Wider den Nihilismus

Rezension "Flugschriften" sind wieder en vogue, wie einst im Mai '68 und darum herum. Verschiedene Autorinnen und Autoren greifen die Parole "Empört euch!" von Stéphane Hessel auf

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In bewegten Zeiten wie den unsrigen kommt es darauf an, die Zeichen eben dieser Zeit rasch, sozusagen "im Flug", zu erfassen – und dazu eignen sich kleinformatige Schriften offenbar besonders gut. Ihre Verbreitung in konventioneller Form ist erstaunlich. Entgegen allen Behauptungen vom Ende des Buches scheint sich eine Nische aufzutun, denn die konzentrierte Lektüre von prägnanten Druckwerken ist doch noch etwas anderes als das eilige Herumsurfen im Internet.

Hier kann nicht mehr als eine aktuelle Auswahl vorgestellt werden. Fangen wir mit Jutta Ditfurth an. Die bekannte Autorin und Aktivistin wendet sich an ein jüngeres Publikum, um dieses aufzuklären, «worum es geht»: Das System steckt in der Krise, doch die Hoffnung vieler Linken, das Ende des Kapitalismus sei nahe, wird enttäuscht. Beobachten lässt sich vielmehr eine Brutalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Zugleich schreitet die Zerstörung der Natur voran. "Was tun?", will Jutta Ditfurth wissen, doch ihre Antwort bleibt wesentlich abstrakter als jene, die der Revolutionär Lenin einst auf die gleiche Frage gab. Die Autorin warnt vor "falschen Bündnissen" und polemisiert vor allem gegen die Occupy-Bewegung, der es an der "embryonalsten Form von Klassenanalyse" mangle. Notwendig sei hingegen die Verbindung zwischen Theorie und Praxis. So endet Ditfurths Flugschrift ziemlich unverbindlich.

Auch Wolf Wetzel, der in "autonomen" Zusammenhängen politisch und publizistisch aktiv ist, geht auf die Occupy-Bewegung ein – doch nicht so abwertend wie Ditfurth. Er sieht das Problem vieler aktueller Protestbewegungen: dass jene, für die sie sprechen wollen, zumeist gar nicht da sind, "obwohl ihre ökonomische, prekäre Lebenslage sie buchstäblich auf die Straße treiben müsste". Sehnsüchtig blickt Wetzel nach Griechenland, dem er "eine revolutionäre Situation" diagnostiziert, denn nirgendwo reiche der Widerstand so nahe an die "Systemfrage" heran wie dort.

Was nicht nur in Griechenland geschieht, kann dank der Lektüre von Paul Matticks neuestem Buch Business as Usual besser verstanden werden. Mattick lehrt in New York Philosophie und hat sich, in der Tradition der marxistischen Kritik, intensiv mit Fragen der politischen Ökonomie befasst. Er hält daran fest, dass es im Kapitalismus primär um den Profit und nicht um die Befriedung von Bedürfnissen geht. Staatliche Interventionen waren und sind notwendig, um das System zu sichern – doch die damit verbundenen Staatsschulden drücken die Profitabilität. Deshalb steht jetzt das Sparen um jeden Preis im Vordergrund, und Griechenland scheint eines der Versuchslaboratorien für diese Politik zu sein. Mattick glaubt allerdings nicht, dass die Linke bei der Suche nach einer neuen Gesellschaft jenseits der Kapitalherrschaft noch eine positive Rolle spielen könnte. Vielmehr müssten "neue Formen organisierter Praxis" erfunden werden.

Um die Organisationsfrage geht es auch Michael Jäger und Thomas Seibert. Jäger ist Politologe, Publizist und Redakteur der Wochenzeitung der Freitag. Seibert ist Philosoph und unter anderem Mitglied des wissenschaftlichen Beirates der Rosa Luxemburg Stiftung. Beide bezeichnen sich als radikale Aktivisten und untersuchen von diesem Standpunkt aus die tiefe Krise des Kapitalismus, die über eine Wirtschafts- und Finanzkrise hinausgeht. Diese Krise nehmen sie als eine "nihilistische Situation" wahr, weil es an der Fähigkeit mangelt, Hoffnung und Ziele zu haben, die das Vorhandene überschreiten. Dieser Mangel stellt sich den Autoren als "eine Folge des kapitalistischen Strebens ins Unendliche, das ein Streben ins Ziellose ist", dar. Doch es gibt keinen "Zwang, den Kapitalzwang aufrechtzuerhalten", denn mit der "Demokratisierung der Reichtumsproduktion und -konsumtion" würde auch dessen Logik verschwinden.

"Demokratie ohne Kapital" ist für Jäger und Seibert eine Zielvorstellung, um die sich die gesellschaftlichen Bewegungskräfte heute gruppieren können. Dabei stoßen sie auf die anderen, die Reaktiven und Passiven, die in den "nihilistischen Sog" geraten sind und auf dessen Kritik aggressiv reagieren, weil sie glauben, ihr Schicksal an ihn hängen zu müssen. Wie kann man sich aus dem Sog heraushalten, ohne die anderen als "Spießer" zu beschimpfen, wie dies die Achtundsechziger taten? Auch wenn radikale Politik im Sinne des französischen Philosophen Alain Badiou mit der Wahrheit im Bunde zu sein glaubt, darf sie sich nicht – wie einst die linksradikalen Parteien oder die "Rote Armee Fraktion" – über den "Demos" erheben. Mit wem, wenn nicht mit diesen Anderen, soll die neue Gesellschaft errichtet werden? Dabei geht es um einen "Prozess des Sich-einander-aussetzens", in dem wir gemeinsam der "nihilistischen Situation" entgegentreten können.

Jutta Ditfurth: Worum es geht. Flugschrift. Berlin: Rotbuch Verlag, 2012, 48 S.

Michael Jäger, Thomas Seibert: alle zusammen. jede für sich. die demokratie der plätze. eine flugschrift. Hamburg: VSA Verlag, 2012, 72 S.

Paul Mattick: Business as Usual. Krise und Scheitern des Kapitalismus. Aus dem Englischen übersetzt von Felix Kurz. Hamburg: Edition Nautilus, 2012, 160 S.

Wolf Wetzel: Krise des Kapitalismus un krisenhafte Proteste. Münster: edition assemblage, 2012, 96 S.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert

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