Vor dem Vergessen bewahren

Rezension Arnold Künzli war ein Philosoph, der an der Überzeugung festhielt, dass der Kapitalismus endlich ist und überwunden werden muss. Eine Erinnerung an sein Erbe.

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In den bewegten Jahren rund um 1968 sprachen manche von "Revolution" und meinten damit mehr als das veränderte Design eines Autos oder eines Deodorants. Sie studierten die Schriften der Klassiker – aber nicht jene des bürgerlichen Bildungskanons. Das ist lange her. Immerhin wird auch heute wieder, da und dort, von der Notwendigkeit grundlegender Veränderungen gesprochen. Das Wort von einer möglicherweise kommenden "Revolution" tönt nicht mehr ganz so fremd wie noch vor wenigen Jahren. Da scheint es sinnvoll zu sein, auf vergangene Auseinandersetzungen um den richtigen Weg der gesellschaftlichen Veränderungen zurückzublicken, um besser zu begreifen, vor welchen Herausforderungen wir heute stehen.

Für gesellschaftspolitische Theoriearbeit, insbesondere linke, ist die Schweiz ein hartes Pflaster. Ein Land, das gerne dem Ausgleich und Pragmatismus frönt, bietet zu wenig Angriffsflächen, an denen sich kritisches Denken reiben kann. So bleibt auch der Beitrag der Eidgenossenschaft zur Entwicklung politischer Konzepte ziemlich bescheiden. Einer der wenigen aus jüngerer Vergangenheit ist mit dem Namen von Arnold Künzli verbunden. Aktuell liegen zwei Bücher vor, die an ihn erinnern und wichtige Texte aus den 1970er Jahren wieder bekannt machen. Hinter beiden Veröffentlichungen steht Ueli Mäder, hauptamtlicher Ordinarius für Soziologie an der Universität Basel. Sein Wirken führt etwas von dem weiter, was Künzli in Basel begonnen hatte: einen emanzipatorischen Sozialismus zu denken und zugleich an der "Emanzipation der Emanzipateure" zu arbeiten.

Kritiker der herrschenden Verhältnisse

Arnold Künzli wurde 1919 in Zürich geboren und verbrachte seine Kindheit sowie die ersten Schuljahre in Zagreb. In seinem späteren Leben sollte sich die auf diese Weise geschaffene Verbindung zum südslawischen Raum als wichtige Inspirationsquelle erweisen. Während des Krieges studierte Künzli in Zürich Philosophie, Germanistik und Romanistik. Zunächst war er, wie der Schriftsteller Max Frisch, ein "Rechter". Künzli unterstützte den "Gotthardbund", der an die Rettung der Schweiz durch Einführung einer autoritären Demokratie glaubte. Zu dieser Zeit kam er dann auch in Kontakt mit Emigranten. Er lernte Menschen kennen, "die ihr Leben riskiert haben für ihre politische Überzeugung, die im Wesentlichen auch eine moralische Überzeugung war", so Arnold Künzli später. In diesen Kreisen fand er seine erste Ehefrau, Franca Schiavetti, die später sehr bekannt gewordene Journalistin Franca Magnani.

Auch Künzli betätigte sich zunächst als Journalist: Zwischen 1946 und 1955 war er Auslandskorrespondent für die Basler National-Zeitung in Rom, London und Bonn. In den folgenden Jahren arbeitete er in deren Redaktion. Der Filmautor und Publizist Alexander J. Seiler hielt in einer Rede zur Erinnerung an Arnold Künzli fest: Die "bürgerliche Existenz" als Mitarbeiter einer hoch angesehenen Zeitung sei diesem missraten – doch dies sei kein Scheitern gewesen, sondern "Tatbeweis seines Engagements" als Kritiker der herrschenden Verhältnisse. Diese Rede ist – neben anderen Beiträgen, die an einer Gedenkfeier im Juni 2008 gehalten wurden – in dem von Ueli Mäder und Simon Mugier herausgegebenen Band enthalten.

Suche nach dem "dritten Weg"

Arnold Künzli schlug nach dem Ende seiner journalistischen Karriere den Weg in die Wissenschaft ein und lehrte Philosophie der Politik. (Eine persönliche Notiz am Rande: 1969/70 studierte ich ein Semester lang in Basel und ging auch in Künzlis Vorlesungen, weil er einer jener wenigen Hochschullehrer war, die Bereitschaft zeigten, sich mit der Achtundsechziger-Bewegung auseinanderzusetzen.) Künzli misstraute den Dogmen der Neuen Linken, die sich vor allem auf Marx bezogen. Seine Habilitationsschrift setzte sich mit Karl Marx auseinander. 1966 kam Karl Marx. Eine Psychographie als Buch heraus. Damit erreichte er die jungen "Nonkonformisten", die von den alten Antagonismen nichts mehr wissen wollten und einen "dritten Weg" zwischen den Machtblöcken des amerikanischen Westens und des sowjetischen Ostens suchten.

Für seinen psychographischen Ansatz erntete Künzli auch viel Kritik. Ein Beitrag in dessen Buch Tradition und Revolution, das 1975 erschien und im vergangenen Jahr als Reprint aufgelegt worden ist, setzt sich damit auseinander. In seinem Verständnis geht es der Psychographie darum, "in der Wechselwirkung von Psyche, Umwelt und Werk die Entwicklungsgeschichte der leibseelischen und geistigen Gesamtperson zu verstehen, um so das Werk besser verstehen zu können". In Bezug auf Marx bedeutete dies konkret, dass dieser möglicherweise eine historische Notwendigkeit gewesen ist, aber "als Mensch ein Gespaltener, ein Zerrissener, von verdrängtem Irrationalen Besessener, […] ein letztlich Unmündiger [war], dessen Unmündigkeit sich weitgehend auf sein Werk übertrug". Der marxistische Philosoph Wolfgang Fritz Haug antwortete auf Künzlis Marx-Buch und warf ihm "Abwehr des Sozialismus" vor. Da hatte er nicht ganz unrecht – wenn mit "Sozialismus" die sowjetische Formel gemeint war. Künzli hingegen konnte sich auf die ideologischen Auseinandersetzungen im "sozialistischen Lager" beziehen. Dort wurde von wichtigen Kräften die Definitionsmacht der Sowjet-Kommunisten klar bestritten, insbesondere von den Parteien Jugoslawiens und Chinas.

Partizipation als Kernidee

In seiner politischen Philosophie nahm Künzli immer eindeutiger Stellung für einen undogmatischen Sozialismus, wie er ihn bei den Mitgliedern der jugoslawischen "Praxis"-Gruppe gefunden hatte. Deren Sommerschulen auf der dalmatinischen Insel Korcula, die zwischen 1963 und 1974 stattfanden, waren weitherum bekannt als intellektueller Treffpunkt zwischen den ideologischen Fronten. Arnold Künzli nahm mehrfach daran teil und erinnerte sich später noch gerne an die Begegnungen. Ein zentrales Thema dieser Treffen war das jugoslawische Modell der Selbstverwaltung, das als Basis für eine humane sozialistisch-demokratische Gesellschaft angesehen wurde. Damit verbanden sich viele Hoffnungen in linken Kreisen.

Der Gedanke der Selbstverwaltung sollte auch in der Schweiz als Ausgangspunkt für grundlegende gesellschaftliche Veränderungen dienen. Dies war zumindest die Vorstellung von Künzli. In seinem jetzt wieder aufgelegten Buch von 1975 setzt er sich mit Fragen der Partizipation auseinander, die er als Kernidee einen nicht-orthodoxen Sozialismus bezeichnet. Der Philosoph sieht in ihr eine nahe Verwandte des anarchistischen Räte- und Kommune-Gedankens. Von Sozialismus könne ernsthaft nur gesprochen werden, wenn "die Gesellschaft im Sinne des Partizipationsgedankens, der Demokratisierung sämtlicher gesellschaftlicher Verhältnisse restrukturiert worden ist". Dieser Gedanke sei "tatsächlich revolutionär und nicht evolutionär, als er auf eine radikale Umwandlung des Bestehenden zielt".

Ein missglücktes Experiment der Selbstverwaltung

Die Sozialdemokratische Partei der Schweiz hatte Arnold Künzli eingeladen, an einem neuen Programm mitzuarbeiten. Dieser sagte zu und schlug vor, das Prinzip der Selbstverwaltung in den Mittelpunkt zu stellen. Der damalige SP-Parteipräsident Helmut Hubacher erinnert sich: Der unter Künzlis Federführung entstandene Programmentwurf sei "Wunschdenken als politischer Religionsersatz" gewesen. Die Programmkommission habe der SP eine "unlösbare Aufgabe" zugemutet, denn der "Vorschlag, die schweizerische Wirtschaft auf Selbstverwaltung umzustellen, bedeutete einen Systemwechsel. Dazu fehlte die Verfassungsgrundlage. […] Das letzte Wort hätte das Stimmvolk gehabt. Der Gedanke, die bürgerliche Mehrheit würde ihm die Selbstverwaltung der Wirtschaft zur Annahme empfehlen, überstieg unsere Fantasie." Soweit Originalton Hubacher. Der Gedanke einer demokratischen Überwindung des Kapitalismus mag abenteuerlich sein – vielleicht noch abenteuerlicher als die Erwartung einer irgendwie gearteten "revolutionären" Veränderung. Wer sich allerdings mit der Vorstellung abfindet, die schweizerische Linke werde auf immer und ewig in einer minoritären Position verbleiben, der braucht keine weiteren Überlegungen zu gesellschaftlichen Alternativen anzustellen.

Das Experiment eines sozialdemokratischen Selbstverwaltungsmodells für die Schweiz wurde von der Parteileitung schnell wieder abgeblasen. Deren Haltung enttäuschte Künzli zutiefst. In einem Radiogespräch von 1986 erklärte er: "Die Sozialdemokratie ist doch längst eine bürgerliche Partei, die sich mit dem bestehenden Wirtschafssystem abgefunden hat, und die ihre wesentliche Aufgabe noch darin sieht, die sozialen Härten, die dieses System verursacht, zu mildern." In Bezug auf das sozialdemokratische Politikverständnis gilt diese Diagnose vermutlich noch heute – wäre da nicht ein programmatischer "Überschuss", der diese Partei neben allem Pragmatismus auch noch prägt. "Demokratisierung der Wirtschaft" und "Überwindung des Kapitalismus", die das 2010 verabschiedete Programm kennzeichnen, sind nicht so weit von dem entfernt, was Arnold Künzli vor 30 Jahren vergeblich versucht hatte.

Revolution und Tradition

Arnold Künzli setzte sich mit den geistigen Strömungen seiner Zeit auseinander, ohne den jeweiligen intellektuellen Moden einfach hinterherzurennen. Er befragte konservatives, liberales wie linken Denken nach seinen unausgesprochenen Glaubenssätzen und betrieb im besten Sinne Ideologiekritik. Künzli ging es, wie der klassischen chinesischen Philosophie, um eine "Richtigstellung der Worte": Wir können die Wirklichkeit nur "richtig" erfassen, "wenn wir uns dabei richtiger, den Dingen zukommender, nicht sie ideologisch verschleiernder Begriffe bedienen", so Künzli in seinem Buch Tradition und Revolution. Das Prinzip der Französischen wie der russischen Oktober-Revolution geht davon aus, dass das Bestehende radikal verneint werden muss. Angesichts ihrer teilweise traumatisierenden Folgewirkungen stellte Künzli die skeptische Frage, "ob diese Revolution nicht dazu verurteilt ist, in grösserem oder geringerem Ausmass eben jenen Traditionen verpflichtet zu sein, die sie negieren will". Das hörten die jungen Himmelsstürmer der Achtundsechziger-Bewegung seinerzeit nicht gerne.

Den marxistischen Geschichtsdeterminismus – die Vorstellung also, dass der Gang der Ereignisse bereits vorgezeichnet sei und es nur noch darum gehen könne, dem Weltgeist die Kastanien aus dem Feuer zu holen, wie Hegel formulierte – lehnte Künzli ab. Er hielt es da eher mit Mao Zedong, der die Revolution in Permanenz halten wollte und nicht an ein Endziel der Geschichte glaubte. Das Hegelsche Konzept verstand Künzli als Ausdruck abendländisch-christlichen Denkens, das sich von chinesischen Modellen der Welterklärung grundlegend unterscheidet, weil in diesen das Endzeitliche keine entscheidende Rolle spielt.

Ueli Mäder weist darauf hin, dass Künzli bis zu seinem Lebensende ein radikal denkender, demokratischer Sozialist geblieben ist, während viele der einstigen "Rebellen" sich in der Zwischenzeit recht gut mit dem Kapitalismus arrangiert haben. Für jene, die sich nicht damit abfinden wollen, bleibt Künzlis Werk ein wichtiger Denkanstoss. Es sollte vor dem Vergessen bewahrt werden.

Arnold Künzli: Tradition und Revolution. Plädoyer für einen nachmarxistischen Sozialismus. Mit einem Nachwort von Ueli Mäder. Basel: Schwabe-Verlag, 2011, 202 Seiten

Ueli Mäder, Simon Mugier (Hrsg.): Arnold Künzli. Erinnerungen. Basel: edition gesowip, 2011, 147 Seiten

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Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert

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