Wie kommen wir aus der Krise?

Rezension Wir erleben eine Renaissance gesellschaftskritischen Denkens. Das hat damit zu tun, dass die Aussichten des herrschenden Systems nicht mehr so rosig sind wie auch schon

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In Zeiten des Neoliberalismus sei keine Revolution möglich, denn die systemerhaltende Macht nehme «eine smarte, freundliche Form» an und mache sich dadurch «unsichtbar und unangreifbar», erklärte der in Südkorea geborene und heute in Deutschland lebende Philosoph Byung-Chul Han kürzlich in der Süddeutschen Zeitung. Han gilt als neuer Star der deutschen Philosophie. Das weckte die Neugierde des Rezensenten – zumal auch andere auf ihn aufmerksam machten.

Weshalb hält Han einen grundlegenden Wandel unserer Gesellschaft für ausgeschlossen? Ganz einfach deshalb, weil das neoliberale Regime die Fremdausbeutung in die Selbstausbeutung verwandle. Damit werde die soziale Revolution unmöglich, «die auf der Unterscheidung zwischen Ausbeutenden und Ausgebeuteten beruht». Der Philosoph geht in seinem neuen Buch Psychopolitik noch weiter: Der Kampf zwischen Arbeit und Kapital, gemeinhin als Klassenkampf bezeichnet, verwandle sich «in einen inneren Kampf mit sich selbst», Herr und Knecht seien in einer Person vereint.

Verändertes Bewusstsein

Der Autor beschreibt einen Gestaltwandel der Arbeit, die nicht mehr jener in der Blütezeit industrieller Massenproduktion gleicht. Diese ist weitgehend in Schwellenländer ausgelagert worden. Dort treffen wir heute jene Szenen an, die das Fabrikleben des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts in Europa geprägt hatten. Hierzulande geht es hingegen um spezialisierte Güter und Dienstleistungen, die zumeist qualifiziertes Personal benötigen. Dieser Prozess der Individualisierung der Produktion führt auch zu einem veränderten Bewusstsein der Produzierenden.

Heisst das, dieses Bewusstsein könne keine gesellschaftlichen Widersprüche mehr erkennen und werde damit auch handlungsunfähig, wie Byung-Chul Han unterstellt? Das neoliberale Regime ist nicht so gefestigt, wie es erscheinen mag. An den Rändern bröckelt es bereits und die Symptome der gesellschaftlichen Krise werden offenkundig. So ist es wohl kein Zufall, dass die Neue Zürcher Zeitung die Frontseite ihrer Ausgabe vom 22./23. November 2014 der Situation in Spanien widmete: Dort hat die radikaldemokratische Bewegung «Podemos» («Wir können es») grosse Chancen, demnächst zur stärksten politischen Kraft aufzusteigen. Ähnliches ist in Griechenland zu beobachten. In den kapitalistischen Kernländern sieht die Lage allerdings anders aus: Dort hält der gesellschaftliche Konsens vorerst – und notfalls wird er durch Fremdenfeindlichkeit und Abwehr gegen «die Anderen» noch einmal gekittet.

Konformität statt Freiheit

Die Kritik an der grundlegenden These des Autors bedeutet nicht, dass seine Beobachtungen zur Entwicklung einer neoliberalen Psychopolitik wertlos wären. Ganz im Gegenteil: Byung-Chul Han arbeitet heraus, wie die hoch gepriesene «Freiheit» unter den Bedingungen des Neoliberalismus zu neuem Konformitätsdruck führt – so, «als würde jeder jeden überwachen». Die neuen Techniken der Macht verneinten die Freiheit nicht, sondern beuteten sie aus. Anstelle einer freien Wahl trete die freie Auswahl zwischen Angeboten.

Solche Kritik ist nicht ganz neu, doch Han gelingt es, die neoliberalen Steuerungsmechanismen genauer zu beschreiben. Auf diese Weise gelangt er in Ansätzen zu einer Analyse des «Kapitalismus der Emotion». Was setzt der Autor dem entgegen? «Freiräume des Schweigens, der Stille und der Einsamkeit». Hier begegnet uns ein östliches Denken, das wir nicht vorschnell verwerfen sollten. Ja, auch das braucht es – doch nicht nur das.

Das historisch Mögliche

Von ganz anderer Art sind die Essays, die der US-amerikanische Schriftsteller Benjamin Kunkel präsentiert. Ihm geht es nicht nur um Analyse, sondern um einen «Wegweiser» – also so etwas wie einen Orientierungspunkt für unser Handeln. Vielleicht ist Ihnen der Name des Autors nicht geläufig (dem Schreibenden ging es jedenfalls so). Eine ausführliche Einleitung hilft, das Wissensdefizit zu decken. Kunkel wurde 1972 geboren und verbrachte seine Jugend «während des Ende der Geschichte», das nun selber an sein Ende gekommen sei. Der Autor lebte einige Jahre in Buenos Aires und bekam dort das Scheitern neoliberaler Konzepte mit. Diese Erfahrung habe seinen «Sinn für das historisch Mögliche geschärft», schreibt Kunkel. Er glaubt, derzeit sei ein «Generationenwechsel» im Gang: Angesichts einer unsicheren Zukunft habe «der Kapitalismus bei vielen, die heute unter dreissig sind, jeden Anspruch auf Loyalität verwirkt». Das wäre zu hoffen!

Die im Suhrkamp-Band versammelten Essays befassen sich mit der Arbeit von Denkern unserer Zeit, welche die Triebkräfte des gegenwärtigen Kapitalismus untersuchen und dessen Widersprüche auf den Begriff zu bringen versuchen. (Bedauerlicherweise sind keine Frauen darunter.) Kunkels besonderes Interesse gilt den Ökonomen, von denen vor allem einer, Thomas Piketty, heute in fast aller Munde ist. Aus Platz- und Zeitgründen ist es leider nicht möglich, auf die Beiträge im einzelnen einzugehen. So viel sei zumindest gesagt: Die Lektüre hilft, fundamentale Entwicklungen, die sich vor unseren Augen abspielen und die wir oft gar nicht begreifen, etwas besser zu verstehen.

Byung-Chul Han: Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken. Frankfurt/Main: S. Fischer Verlag 2014, 124 S., € 19.99

Benjamin Kunkel: Utopie oder Untergang. Ein Wegweiser für die gegenwärtige Krise. Aus dem Englischen von Richard Barth. Berlin: Suhrkamp Verlag 2014, 246 S., € 18.00

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert

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