Alles fängt ganz harmlos an: Schausteller, «Zigeuner», haben ihr Karussell auf einer Kirmes errichtet. Hitler ist bereits an der Macht, doch die Macht scheint weit weg zu sein. Die Schausteller werden mit der Staatsmacht konfrontiert, sie müssen ihre Papiere zeigen; aber was in der Reichshauptstadt geschieht, das geht sie nichts an. Weinblütenfest – da lässt sich gutes Geld verdienen. Und doch droht Gefahr: «Am Abend zog die Hitlerjugend mit Trommeln und Fackeln durch die Stadt, sie sangen, schwenkten Fahnen und waren auf Krawall aus. Aber sie trauten sich noch nicht richtig.» Die «glühende Rede» eines NSDAP-Mitglieds stößt auf «offene Münder, offene Herzen».
Alfons Dorn, Kopf der Schausteller-Familie, möchte sein Geschäft erweitern und liest von einer Verkaufsmesse in Berlin. Zusammen mit einem Schwager reist er dort hin. Sie wollen einen Autoscooter erwerben, doch der Händler verkauft ihn nicht: «nicht an Zigeuner». Die beiden sind fassungslos. Was nun? Am Bahnhof Zoo treffen sie «Leute von ihnen». Die machen Musik und die beiden spielen mit, verdienen auch hier wieder gutes Geld. Dabei geraten sie in eine Polizeirazzia: Folge des «Runderlasses betreffend die Bekämpfung der Zigeunerplage» vom Juni 1936. Sie werden in ein Lager am Rand der Stadt gebracht, können dann irgendwann flüchten. Die Repressalien gegen «Zigeuner» nehmen weiter zu. Die Hebamme weigert sich, das jüngste Kind von Lucie, Alfons‘ Frau, zur Welt zu bringen. Die Kleine stirbt. Die älteste Tochter, Kathi, wird ins Krankenhaus beordert und dort zwangssterilisiert.
Die bösen Geister der Geschichte
Zwei Absätze sind jetzt niedergeschrieben – und sie umfassen erst ein Zehntel des neuesten Buches der deutschen Schriftstellerin Ursula Krechel. In einer Besprechung der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» ist zu lesen: «Die Lektüre erfordert Kraft.» Ja, weil die Autorin ein multiperspektives Zeitbild mit verschiedenen Erzählsträngen entwickelt, das sich bis in unsere Gegenwart erstreckt. «Geisterbahn», der Titel des Buches, verweist auf die Welt der Jahrmärkte und Schausteller, doch er weist weit darüber hinaus. Die bösen Geister der deutschen Geschichte sind noch längst nicht gebannt, wie die braunen Aufmärsche in Chemnitz und anderswo zeigen. Die Wiederkehr des Verdrängten ist, wie wir wissen, keine deutsche Spezialität. Angesichts der grauenhaften Vergangenheit dieser Nation erhält sie aber ein besonders erschreckendes Gesicht.
Wieso gab es so wenig Widerstand, haben die Nachgeborenen gefragt. Weil so viele wegschauten oder glaubten, ihre Pflicht zu tun, wenn sie mitmachen. Zum Beispiel Franz Neumeister, den Krechel im zweiten Kapitel einführt. Einer, der von unten kommt und hinauf will. Ein dritter Strang dreht sich um Willi und Aurelia Torgau, Geschwister aus einer kommunistischen Familie. Trotz einer umfassenden gesellschaftlichen Krise gelingt es der Linken vor 1933 nicht, vereint gegen die Nazis vorzugehen. Am 1. Februar 1933 wird Willi festgenommen und kommt ins KZ. Die linken Parteien werden verboten, das bürgerliche Zentrum löst sich auf. Die katholische Bischofskonferenz mahnt die Gläubigen, die Obrigkeit anzuerkennen. Willi kehrt zurück, er schweigt, doch sein Gesicht sagt alles. «Aber er machte weiter, ließ sich nicht einschüchtern.» Aurelia unterstützt ihn und wird von ihrem Mann verraten.
Das Grauen findet keine Sprache
Es ist keine Geschichte von Heldinnen und Helden, die Ursula Krechel erzählt. Auch nach dem Krieg und dem Ende der Nazi-Herrschaft werden die wenigen, die Widerstand geleistet haben, nicht gefeiert. Die Anpasser kommen zum Zug, wie zum Beispiel Konrad Adenauer, der auch durch das Buch geistert und keine Sympathie der Autorin genießt. Die Wiedergutmachung an den Opfern des Nationalsozialismus fällt schäbig aus. Alfons Dorn, der zusammen mit Frau und Kindern im ZK war, von denen einige dort umkommen, wird mit ein paar Flaschen Wein abgespeist. Franz Neumeister macht seinen Weg auch in der neuen Republik.
Die verschiedenen Erzählstränge kommen in den Fünfzigerjahren zusammen: Im Klassenzimmer treffen sich die nach dem Krieg geborenen Kinder der ProtagonistInnen. Unter ihnen ist auch Bernhard Blank, Sohn eines Polizisten, der sich als Erzähler der Geschichte herausstellt. Das Grauen, das ihre Eltern als Täter oder als Opfer erlebt haben, findet keine Sprache. In dieser Sprachlosigkeit wachsen die Kinder auf. Selbst jene, die wie Bernhard an der Achtundsechziger-Bewegung teilgenommen haben, können das nicht benennen, was auf ihnen lastet. Auf welche Tradition sollen sie sich beziehen?
Gelingendes Leben
Eine Gruppe von Studierenden, die sich gegen den Krieg der Vereinigten Staaten in Vietnam wenden, kommt in Kontakt mit dem alt gewordenen Kommunisten Willi Torgau. Sie sprechen, diskutieren miteinander, doch da scheint kein Funke überzuspringen. Ein leer gewordener Glaube: Willi «blieb Kommunist bis zum Ende, die Partei hatte sich aufgelöst, kein Geld, keine Direktiven mehr aus Ost-Berlin, er blieb, bis es kein kommunistisches Land mehr gab und länger». Und Bernhard? «Man musste, wenn man die Gesellschaft ändern wollte, bei sich selbst anfangen. Ich hatte nur halbherzig angefangen. Ich wollte Lehrer werden.»
Nachdem ihn eine Krankheit seinem gewohnten Alltag entfremdet hat, erinnert sich Bernhard Blank an die Geschichten seiner KlassenkameradInnen und denkt «über das Gelingen nach, das Gelingen von Leben, das Gelingen von Büchern, den Gewinn von Erinnerung und die gnädigen Verluste». Leben kann nur gelingen, wenn es die eigene Geschichte nicht ausblendet, schönredet oder weichzeichnet. Auch als Nachgeborene, vom Schicksal Verschonte, sind wir Teil dieser Geschichte. Das Buch von Ursula Krechel ist ein Gewinn von Erinnerung an eine Vergangenheit, die nicht aufgehört hat, nicht aufhören wird.
Ursula Krechel: Geisterbahn. Roman. Jung und Jung 2018, 643 Seiten
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