mir bitte die Frage, ob Sie von dem seit 1974 ebendort erbauten Panoramamuseum bzw. Werner Tübkes Monumentalgemälde zur Geschichte der Frühbürgerlichen Revolution in Deutschland wissen, dieses vielleicht in eigener Person einmal haben betrachten können? Falls nein, möchte ich Ihnen und eigentlich jedem (kunst)historisch Interessierten einen Besuch dort und überdies eine Erkundung dieser sehr reizvollen und geschichtsträchtigen Thüringer Landschaft nur wärmstens empfehlen: http://www.panorama-museum.de/de/permanent.html.
Ihrer Aussage, die DDR habe mit der Radikalität des Müntzerschen Denkens und Wirkens nicht wirklich etwas anfangen können, kann ich aus persönlicher Erfahrung in dieser Absolutheit bzw. Allgemeinheit nicht zustimmen. Was Werner Tübke von den ersten Vorarbeiten 1976 bis zur Signatur 1987 mit diesem Gemälde erschaffen hat, erschaffen konnte, ist ein künstlerisch so faszinierendes wie geistesgeschichtlich überaus facettenreiches und herausforderndes Kunstwerk, welches den Versuch unternimmt, unter Rückgriff auf die ganz spezifische Bildsprache dieser Übergangsperiode vom Ende des mittelalterlichen Feudalsystems bis in die frühe Neuzeit, in die Renaissance in ihren verschiedensten Dimensionen zu erkunden: der religiösen, sozialgeschichtlichen, politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen... Auf einzigartige Weise thematisiert dieses Gemälde wesentliche Aspekte der Entwicklung menschlicher Gesellschaften auf eine Weise, die durchaus auch einlädt, einen Bezug herzustellen zu revolutionären Ideen der jüngeren deutschen Vergangenheit und Gegenwart.
Die Eröffnung des Panoramamuseums im September 1989 war der letzte kulturpolitische Staatsakt der DDR. Vermutlich nicht nur in meiner Wahrnehmung kommt diesem Ereignis, diesem Kunstwerk und seiner Entstehungsgeschichte ein Symbolgehalt ganz eigener Art zu. Die internationale, insbesondere aber auch innerdeutsche Konzeptions- und Rezeptionsgeschichte dieses Gemäldes in "Vor- und Nachwendezeiten" spricht erhellende Bände ... Hat sich die von Ihnen besprochene Müntzer-Biographie von Hans-Jürgen Goertz auch damit beschäftigt :-?
MfG,
G. Schröder
Besten Dank für Ihren ausführlichen Kommentar zu meinem Müntzer-Beitrag! Nein, das Panoramamuseum kenne ich leider nicht, aber der Name Werner Tübke ist mir ein Begriff. Wenn ich schreibe, die DDR habe wenig mit der Radikalität des Erbes von Thomas Müntzer anfangen können, dann ist das sicher sehr verallgemeinernd formuliert. Ich meine damit, dass im DDR-Sozialismus die «spirituelle» Dimension des Denkens von Müntzer keinen Platz hatte. «Kirche im Sozialismus» wurde soweit akzeptiert, wie sie dem Machterhalt diente, eine kritische Auseinandersetzung mit der geistigen Basis einer neuen Gesellschaft wurde meines Wissens kaum geführt.
Was Hans Jürgen Goertz zur Darstellung von Thomas Müntzer durch Werner Tüpke schreibt, müsste ich erst noch einmal nachlesen. Ich habe das Buch gerade nicht zur Hand.
Herzliche Grüsse, Kurt Seifert
Lieber Herr Seifert,
wieder ein schöner Beitrag. Unlängst las ich erneut Blochs Müntzer-Text. Ursprünglich vom "Geist der Utopie" zum Philosophieren angeregt, war es diesmal das lesenswerte Buch von Gert Ueding 'Wo noch niemand war Erinnerungen an Ernst Bloch', das mich inspirierte, erneut Bloch zu lesen. Wegen der Reformationsfeierlichkeiten im nächsten Jahr bin ich dann bei Blochs Müntzer-Text hängengeblieben. Das Buch von Goertz werde ich ganz bestimmt lesen. Herlichst, am
Ja, das Buch von Ueding ist sehr schön - auch wenn sein Urteil über Karola Bloch allzu harsch ausfällt, finde ich.
Ich hatte Ihnen versprochen, die Darstellung des Werks von Werner Tübke bei Hans-Jürgen Goertz nachzulesen und hier nachzutragen. Im Anhang über «Verzerrte Bilder» schreibt Goertz auch einiges zur DDR-Rezeption von Thomas Müntzer (siehe S. 260 ff.). Auffällig ist gemäss Goertz die unterschiedliche Wahrnehmung von Luther, die dann jeweils auch Auswirkungen auf das Müntzer-Bild hatte. Beim ersten Reformationsjubiläum, 1967 (450 Jahre nach dem Thesen-Anschlag), wurde der Wittenberger Reformator «in die staatliche Traditionspflege aufgenommen» (S. 263). Beim nächsten Jubiläum, 1975 (450 Jahre Bauernkrieg), stand dann Müntzer viel stärker im Zentrum der Wahrnehmung. Beim Luther-Jahr 1983 habe der DDR-Staatsführung viel daran gelegen, «die Weltwirkung des Reformators zu nutzen, um die internationale Reputation des Landes vornehmlich im Hinblick auf das protestantische Nordamerika aufzuwerten» (S. 263 f.). Die Gegensätzlichkeit zwischen Luther und Müntzer sei von den DDR-Verantwortlichen nicht bewältigt worden. Das Müntzer-Jubiläum 1989 sei damit belastet worden, «dass nicht alle Verantwortlichen nachvollziehen konnten, Müntzer zu feiern und daneben Luther auf keinen Fall mehr herunterzustufen. Ausserdem fiel es vielen wohl schwer, die Wende in der Forschung nachzuvollziehen und in Müntzer nicht eigentlich mehr den Sozialrevolutionär, sondern in erster Linie den Theologen zu sehen» (S. 264). Der Müntzer-Mythos in der DDR - gefördert auch durch das Panoramamuseum bei Bad Frankenhausen - sei «von der historischen Forschung untergraben» worden (ebd.) - Soviel also bei Goertz zu Ihrer Frage!
Mein letzter Kommentar sollte eigentlich an Sie gehen!
Herzlichen Dank für Ihre Mühe!Mittlerweile bin ich auch auf die Thomas-Müntzer-Gesellschaft gestoßen, deren Vorstandsvorsitzender Prof. Goertz ist: http://www.thomas-muentzer.de/forschung.htm
Die Annahme, Werner Tübkes Gemälde im Panorama Museum sei vordringlich dazu intendiert (gewesen), den Müntzer-Mythos zu fördern, halte ich für verkürzend. Als Kind Bad Frankenhausens kann ich Sie und alle anderen Interessierten nur herzlich einladen, sich (im doppelten Sinne) vor Ort ein eigenes Bild zu machen.
Herzliche Grüße in die Schweiz!