Vor dem Tod sind nicht alle gleich

Essay Die Lebenserwartung vieler Menschen steigt immer weiter. Was bedeutet das für die soziale Gestaltung der späten Lebensjahre?

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Vor dem Tod sind nicht alle gleich

Foto: Sean Gallup/AFP/Getty Images

Noch vor wenigen Generationen, also bis in das 20. Jahrhundert hinein, war es mehr oder weniger selbstverständlich, dass ein langes Leben das Privileg von wohlhabenden Männern, gelegentlich auch Frauen, darstellte. Es ist bekannt, dass Frauen heute im Durchschnitt länger leben als Männer. Viel weniger bewusst ist uns allerdings, dass es sich dabei um eine relativ junge Erscheinung handelt, denn noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts war ein durchschnittliches männliches Leben deutlich länger als jenes der Frau.

Die geringe Lebenserwartung einer Mehrheit der Bevölkerung hatte mit unzureichender Ernährung, mangelhafter Versorgung mit sauberem Wasser sowie mit einem beschränkten Zugang zu medizinischer Versorgung zu tun. Wer als Besitzloser ein Alter erreichte, in dem er nicht mehr fähig war, für den eigenen Unterhalt zu sorgen, musste von den Angehörigen unterstützt werden. Gab es keine Angehörigen oder waren diese zur Unterstützung nicht in der Lage, so blieben nur noch die Armenpflege und das Altersasyl. Die Historikerin Heidi Witzig beschreibt die Lage von armen Alten in der Schweiz des 19. Jahrhunderts sehr treffend: Diese hatten darum bemüht zu sein, «sich möglichst pflegeleicht zu verhalten, möglichst wenig zu essen und sich auf den Tod vorzubereiten, der für die Angehörigen eine materielle Erleichterung bedeuten würde».[1]

Dank einer schrittweisen Verbesserung der Lebensbedingungen erhöhte sich auch die durchschnittliche Lebenserwartung ganz allmählich. Sehr eindrücklich wird dies bei einem Vergleich des Bevölkerungsanteils der 80-jährigen und älteren Personen zwischen 1900 und heute. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts betrug dieser Anteil erst 0,4 Prozent der schweizerischen Wohnbevölkerung. 1950 waren es gerade 1,1 Prozent und heute liegt der Anteil bereits bei fünf Prozent. Bis in die Mitte des 21. Jahrhunderts soll er auf rund zehn Prozent steigen.[2]

Solche Zahlen beeindrucken und können auch mancherlei auslösen: Stolz angesichts des gesellschaftlichen Fortschritts oder auch Angst vor den Folgen einer vermeintlichen «Überalterung». Diesen Gedanken lasse ich jetzt erst einmal beiseite und wende mich einer anderen Überlegung zu: Durchschnittszahlen können ein Indikator sein, ein Hinweis auf Grundzüge einer Gesellschaft, auch auf Entwicklungstendenzen – doch sie bilden die gesellschaftliche Wirklichkeit nur unzureichend ab. So sagt beispielsweise die Zahl eines Durchschnittseinkommens nichts über die tatsächliche Verteilung der Einkommen aus. Erst die Werte der einzelnen Einkommensklassen machen die Unterschiede zwischen «oben» und «unten», zwischen reich und arm deutlich.

Was heißt «durchschnittliche Lebenserwartung»?

Nun also zum Konstrukt der «durchschnittlichen Lebenserwartung». Sie ist eine statistische Größe. Wirklich aussagekräftig wird der gewonnene Wert erst dann, wenn er mit anderen Größen in Verbindung gebracht wird – also beispielsweise dem Geschlecht. Darüber geben die Daten des Bundesamtes für Statistik sehr genau Auskunft. Etwas anderes ist es, wenn es um den sozio-ökonomischen Status geht. Die Definition des Geschlechts erscheint als relativ einfach. Sie ist bislang binär codiert: männlich oder weiblich. Inzwischen wissen wir aber, dass es Menschen gibt, die sich weder auf das eine oder das andere Geschlecht festlegen lassen. Sie stellen nicht nur die Statistiker vor Probleme.

Als wesentlich komplexeres Problem erweist sich die Definition des sozio-ökonomischen Status. Hier spielen verschiedene Faktoren eine Rolle: Bildungsabschluss, Beruf und Lohn sind notwendige Elemente, aber längst nicht hinreichend, um die Position einer Person in der Gesellschaft beschreiben zu können. So hat beispielsweise der französische Soziologe Pierre Bourdieu vorgeschlagen, die Ausstattung einer Person mit bestimmten Kapitalien zu untersuchen, um ihre Stellung innerhalb eines sozialen Raums definieren zu können. Bourdieu geht über den Kapitalbegriff der Wirtschaftswissenschaften hinaus und kennt neben dem ökonomischen auch das kulturelle sowie das soziale Kapital. Ich werde hier auf dieses Konzept nicht näher eingehen und möchte bloß darauf verweisen, dass sich Bourdieus Ansatz für die Sozialforschung als sehr fruchtbar erwiesen hat. So haben wir ihn beispielsweise für eine Studie verwendet, die sich mit dem Übergang vom «dritten», den sogenannt aktiven, zum «vierten», dem fragilen Alter befasst.[3]

Dass es Verbindungen zwischen dem sozialen Status und der Sterblichkeit gibt, ist bereits seit dem 19. Jahrhundert bekannt. Arbeiten, welche diese Zusammenhänge näher erforschen, sind in der Schweiz allerdings eher dünn gesät. Dies hat wesentlich damit zu tun, dass hierzulande soziale Ungleichheiten lange Zeit kaum thematisiert worden sind. Wenn es überhaupt geschah, dann vor allem in akademischen und intellektuellen Kreisen. Heute haben wir mehr Kenntnisse darüber, doch die Auswirkungen sozialer Ungleichheit auf die Lebenserwartung gehören auch heute noch nicht zum Standardwissen.

Armut und Reichtum im Alter

Dass unsere Erkenntnisse über Armut und Reichtum in der Schweiz vertieft worden sind, haben wir nicht zuletzt dem Hilfswerk Caritas zu verdanken, das seit vielen Jahren Aufklärungsarbeit zur gesellschaftlichen Wirklichkeit leistet. Ich kann dies hier als Mitarbeiter von Pro Senectute Schweiz ganz ohne Neid sagen. Wir haben uns nämlich von Caritas anregen lassen, das Thema der Altersarmut genauer unter die Lupe zu nehmen. Das Ergebnis dieser Untersuchungstätigkeit liegt in Form einer Studie vor, die 2009 erschien und nicht nur bei Fachleuten Beachtung gefunden hat.[4]

Im Rahmen der erwähnten Aufklärungsarbeit veröffentlichte Caritas Schweiz vor einigen Jahren eine kleine Studie, die bestens zu unserem heutigen Thema passt. Ich beziehe mich hier auf diese Publikation aus dem Jahr 2002 – und zwar deshalb, weil sie in ihren Aussagen und Schlussfolgerungen keineswegs veraltet ist. Ihr Titel lautet Arme sterben früher.[5] In der Studie geht es um Zusammenhänge zwischen sozialer Schicht und Sterblichkeit sowie um mögliche Folgen für die Rentenalterspolitik. Gabriela Künzler und Carlo Knöpfel schreiben, dass der «Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Gesundheit oder Sterblichkeit» schon «seit langem in Fachkreisen bekannt» sei, in der Öffentlichkeit aber «relativ schwach wahrgenommen» werde.[6]

In der Schweiz kam die Diskussion erst mit einer Studie des Genfer Arbeitsinspektorats in Gang, die das Auftreten von Invalidität und Frühsterblichkeit unter der männlichen Bevölkerung Genfs im Alter von 45 bis 65 Jahren untersuchte und im Jahr 2000 veröffentlicht worden ist. Die Autoren Etienne Gubéran und Massimo Usel stellten dabei fest, dass der Unterschied in der geschätzten mittleren Lebenserwartung zwischen einem Akademiker und einem an- oder ungelernten Arbeiter 4,4 Jahre beträgt. Der Unterschied in der durchschnittlichen Lebenserwartung zwischen Männern und Frauen in der Schweiz betrug zu diesem Zeitpunkt 4,2 Jahre. Die Caritas-Studie kommt zum Ergebnis: «[…] die Differenz zwischen den Sozialklassen in Genf ist also grösser als die zwischen den Geschlechtern in der Schweiz».[7]

Soziale Ungleichheit und Gesundheit

Auch neuere Untersuchungen bestätigen die Wechselwirkungen zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit. So hat die Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz vor einigen Jahren ein Grundlagendokument in Auftrag gegeben, das für Fragen der Ungleichheit im Zusammenhang mit Gesundheit sensibilisieren soll. Die Autoren Hanspeter Stamm und Markus Lamprecht kommen zum Ergebnis, dass Gesundheitsförderung und Ungleichheitsfragen nicht voneinander getrennt werden können, denn «ein zentrales Ziel der Gesundheitsförderung [besteht] in der Verminderung gesundheitlicher Ungleichheit, die ihrerseits eng mit grundlegenden gesellschaftlichen Ungleichheiten verknüpft ist».[8]

Die erwähnte Genfer Untersuchung löste eine öffentliche Debatte über die Frage aus, ob nicht für bestimmte Berufsgruppen, die materiell und insbesondere auch gesundheitlich benachteiligt sind, Formen der Frühpensionierung entwickelt werden müssten, die nicht mit einem finanziellen Nachteil für die Betroffenen verbunden sein dürften. In der Regel lassen sich nämlich gerade jene Personen, die materiell gut gestellt sind, vorzeitig pensionieren. Sie profitieren zudem von ihrer durchschnittlich längeren Lebenserwartung. Personen in unteren und mittleren Einkommensgruppen hingegen können sich die vorzeitige Pensionierung oft nicht leisten und müssen dann bis zum offiziellen Rentenalter arbeiten. Sie haben zusätzlich den Nachteil einer durchschnittlich kürzeren Lebenserwartung.

Keine Regel ohne Ausnahme: Selbstverständlich gibt es auch materiell gut Situierte, die über das Rentenalter hinaus arbeiten wollen. Ein Plädoyer dafür konnte mal kürzlich in der NZZ am Sonntag lesen. Der langjährige Redaktor Urs Rauber führt dort aus, weshalb es Freude mache, der Firma nütze und der sozialen Gerechtigkeit diene, wenn Menschen in Büroberufen erst später in Rente gehen würden.[9] Ich sympathisiere mit einigen seiner Argumente und handhabe es persönlich auch so, weiss allerdings, dass viele Menschen, selbst in Büroberufen, längst nicht in einer solch privilegierten Position wie ein Redaktor der NZZ oder ein Mitarbeiter von Pro Senectute sind.

Die Frage des Rentenalters

Doch zurück zur Genfer Untersuchung. Durch sie wurde, erstmals in der jüngeren Geschichte, die Verbindung zwischen sozialer Ungleichheit und der Frage des Rentenalters zum gesellschaftlichen Thema. Für entsprechende Resonanz sorgte im November 2002 ein Warnstreik der Bauarbeiter, die sich für eine Branchenlösung zur Frühpensionierung einsetzten. Der Streik schuf den notwendigen öffentlichen Druck, damit der Schweizerische Baumeisterverband Bereitschaft zeigte, zusammen mit den Gewerkschaften UNIA und SYNA einen Gesamtarbeitsvertrag für den flexiblen Altersrücktritt im Bauhauptgewerbe zu unterzeichnen, der vom Bundesrat allgemeinverbindlich erklärt wurde und am 1. Juli 2003 in Kraft getreten ist. Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen haben die Stiftung Flexibler Altersrücktritt (www.far-suisse.ch) geschaffen, die seither mehr als 13‘500 Frührenten bewilligt hat. Gegenwärtig laufen Verhandlungen zur Verlängerung dieses Vertrags. Die Baumeister stehen offiziell zwar weiterhin zur Regelung der Frühpensionierung, drängen aber darauf, dass entweder die Renten gekürzt oder das Eintrittsalter erhöht wird. In dieser Frage sind also weitere Debatten und Kontroversen, vielleicht auch Aktionen, zu erwarten – und ich bin sehr gespannt, wie diese in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden.

Die zunächst einmal sehr erfolgreiche Lösung im Bauhauptgewerbe wurde allerdings nicht zum erhofften Impuls für weitere Branchenlösungen zur Frühpensionierung bzw. zu einer generellen Regelung im Rahmen der gesetzlichen Altersvorsorge. In den Diskussionen um eine 11. AHV-Revision tauchten wohl Vorschläge auf, bestimmten Personengruppen, die körperlich und/oder psychisch starke belastende Arbeit geleistet haben, eine vorzeitige Pensionierung ohne Rentenkürzungen zu ermöglichen. Es zeigte sich jedoch, dass zum einen die Schwierigkeiten zur Abgrenzung solcher Gruppen gross sind, zum anderen aber auch die politischen Widerstände gegen eine solche Lösung nicht unterschätzt werden dürfen. Es wird damit argumentiert, dass für andere Berufsgruppen gegebenenfalls Branchenlösungen wie beim Bau gefunden werden müssten. Dabei übersieht man gerne, dass der gewerkschaftliche Organisationsgrad beispielsweise bei Verkäuferinnen deutlich geringer ist als bei den Bauarbeitern – und diese gewerkschaftliche Stärke gab schließlich den Anstoß für den Gesamtarbeitsvertrag.

An dieser Stelle werden Sie sich möglicherweise fragen: Wie kommt der Autor von der Ungleichheit vor dem Tod auf einen Gesamtarbeitsvertrag für das Baugewerbe? Ich möchte Sie mit meinen weiteren Ausführungen davon überzeugen, dass das eine mit dem anderen einiges zu tun hat.

«Drittes» und «viertes» Alter

Wenn wir heute vom «Alter» sprechen, dann haben wir manchmal das Bild eines monolithischen Blocks vor uns – sozusagen eine graue Masse, die irgendwie bedrohlich wirkt. «Überalterung» oder «Pflegenotstand» sind dann die passenden Begriffe dafür. Es gibt auch andere Darstellungen, die eher dazu neigen, das Alter schönzufärben. Da sind dann die Silver Ager, die fitten und kaufkräftigen Senioren und Seniorinnen. Zwischentöne bleiben so oft aus – und dabei ist die Generation 65+ in gewisser Weise vielfältiger als die Generationen zuvor dies sind. Auch die Gerontologie, die Altersforschung, nimmt inzwischen davon Kenntnis. Sie spricht heute von einem «dritten» und einem «vierten» Alter, das sich nicht in erster Linie chronologisch unterscheidet, sondern durch den Grad der Selbstständigkeit, mit dem ein Leben im Alter geführt werden kann. Das «dritte» Alter ist dann jenes, das von weitgehender Autonomie geprägt ist und sich somit kaum vom «zweiten» Alter unterscheidet, dass durch berufliche und familiale Rollen bestimmt worden war. Diese Funktionen fallen im «dritten» Alter weitgehend weg bzw. erscheinen in veränderter Form. An die Stelle der Erziehung und Begleitung der eigenen Kinder ins Leben hinein tritt beispielsweise die Großmutter- oder Großvater-Rolle. Im «vierten», dem fragilen Alter nimmt dann der Bedarf an Unterstützung durch andere Menschen zu und der bisherige autonome Status wird dadurch relativiert.

Diese Unterscheidung deckt sich nur teilweise mit einer anderen Differenzierung, die mit der Grad der Verfügbarkeit von ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital zusammenhängt – um hier noch einmal die Begriffe des Soziologen Pierre Bourdieu zu verwenden. Die deutsche Gerontologin Gertrud M. Backes und der aus der Schweiz stammende Gerontologe Ludwig Amrhein gehen von einer künftig zunehmenden «Polarisierung in ein positives und ein negatives Alter» aus.[10] Das «positive Alter» wird bestimmt durch gute bis sehr gute Einkommens- und Vermögensverhältnisse, ein hohes Maß an Selbstständigkeit und sozialer Integration sowie durch die Fähigkeit zur Selbsthilfe und Selbstorganisation. Das «negative Alter» ist besonders häufig bei Angehörigen von sozialen Unterschichten, bei sehr alten Menschen und vor allem bei hochaltrigen Frauen anzutreffen. Backes und Amrhein stellen fest: «Traditionelle soziale Ungleichheiten werden im Alter durch geschlechtsspezifische und kohortentypische Ungleichheiten überlagert, wobei sich Kumulationseffekte bei problematischen Lebenslagen ergeben. In den letzten Jahren verstärken sich Hinweise auf ein sich verfestigendes, wenn nicht gar sich ausweitendes ‹negatives Alter›.»[11]

Was genau ist damit gemeint? Die erworbene und entwickelte Position im sozialen Gefüge des Erwachsenenlebens wird im Alter durch bestimmte Prozesse beeinflusst und dadurch möglicherweise akzentuiert. Das kann beispielsweise bedeuten, dass Frauen, die traditionell für den Bereich der Sorgearbeit zuständig sind – neudeutsch care genannt –, ihre Ehemänner betreuen, dann aber nach der Verwitwung vielfach nicht mehr auf die gleiche intensive Unterstützung zählen können und deshalb eher auf stationäre Pflege angewiesen sind als gleichaltrige Männer. Hinzu kommen genetisch gesteuerte Alterungsprozesse, die vor allem die Lebenslage hochaltriger Menschen bestimmen. Die Auseinandersetzung mit diesen Entwicklungen wird aber wiederum von den Mitteln geprägt – also den Kapitalformen gemäß Bourdieu –, über die eine Person verfügt.

Altersarmut - auch in der Schweiz

Die zitierte Aussage von Gertrud M. Backes und Ludwig Amrhein bezüglich einem sich verfestigenden «negativen Alter» ist insbesondere auf Deutschland gemünzt. Die Situation stellt sich in der Schweiz etwas anders dar, doch muss auch hierzulande festgestellt werden, dass Altersarmut weiterhin existiert. So hat die europaweit durchgeführte Erhebung über die Einkommen und Lebensbedingungen (Statistics on Income and Living Conditions, SILC) ergeben, dass die Armutsquote von Personen ab 65 Jahren mit 16,4 Prozent deutlich über jener der Gesamtbevölkerung – 7,7 Prozent – liegt. Alleinstehende Frauen ab 65 Jahren sind sogar zu annähernd 30 Prozent von Armut betroffen.[12] In den 1980er Jahren, als es noch keine obligatorische zweite Säule gab, lag die Rate der Altersarmut zwar deutlich höher, doch gegenwärtig ist nicht absehbar, dass sie sich markant verringern würde. Dagegen spricht beispielsweise der wachsende Bedarf an Sozialberatung bei Pro Senectute, bei der es in mehr als 50 Prozent der Fälle um finanzielle Fragen geht.

Diese Hinweise auf Ungleichheit im Alter, die sich eben nicht auf genetische Einflüsse reduzieren lässt, sollen vorerst als Illustration genügen, dass vor dem Tod nicht alle gleich sind. Doch nun zu meiner These, dass dies nicht einfach hingenommen werden sollte und dass die Lebensbedingungen im Alter auch veränderbar sind. Ich stelle sie in den Raum und liefere Hinweise, wie sie stark gemacht werden könnte.

Angst vor «Überalterung»

Zunächst einmal möchte ich etwas festhalten, das im öffentlichen bzw. veröffentlichten Bewusstsein unterzugehen droht: Wir sind nämlich Zeuginnen und Zeugen eines gewaltigen Veränderungsprozesses, der zu einer Verlängerung der Lebenserwartung und zu einem Gewinn an gesunden Jahren geführt hat. Dazu heißt es in einem Diskussionsbeitrag zur Zweiten Weltversammlung zur Frage des Alterns, die vor 13 Jahren in Madrid stattgefunden hatte: «Der Menschheitstraum vom langen Leben in würdigen Verhältnissen wird immer mehr zur Wirklichkeit.» Einschränkend wird dann aber formuliert: «Dies trifft allerdings nur für die reichen Gesellschaften zu. Und selbst dort muss die Entwicklung differenziert betrachtet werden: Angehörige schlechter gestellter Berufsgruppen nehmen am Prozess zunehmender Lebenserwartung weniger stark teil als solche aus höher eingestuften Berufsgruppen.»[13]

Dieser humane Fortschritt wird heute leider oft kleingeredet oder gar schlecht gemacht. So wird eben von der «Überalterung» gesprochen, als handle es sich dabei um eine Naturkatastrophe, welche die Gesellschaft zu zerstören drohe. Es steht dann auch nicht der Gewinn an gesunden Jahren im Zentrum, sondern die Kosten für pflegebedürftige alte Menschen werden in den Vordergrund gestellt – und damit alle positiven Aspekte ins Abseits gedrängt. Dieser Katastrophen-Diskurs beeinflusst nach meiner Beobachtung auch die Diskussionen über die letzte Lebensphase, über Sterben, Tod und Sterbehilfe. Wer der Gesellschaft bloß noch zur Last fällt, sollte überlegen, ob es nicht besser wäre, wenn er oder sie rechtzeitig abtreten würde. Dieser Gedanke läuft in solchen Debatten untergründig mit, und wenn er ausgesprochen wird, dann doch am liebsten off the records [14]

Autonomie um jeden Preis

Gesprochen wird vor allem von etwas anderem, das ich «Autonomie um jeden Preis» nennen möchte. Von den Sterbehilfe-Organisationen wird das selbstbestimmte Sterben propagiert: Der Tod soll seines Schicksalhaften entkleidet werden, indem der Todeszeitpunkt in die eigenen Hände genommen wird. Die Unausweichlichkeit des Todes bleibt auch so bestehen, doch über das Unausweichliche soll eben autonom entschieden werden. Dieser Wunsch nach Autonomie bis zum Letzten ist durchaus nachvollziehbar und bestimmt ja auch das Denken der Moderne. Allerdings wird dabei eine Grundbestimmung des menschlichen Lebens außer Acht gelassen: dass dieses Leben sich im Spannungsfeld zwischen Autonomie und Abhängigkeitbewegt – und auch künftig bewegen wird. Wir kommen nicht aus eigenem Entscheid auf die Welt und unsere Körper sind unvollkommen: Über unsere Krankheiten, unsere Alterungsprozesse und unseren Tod verfügen wir nur bedingt. Wir sind in den ersten Tagen, Monaten und Jahren vollkommen abhängig von anderen Menschen und entwickeln nur allmählich so etwas wie «Autonomie». Auch wenn wir krank sind oder im Alter unsere Kräfte schwinden, sind wir auf andere Menschen angewiesen. Das ist auch gut so, sonst wären wir bloß Automaten.

Als bemerkenswert möchte ich festhalten, dass sich diese Angst vor dem Verlust der Selbstbestimmung gerade in einer Zeit äußert, in welcher der medizinisch-technische Fortschritt einen vorläufigen Höhepunkt erreicht zu haben scheint. Dieser Fortschritt weist also ganz offenkundig auch eine dunkle Seite auf: Er trägt nicht nur die Züge des Humanen, Menschenfreundlichen, sondern hat auch etwas Überwältigendes an sich. Er nährt nämlich die Furcht, einer medizintechnischen Megamaschine ausgeliefert zu sein. Konkret geht es um die Angst, das eigene Leben werde unnötig verlängert, weil dies «die Ärzte» oder «der Staat» so wollten. Diese Sorge kontrastiert dann allerdings mit einer anderen Befürchtung, das öffentliche Gesundheitssystem könne seine Leistungen aus Altersgründen rationieren und damit die Alten als «überflüssig» erklären.

Mein Eindruck ist, dass die scheinbar so «rational» geführte Debatte über das Sterben und die Sterbehilfe sehr viel mit Befürchtungen und Ängsten zu tun hat, die viel zu selten zur Sprache kommen. Würde dies öfters geschehen, dann könnten wir vielleicht auch ein differenzierteres Verhältnis zum medizinisch-technischen Fortschritt und seiner Dialektik gewinnen. Wir wollen ja durchaus, dass Mittel zumindest zur Verzögerung demenzieller Prozesse erforscht werden. Wir möchten auch, dass ältere Menschen einen ungehinderten Zugang zum Gesundheitssystem behalten können. Auf der anderen Seite wollen wir nicht unnötig leiden müssen. Palliative Care ist dabei ein wichtiges Stichwort.

Wenn wir dieses differenzierte Verhältnis zum Fortschritt entwickeln, dann werden wir vermutlich auch feststellen, dass es eben nicht nur die, vielleicht als «unnötig» erscheinende, Lebensverlängerung gibt, sondern eben auch die unnötige Lebensverkürzung, bedingt durch Lebensverhältnisse, die – so meine These – als veränderbar angesehen werden sollen. Die Kritik des Schicksalhaften, welche die Sterbehilfe-Organisationen auf die von Menschen nicht gewollte Verlängerung des Lebens, bzw. des Leidens, beziehen, müsste auch auf die nicht gewollte Verkürzung des Lebens durch bestimmte sozio-ökonomische Lebenslagen ausgeweitet werden.

Ungerechtigkeit bekämpfen

Strukturen der Ungerechtigkeit verursachen Leiden – beispielsweise in Form von verlorenen Lebensjahren. Solchen Strukturen sollte unsere Kritik gelten. So, wie es die Sterbehilfe-Organisationen gibt, die für die Rechte jener Menschen kämpfen, die nicht länger als erwünscht leben wollen, muss es auch Organisationen geben, die sich für die Belange von Menschen einsetzen, die gerne länger leben, etwas länger ihre Rente genießen möchten, aber aufgrund ihrer gesellschaftlichen Situation benachteiligt sind.

Solches Engagement ist notwendig, aber nicht hinreichend. Die kritische Auseinandersetzung muss meines Erachtens grundsätzlicher ansetzen: Es geht nicht nur um die Kompensation der Auswirkungen von ungleichen Lebensverhältnissen – so unerlässlich diese für die davon betroffenen Menschen auch ist. Die ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Strukturen, die Ungerechtigkeit aufrechterhalten, müssen in den Blick kommen. Die Glücksforschung gibt uns Hinweise darauf, dass Menschen in Gesellschaften mit starker sozialer Ungleichheit unglücklicher sind als jene in relativ gleichen Gesellschaften. Das wirkt sich auch auf die Lebenserwartung aus. Ein Paradebeispiel für die Auswirkungen wachsender Ungleichheit ist Russland: Nach dem Ende der Sowjetunion sank dort die durchschnittliche Lebenserwartung von Männern bis Mitte der 1990er Jahre um mehr als sechs Jahre! Inzwischen ist sie wieder etwas höher, aber immer noch deutlich unter dem in den 1980er Jahren erreichten Stand.[15]

Vor dem Tod sind nicht alle gleich: Das lässt sich nicht bestreiten. Bestreiten lässt sich aber, dass dies einzig und allein «Schicksal» wäre und nicht anders werden könnte. Wir haben es in der Hand – mit unserem Handeln als Mitglieder einer Gesellschaft und als politische Wesen.

[1] Heidi Witzig: Einsamkeitserfahrungen von armen Kindern, Frauen und Männern im 19. Jahrhundert. In: Caritas Schweiz (Hrsg.): Sozialalmanach 2005. Schwerpunkt: Einsamkeit. Luzern (Caritas Verlag) 2004, S. 89 – 98; Zitat S.96.

[2] Angaben für 1900 und 1950 gemäß François Höpflinger, Astrid Stuckelberger: Demographische Alterung und individuelles Altern. Ergebnisse aus dem nationalen Forschungsprogramm Alter/Vieillesse/Anziani. Zürich (Seismo Verlag) 1999, S. 29; Daten für 2014 und Prognosen für 2045 gemäß BFS-SCENARIO 2015, www.bfs.admin.ch.

[3] Nadja Gasser, Carlo Knöpfel, Kurt Seifert: Erst agil, dann fragil. Übergang vom «dritten» zum «vierten» Lebensalter bei vulnerablen Menschen. Zürich (Pro Senectute) 2015.

[4] Amélie Pilgram, Kurt Seifert: Leben mit wenig Spielraum. Altersarmut in der Schweiz. Zürich (Pro Senectute) 2009.

[5] Gabriela Künzler, Carlo Knöpfel: Arme sterben früher. Soziale Schicht, Mortalität und Rentenalterspolitik in der Schweiz. Luzern (Caritas Verlag) 2002.

[6] Ebd., S. 45.

[7] Ebd., S. 26.

[8] Hanspeter Stamm, Markus Lamprecht: Ungleichheit und Gesundheit. Grundlagendokument zum Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Gesundheit. Im Auftrag von Gesundheitsförderung Schweiz. Mai 2009 (www.quint-essenz.ch/de/files/Grundlagendokument_Soziale_Ungleichheit.pdf)

[9] Urs Rauber: Warum ich bis 67 gearbeitet habe (und dies weiterempfehle), in: NZZ am Sonntag, 4. Oktober 2015, S. 19.

[10] Gertrud M. Backes, Ludwig Amrhein: Potenziale und Ressourcen des Alter(n)s im Kontext von sozialer Ungleichheit und Langlebigkeit. In: Harald Künemund, Klas R. Schroeter: Soziale Ungleichheiten und kulturelle Unterschiede in Lebenslauf und Alter. Fakten, Prognosen und Visionen. Wiesbaden (VS Verlag) 2008, S. 71 – 84; Zitat S. 72.

[11] Ebd., S. 73.

[12] Bundesamt für Statistik: Armut im Alter. Neuchâtel (BFS) 2014; Angaben S. 7f.

[13] Bundesamt für Sozialversicherung (Hrsg.): Langlebigkeit – gesellschaftliche Herausforderung und kulturelle Chance. Ein Diskussionsbeitrag aus der Schweiz zur Zweiten Weltversammlung zur Frage des Alterns, Madrid, 2002. Bern (BSV) 2002, S. 7.

[14] Siehe dazu Kurt Seifert: Schöner sterben? Wider die Rede vom «eigenverantwortlichen Tod», in: Monika Stocker, Kurt Seifert (Hrsg.): Alles hat seine Zeit. Ein Lesebuch zur Hochaltrigkeit. Zürich (Theologischer Verlag Zürich) 2015, S. 111 – 121.

[15] Ich beziehe mich hier auf Daten aus dem Artikel «Russland» auf Wikipedia.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert

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